Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 01.11.2009, 17:49   #1
männlich Neny
 
Dabei seit: 10/2009
Ort: Lancre
Alter: 37
Beiträge: 96


Standard Bibliophilie

Er schob seine Brille wieder an die richtige Stelle.
Ein Buch lag aufgeschlagen vor ihm. Die Leselampe stand neben ihm auf dem Schreibtisch. Raschelnd blätterte er um. Sonst war nur sein Atem zu hören, mal schneller mal langsamer, in der Pergamentstille, die die Bücherregale hinter ihm verströmten. Der Raum lag sonst im Dunkeln.

Er schlug das Buch zu, er war wieder über das Ende gelangt und stand auf. Ruhig schritt er zu einer Seite des Raumes und stellte das Buch an seinen Platz. Ein leises Seufzen oder vielleicht auch nur der Einband der über das Holz streifte war zu hören.
Mit gesenktem Kopf ging er weiter, um ein frei stehendes Regal, an der Wand entlang. Dann blieb er stehen, blickte sich um. Seine Hand bewegte sich dabei zum Mund und ein leises Knirschen erklang. Ein Schritt vor, einen zurück, so ging es über Minuten hin und her.

Keuchend kam er am Schreibtisch wieder an und stellte einen kleinen Bücherstapel ab. Er nahm das obere zur Hand, blickte darauf, legte es zur Seite, nahm das nächste. Zum Schluss lagen sie vor ihm ausgebreitet wie Besteck. Er raffte sich auf, nahm das Buch mit dem roten Einband, welches weiter links lag und begann zu lesen. Er wirkte ganz ruhig, sein Atem ging gleichmäßig, die Hand blätterte fast zärtlich die Seiten um, aber seine Augen. Wie Smaragde huschten sie über die Seiten. Ein Sog schien von ihnen auszugehen, als wollte er die Lettern von der Seite lesen.
Doch neben dem hypnotisierender Schimmer der seine Augen ausfüllte, war noch etwas. Zuerst war es kaum zu erkennen, aber sobald die Aufmerksamkeit von den Augen wich wurde es deutlich. Es schien als würden seine Gesichtszüge mehr Substanz erlangen, mehr Kontur, mehr Leben. Dabei blieb es jedoch nicht. Je weiter er las desto mehr hatte man den Eindruck in das Gesicht eines anderen zu blicken. Alt, jung, Frau, Mann. Ein schier endloser Strom sich ineinander wandelnder Gesichter. Doch drängten sich diese nicht über das Ursprüngliche, sondern stellten eine unterschwellige Andeutung dar.

Wieder kam er über das Ende, unausweichlich. Er klappte das Buch zu und blinzelte.
Einmal. Die Konturen verloren sich. Zweimal. Die Substanz fiel aus seinen Zügen. Dreimal. Seine Augen erloschen.
Eine ausdruckslose Maske zog sich über sein Gesicht, ist sein Gesicht, war sein Gesicht. Tote Augen. Leere Blicke glitten über das Buch zwischen seinen Händen. Er schob es beiseite aus dem Licht der Lampe, griff zum nächsten Buch.
Der Reigen setzte sich fort, bis auch das letzte Buch auf dem Stapel im Dunkeln lag. Langsam erhob er sich, nahm die Bücher in die Arme und brachte sie an ihre Plätze zurück. Mit leeren Händen kam er zurück an den Schreibtisch. Erschöpft lies er sich in den Stuhl sinken und schaltete die Lampe aus. Langsam glitt er in einen Dämmerschlaf über, unter seinen Lidern zuckten seine Augen in Träumen, toten Träumen.

Wie ein Schlafwandler erhob er sich, aber seine Augen waren offen. Jemand läutete an der Tür. Der Lärm der Klingel schallte durch das ganze Haus. Er öffnete die Tür, unterschrieb die Lieferbestätigung, schloss die Tür.
Mit dem Paket in den Armen ging er zurück an seinen Schreibtisch. Nun wachte er auf. Er öffnete eine Schublade rechts von ihm. Stifte, Lineale und andere Schreibwaren lagen darin fein säuberlich aufgereiht, jedes Teil an seinem Platz. Er holte sich eine Schere heraus und schloss die Schublade.
Da war es wieder, das Funkeln in seinen Augen, nicht so stark wie beim lesen, doch vorhanden, Leuchtturmlicht vom Horizont eines Geistes.
Vorsichtig durchschnitt er die Paketschnur, rollte sie auf und legte sie sorgfältig in eine der linken Schubladen. Dann öffnete er das Paket und atmete den aufsteigenden Geruch von neuen Büchern. Er zog jedes einzeln heraus, sah es sich an und legte es auf einen Stapel neben dem Karton. Nach dem der Karton geleert war, nahm er ihn und stellte ihn in einer Ecke des Raumes auf einen Stapel gleichförmiger Pakete. Zurück am Schreibtisch stellte er seine Lampe an und begann zu lesen.

Wieder kam es zu der seltsamen Verwandlung, bis er zum letzten Buch des Stapels kam. Es war dünner als die meisten seiner anderen, in schwarzes Leder gebunden und nichts stand auf dem Einband.
Er öffnete es und blickte mit seinen leeren Augen auf leere Seiten, als würden sie seinen Blick erwiedern. Wie in Trance öffnete er an der rechten Seite eine Schublade und nahm einen Stift zur Hand. Es war ein Füller, doch nicht mit Tinte befüllt.
Er setzte den Stift auf und begann zu schreiben. Erst sah man nur leichte Abdrücke im Papier, doch dann füllten sich diese mit grüner Tinte, Tinte, die wie Smaragde glitzerte. Er schrieb und schrieb bis zur letzen Seite, legte den Füller zur Seite und schlug das Buch am Anfang wieder auf.

Er begann zu lesen, doch diesmal war es anders. Zwar leuchteten seine Augen, doch seine ganze Gestalt schien an Wirklichkeit zu verlieren, seine Konturen verblassten und der Schein der Lampe fiel gedämpft auf seinen Stuhl.
Ein Seufzer der Erleichterung und des Glücks oder nur das geräusch des zuklappenden Einbands war zu hören.
Langsam erloschen die grünen Leuchtfeuer in der Luft und nur Pergamentstille blieb.
Neny ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Bibliophilie




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.