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Alt 12.03.2014, 22:08   #1
openminded
 
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Standard Die kalte Jagd nach der Wahrheit

Die kalte Jagd nach der Wahrheit

- Wenn von einen auf den anderen Tag alles anders ist. Wenn nichts wie vorher zu sein scheint und wenn Liebe und Hass sich vermischen. Dann beginnt die kalte Jagt nach der Wahrheit. -

[Kurz zur Erklärung: Ich habe dies vor etwa 2 Jahren, also mit 14 geschrieben. Der jugendliche Schreibstil, und die "Phase" in der ich da gerade war, ist meiner Meinung nach deutlich herauszulesen, und ich selbst würde im Nachhinein viele Dinge ändern, habe mich aber bewusst dagegen entschieden. Die Geschichte selbst hat und hatte nichts mit meiner eigenen Lebensweise zu tun, im Gegenteil, ich bin ein sehr positiver Mensch. Ich hatte einfach das Bedürfnis, mich in so eine Situation hineinzufühlen oder es zumindest zu versuchen. Es war auch das erste Mal, dass ich mich am Schreiben in dieser Art versuchte, und blieb bisher das einzige Mal. Wer auf typische jugendliche Liebesgeschichten mit viel Dramatik nicht steht, der kann das alles einfach übersehen.]

Prolog
Langsam, aber bestimmt, näheren wir uns dem gewöhnlichen, steril weißen Reihenhaus. Eine alte Frau kommt gerade aus der Tür, achtet nicht auf die Waffen und hält uns freundlich die Tür auf. Wir bedanken uns. Wir wissen, wie man sich benehmen muss.
Ich betrachte die Pistole in meiner rechten Hand, nachdenklich. Ich habe niemals daran gezweifelt, dass es richtig ist, was ich tue. » Er ist selber Schuld, oder? « frage ich die anderen. Ich weiß nicht, warum ich das tue, aber ich tue es. » Ja, das ist er. Er hat uns verraten « antwortet der, der rechts von mir steht. Erleichtert atme ich durch, wie dumm von mir, auch nur an Zweifel zu denken. Ich weiß, dass ich das Richtige tue.
Immer noch betrachte ich die silberfarbene Pistole in meiner rechten Hand. Der Ärmel meines Pullovers ist hoch gerutscht, und auf der Oberseite der Hand, mit der ich die Pistole halte, ist deutlich die Zahl erkennbar, welche ich vor vielen Jahren selbst tätowiert habe.
Im richtigen Stockwerk angekommen lese ich den Namen am Türschild und weiß, dass wir richtig sind. » was für ein widerlicher Lügner « faucht der, der links von mir steht und spuckt auf die Fußmatte.
Dann drücke ich den Klingelknopf und das kleine Mädchen öffnet die Tür. Ihr Anblick bringt mich einen Augenblick aus dem Gleichgewicht, doch im selben Moment fange ich mich wieder und wir stürzen zu dritt in die Wohnung.

