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Alt 22.08.2012, 09:53   #1
männlich Amerdi
 
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Beiträge: 206


Standard Ich war gelangweilt.

Ich hatte alles gelesen und war gelangweilt. Camus und Tolstoi waren vor 40 Jahren meine letzten Lieblinge gewesen. Beethoven bugsierte mich in keine Höhen mehr und Picasso kam mir einfach nur noch bescheuert vor.
Der Mensch (der Künstler) schafft es immer wieder, dass Floskeln Flügel wachsen. Doch ich war mittlerweile 140 Jahre alt... Was bleibt einem tattergreisisch hochbejahrten als auf Gevatter Tod zu warten?
Es ist im Grunde dann nichts als eine Flucht vor den Floskeln, die einen von überall her anbumsen. Und ich war längst nichtmehr fruchtbar.
Ich erinnere mich an einen Tag, an dem ich es noch war...
Mit fünf Freunden saß ich zu Tisch bei Madame Toitobucker. Mit ihren geschätzten 1.000 Porzellanpenissen in ihrem majestätischen Möbelwerk machte sie den Eindruck einer elitären alten Dirne.
Ihr Mann war lange verschieden. An einer Erbse erstickt. Ich vermute aber, dass die gravitätische Griesgrämigkeit seiner Frau ihn zugrunde gerichtet hatte. Immerzu betonte sie den Ernst einer Lage und setzte sich eine goldene Krone auf.
Die galaktischen Wände ihrer Wohnung hingen voll mit Fotos seiner verstorbenen Hohheit Elfenbein. Und tatsächlich, ihr Mann war ein aus Elfenbein geschnitzter Penis gewesen.
Madame Toitobucker servierte gerade die Schokoladensauce auf einem silberteuren Tablett und ich dozierte über Menschen und Dummheit und Liebe. Unsere exaltierte Schnöselei gefiel uns.
,,Man sollte alle Menschen lieben, selbst die Dümmsten unter ihnen.´´
Dafür sollte ich Applaus verdienen, dachte ich und wartete mit hoher Nase und blasiertem Lächeln.
Nach einer Runde Applaus erhob sich die Stimme meines schlimmsten Freundes Trimmelborn Praud zu einer schlagfertigen Erwiderung ,,Wir lieben dich doch!´´. Und er grinste verächtlich aus der lachenden Meute.
Ich überging es, er war ein Idiot. Was sollte man machen?
Ausserdem war ich großmütig.
,,Vorallem sollte man niemanden töten.´´ Waren meine nächsten noblen Worte, worauf ich wieder eine Runde Applaus bekam.
Voller Stolz stierte ich auf den, zwischen den Elfenbeinpenissen plazierten, Picasso an der Wand.
,,Wie ich sehe, mögen sie meinen Picasso.´´ sagte Madame Toitobucker.
,,Ja, so kraftvoll.´´ schmierte ich ihr in die Haare und fuhr fort:,,Wissen sie, Picasso war ein sehr individueller Mann. Sehr individuell.´´.
Es lief fantastisch.
Die Dirne Toitobucker legte sogar eine Beethovenplatte auf und ich wiegte mit zusammengezogenen Augenbrauen und geschlossenen Augen meinen Kopf zur Musik.
Nachdem der Song zuende war, aß ich einen Keks mit Schokoladensauce.
Bemerkte wie die Dirne mich in eklatanter Exzitation ansah. Ihr graues Haar war hochgesteckt und umrahmt von dieser goldenen Krone.
Ich fand das ohnehin übertrieben, doch verstand ich auch nichts von Feudalfashion.
Jedenfalls, die Implikation ihres Blickes gefiel mir einerseits, andererseits war es auch sehr eklig.
Ich beließ es dabei.
Nun, der Abend näherte sich seinem Ende. Wir hatten uns angewöhnt, uns zur Begrüßung an den Haaren zu schnüffeln, wie Schweine nach Trüffeln, oder wie Hunde an Hintern. Das lag an unseren hohen Nasen.
Zum Abschied wünschten wir uns gegenseitig mit breitem, breitem Lächeln eine wundervolle Nacht. Ich ihnen, sie mir retour. Es war ein Floskelspektakel.
Wir waren so in unserem Element, dass wir uns auch noch zu unseren Geburtstagen gratulierten, obwohl wir meist garkeine hatten. Das war uns im Nachhinein immer ein wenig peinlich.
Diesen Abend wünschte ich nicht nur eine wundervolle Nacht, einen frohen Geburtstag, sondern auch ein brisantes Fashing.
Damit war der Abend zuende.
Im Nachhinein kam es mir alles ungeheuer absurd vor und ich sah einfach nichts Interessantes darin. Und ich wunderte mich, ob ich Camus und Tolstoi jemals als Lieblinge hatte...
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