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Alt 24.05.2010, 16:04   #1
Aporie
 
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Standard Die Verlangsamung des Augenblicks

Je langsamer etwas an mir vorbeizieht, desto spürbarer wird seine Kraft. Der Vorhall von Ewigkeit eines Bildes fällt nachhaltiger aus, wenn es sich nicht oder nur langsam bewegt. Eigentümlich, nicht wahr, dass in der eben gerade nicht eigentümlichen Reproduktion die Fotografie und der Film der bewegten Wirklichkeit überlegen sind.
Mit 24 sich nur scheinbar bewegenden Bildern pro Sekunde schafft der Film den Tempoausgleich zwischen realer und auf dem Bildschirm sichtbarer Bewegung. Je schneller sich das Negativ in der Kamera dreht, desto langsamer bewegt sich auf dem Bildschirm das Objekt. Das Langsame ist das Eindrückliche, das Schnelle das Vergehen. 24 bis 25 Bilder pro Sekunde simulieren Wirklichkeit, der Traum verlangt nach mehr. 25 Bilder entsprechen dem, was ich auch ohne Projektion sehe, sobald ich am Morgen die Augen aufschlage und dann noch etwa fünfundzwanzig weitere Versuche mache, sie offen zu halten. Die Katze flitzt um die Ecke, fünfundzwanzig Bilder wären zu wenig, um sie zu erkennen, jedenfalls von beliebigen anderen Katzen unterscheiden zu können, der Wecker fällt vom Nachttisch, und ich merke es erst, als ich ihn am Boden aufschlagen höre, im Supermarkt laufen beeindruckende Schönheiten aus den slawischen und noch weiter entfernten Ländern viel zu schnell an mir vorbei, und falls sie mich nicht ohnehin übersehen, hat der Blick eine Dauer von zwei Bildern, was zeitlich nicht ausreicht, um vom menschlichen Erkennungs-Zeitfenster wahrgenommen zu werden.
Großes Kino beginnt ab 75 Bilder pro Sekunde. Je langsamer die Zeit verstreicht, in der das Frühstücksmesser die neue Heidelbeerkonfitüre auf das Butterbrot streicht, desto eher bin ich überzeugt, dass die neue Heidelbeerkonfitüre aus wirklichen, frischen Heidelbeeren gemacht ist, zumal ich in diesem Augenblick sehe, wie die weißschlierig blauen Beeren mit zeitlicher Verzögerung direkt ins Konfitürenglas kugeln. Weil in der Postmoderne alles rückwärts läuft, erst nach dem Brotaufstrich.
Um mich spüren zu lassen, mit welcher Herzlichkeit die hübsche junge Mutter sich über das nach Heidelbeerkonfitüre gierende Kind beugt, nimmt man sie überdreht auf. Je langsamer etwas geschieht, desto sicherer wird es wahrgenommen.
Rasch erkennt man einen Schweizer als Schweizer. Nur unsere Regierung bleibt ein Phänomen, obwohl sie so langsam reagiert, übersieht man es glatt. Die sich wirklicher Wahrnehmung entziehende Beschleunigung unserer Gesellschaft macht jedoch auch vor Schweizern nicht Halt. Noch sind sie die Herren der Uhren und ständig bemüht, auf der Höhe der Zeit zu sein.
Zurück zum Thema: Die Beschleunigung jeder Art von Kommunikation lässt uns vergessen, dass man die Dinge nur richtig sieht, wenn man sie lang genug anschauen kann. Die Möglichkeit einer Filmkamera, hundert und mehr Bilder pro Sekunde zu liefern und sie auf dem Rekorder noch zusätzlich stottern oder sich wiederholen oder sie einfach anhalten zu lassen, hat uns die Augen für das wirkliche Leben erst geöffnet. Es verläuft immer noch rascher als uns lieb ist, aber es lässt sich mit einer Kamera besser festhalten als in unserem Gedächtnis.
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