Kapitel 1
Ich betrete den neonhellen Raum, welcher wohl mein Klassenzimmer ist. Ich sehe in die neugierigen Gesichter, begierig hoffend darauf, zu erfahren was genau passiert ist. Sie wollen mir Mitleid geben, für mich da sein, und gleichzeitig brennen sie darauf, mehr zu erfahren. Nein, sie wissen ja alles. Sie wollen Gewissheit, sie wollen es noch einmal aus meinem Mund hören. Es ist nicht bloß Mitleid, was aus diesen Blicken spricht, es ist Neugier. Widerliche Neugier und die Angst, etwas zu verpassen gemischt mit der Freude darauf, mehr zu wissen, als andere. Diese Blicke widern mich an, dass ist auch der Grund, weshalb ich mich stillschweigend auf meinen Platz ganz hinten setzte, in der Hoffnung keiner von ihnen kommt zu mir. Falsch gedacht. Sie fragen, woran er genau gestorben sei, obwohl sie es wissen, sprechen mir ihr Beileid aus, beteuern, dass sie immer für mich da wären. Sie nehmen mich in den Arm, wischen die ein oder andere Träne weg. Nicht bei mir, bei sich selbst. Ich würde niemals vor diesen erbärmlichen Gestalten weinen, niemals. Ich bleibe lieber für mich, so fühle ich mich wohler. Allein mit meinen Gedanken, mit wem sollte ich sie auch teilen? Jedes, wirklich jedes Mädchen hat all die Dinge, die ich erzählte, sofort ausgeplaudert und ein paar Tage später wusste es die halbe Schule. Dass er tot ist, das habe ich erzählt. Meiner ehemals besten und einzigen Freundin. Dass er ermordet wurde, das habe ich erzählt und dass ich dabei zusah auch. Dass ich nichts getan habe, dass ich ihn nicht gerettet habe und dass ich Schuld bin. Ich brauchte jemanden zum Reden, jemanden, der mir zuhört, das war so wichtig für mich. Und ich habe ihr alles erzählt, ich habe geweint. Und sie war für mich da, hat mich in den Arm genommen. Doch nur wenige Stunden später las ich auf Facebook diesen Eintrag von ihr:
Es tut mir so leid, dass er von uns gegangen ist. Ich bin immer für dich da, dass schwöre ich dir. Ich lasse dich niemals hängen und wenn die Schuldgefühle dich übermannen, kannst du dich immer bei mir melden. Deinem Vater geht es dort oben bestimmt gut. Ich liebe dich.
Ja, wirklich, sie hat das für alle lesbar auf die Startseite geschrieben. Keine drei Sekunden später bekam ich eine Nachricht nach der anderen, was denn passiert sei. Ich habe alle Nachrichten ignoriert, bis heute.
Und seitdem war es das mit meiner allerletzten Freundin. Ich habe ihr nie Vorwürfe gemacht, auch habe ich die Freundschaft nie offiziell beendet, ich habe einfach aufgehört mit ihr zu reden und sie hat es einfach hingenommen. Ich glaube, sie ist sogar froh darüber.
Alle denken, es wäre hart für ein fünfzehnjähriges Mädchen ihren Vater zu verlieren. Alle denken, es wäre noch härter wenn der Vater auf so grauenhafte Weise, wie es bei meinem der Fall war, ermordet wurde. Und erst recht denken alle, es wäre das Härteste, wenn die eigene Tochter dabei zugesehen hätte. Das kleine Mädchen verträgt das nicht, denken sie. Ich sage, es ist kein Problem, ich möchte keine Therapie, ich möchte keine Hilfe, ich möchte meine Ruhe haben. Doch sie alle haben Recht. Das ist, was ich nicht sage. Ich sage nicht, dass ich innerlich zerbreche, ich denke es nicht einmal. Ich sage auch nicht, dass ich nachts nicht schlafen kann, weil ich in die Dunkelheit starre, bis Alpträume mich aus dem Sekundenschlaf reißen. Ich sage nicht, dass die ganze Schule über mich redet, dass jeder Bescheid weiß, aber keiner etwas sagt. Ich sage nicht, dass sie lästern, dass sie mich hassen und dass ich mich selbst hasse. Nichts davon sage ich und nichts davon denke ich.
Ich sitze dort, auf meinem Platz, ganz hinten in der Ecke des Raumes. Die Lehrerin betritt den Raum, nimmt zu Kenntnis, dass ich seit vielen Wochen wieder in der Schule bin. Sie lächelt mich an und ich lächle zurück. Innerlich weine ich wie ein kleines Kind, doch das interessiert keinen. Ich überlebe den Schultag, indem ich mich im Unterricht den Kritzeleien auf meinem College Block widme und in der Pause auf dem Schulklo sitze. Niemand fragt, wo ich gewesen bin, niemand spricht mit mir, doch jeder nimmt mich wahr. Wenn ich über den Flur gehe, sehen sie mich an, doch niemals in die Augen. Sie schauen an mir herunter, und dann ganz schnell weg und ich kann praktisch hören, was sie denken. Ich habe mich verändert, dass weiß ich. Und das sehen sie. Ich trage nicht mehr dieselben Bluejeans, wie vor einigen Wochen, ich trage auch keine