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Alt 04.04.2018, 13:50   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Die Patronin

In den 50ern herrschte Disziplin. Das hieß: Ein Minimum an Taschengeld.

Zwei Mark fünfzig pro Woche waren ein Königreich. Ein Schulheft kostete zehn Pfennige, ein Lutscher fünf Pfennige, eine Kugel Eiscreme ebenfalls fünf Pfennige, ein Starfoto zehn Pfennige und eine Kinokarte eine Mark und zehn Pfennige.

Damit kam man nicht weit, zumal man aus disziplinarischen Gründen zum Sparen angehalten war. Einmal Kino pro Monat war genug, so wurde bestimmt. Blieben noch eins vierzig, um bei den Treffen Gleichaltriger mithalten zu können, und wenn der Monat zu Ende war, wurde Bilanz gemacht: Was hast du von deinem Taschengeld gespart?

Natürlich nichts. Was ich als Gespartes deklarierte, war Kredit. Ich hatte Mitschüler angepumpt und längst kapiert, dass ich mit dem Geld anderer Menschen bestens Leben konnte.

Und ich hatte kapiert, dass man Menschen nicht einfach anpumpen kann, sondern sie überzeugen muss, dass sie einen Vorteil daraus ziehen, sich anpumpen zu lassen. Am Ende standen sie mit leeren Taschen da, aber das war nicht mein, sondern ihr Problem.

Ich war skrupellos, was mir aber keine Sekunde lang weh tat. Wir alle waren durch die gleiche Schule gegangen und hatten das Gleiche gelernt. Friss oder stirb. Wer oben schwimmt, bleibt oben, wer unten schwimmt, säuft ab. So ist das Leben.

Bis ich, etwas reifer an Jahren, aber nicht an Verstand, auf das traf, was man Liebe nennt, ich aber nicht so bezeichnen konnte, weil es anders und einmalig war.

Zuerst mochten wir uns nicht, diese Frau und ich. Sie war zu analytisch. Nicht aus dem Verstand heraus, auch hatte sie weder Soziologie noch Psychologie studiert, sondern sie urteilte aus dem Bauch heraus. Und traf immer ins Schwarze. Vor allem bei mir, was mich von Verletzlichkeit bis zur offenen Feinseligkeit alle Register ziehen ließ, gegen sie zu kämpfen, sie zu widerlegen und übelst zu beschimpfen. Den Spiegel, den sie mir vorhielt, hasste ich abgrundtief.

Sie blieb gelassen und entlarvte mich nach Strich und Faden, und wie es allen Menschen erging, die verloren waren und sich wiederfinden wollten, wurde ich süchtig nach ihr. Ich wollte alles über mich wissen, und sie war der Schlüssel dazu.

Weshalb sie sich mit mir einließ, weiß ich nicht und habe ich nicht zu ergründen versucht. Ich war in sie verliebt, sie nahm meine Liebe an, und das allein war, was für mich zählte.

Alles fiel von mir ab, meine Pubertät, meine Pickel, meine Selbstzweifel, meine Unzulänglichkeiten, meine Ungewissheit, meine Hässlichkeit, mein nicht Fisch-noch-Fleisch-Sein, meine Grenzen … Über Nacht war aus mir, dem hässlichen Frosch, ein Prinz geworden.

Ich war frei. Ich war schön. Ich war mächtig.

Als ich die Frau traf, um deren Hand ich ohne jeden Zweifel an meinem Selbstwertgefühl anhielt, nämlich in der Gewissheit, sie vorbehaltlos lieben zu können, was immer geschehen mochte, sah ich mich mit der Frau vereint, die mir einst als Patronin den göttlichen Weg der Liebe wies.

Sie ist immer bei mir, diese heimliche Geliebte.

Wenn meine Frau, die mir vorbehaltlos vertraut, mich trotzdem ahnungslos mit den Worten neckt: „Wann stellst du mir die andere vor?“, antworte ich: „Wieso? Du kennst sie länger als ich.“

04.04.2018
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