Blusen mehr, nicht einmal ein schlichtes T-Shirt will ich tragen. Ich trage eine schwarze, enge Jeans, mit roten Kreuzen darauf. Ich trage Springerstiefel und ein rotes Top. Über diesem trage ich ein schwarzes, weites Sweatshirt. Ich habe den Reisverschluss des Sweatshirts geschlossen, sodass nur an meinem Hals das rote Top zusehen ist. Ich trage meine Haare geflochten, in ihnen befinden sich rote Strähnen. Ein langer Zopf fällt meinen Rücken herunter. Ich habe abgenommen, was man unter dem weiten Sweatshirt kaum sieht, aber in meinem Gesicht und an den Beinen kann man es leider erkennen. Meine Wangen sind eingesunken, meine Augenringe sind nicht stark genug überschminkt. Meine Augen sind umrandet mit schwarzem Kajal und die Wimpern dreimal nachgetuscht mit schwarzer Mascara. Meine Lippen sind nachgemalt mit einem roten Lippenstift. Alles in allem sehe ich aus, wie ein Emo, oder wie auch immer diese Menschen heißen, die so verrückt rumlaufen und sich ritzen. Doch ich bin keiner, ich kenne niemanden aus dieser Szene und ich weiß noch nicht einmal, was einen echten Emo auszeichnet. Doch ich mag die Klamotten, ich mag es anders zu sein und ich mag es, wenn mein Gesicht so stark geschminkt ist, dass niemand erkennt, was in mir vorgeht. Niemand soll sehen, wie fürchterlich ich aussehe, wenn ich morgens aufstehe. Die Klamotten wirken abschreckend, und auch das ist gut so. Früher war ich normal, ich war normaler als normal. Ich habe Bluejeans getragen, und schlichte Blusen und Pullover. Ich hatte glatte, braune Haare. Lang waren meine Haare schon immer, doch sie waren meist offen. Ich Stand mit vier oder fünf Freundinnen jede Pause in einem Kreis und habe über Jungs, Schminke, Klamotten, Konzerte, Filme, Bücher und Klassenkameraden geredet. Ich habe Hausaufgaben gemacht, aber war nie besser, als der Durchschnitt in der Schule. Ich habe viel gelächelt. Sie alle wissen, dass ich mich verändert habe. Doch niemand von ihnen würde es wagen, mich darauf anzusprechen.
Nach der Schule gehe ich nach Hause und heute mache ich keinen Umweg durch den Park. Der Park, in dem der junge Mann mit dem schwarzen Mantel steht, der es mir damals das erste Mal angeboten hat. Ich weiß nicht, warum er das tat, vielleicht sah ich so aus, als könnte ich es brauchen. Ich ging damals durch eben diesen Park, schluchzend. Ich hatte vor ungefähr zehn Minuten mit angesehen wie mein eigener Vater in unserer Wohnung ermordet wurde. Es waren drei Männer, die an unserer Haustür geklingelt hatten. Sie betraten die Wohnung, nachdem ich die Tür geöffnet hatte, ohne mich zu begrüßen oder zu fragen, ob sie reinkomme dürften. Ich war entsetzt, sie hatten Baseballschläger dabei, und einer der Drei besaß eine Pistole. Ich glaube, es war eine. Oder ein Revolver, keine Ahnung, wie die Dinger aussehen. Sie gingen geradewegs ins Wohnzimmer, ich folgte ihnen, rief den Namen meinen Vaters. Ich hatte ihn nie Papi, Paps oder Papa genannt, immer nur Stefan. Ich rief ihn, doch er antwortete nicht, denn die Männer hatten das Wohnzimmer betreten. Ich war einige Schritte hinter ihnen stehen geblieben, auf dem Flur, und beobachtete, was geschah. Einer der Männer richtete seine Pistole auf meinen Vater, die anderen beiden hielten die Schläger drohend in den Händen. Erschrocken atmete ich ein, wollte zu meinem Vater laufen, ihm helfen, doch mein Körper gehorchte mir nicht. Die Angst lähmte mich, sagen die Therapeuten, zu denen ich schon lange nicht mehr gehe. Der Egoismus lähmte mich, sage ich. Ich sehe das ganze Szenario mit an, wie der Mann in der Mitte die Waffe an den Kopf meines Vaters hält, wie er etwas sagt, wie er dasselbe noch einmal schreit, ich weiß nicht, was genau. Ich habe es mir nicht gemerkt. Ich sah weiter genau hin, ich konnte nicht wegschauen und ich konnte nicht helfen, ich hatte solche Angst in dem Moment, dass man es nicht mehr bloß als Angst bezeichnen könnte. Angst hat man vor Spinnen oder Klassenarbeiten, aber was ich an dem Abend fühle, war pure Furcht, die durch meinen ganzen Körper geschossen wurde, und alles in mir kontrollierte. Der Mann in der Mitte drückte ohne weitere Vorwarnungen ab, ich weiß bis heute nicht warum, ich weiß nicht, was ihn dazu veranlasste, ob er ein Gewissen besitzt und was mein Vater mit dem Ganzen zu tun hatte. Ich weiß nur, dass er tot ist. Die Männer liefen an mir vorbei, den Flur entlang, auf die Straße und weg. Ich sah ihre Gesichter nicht, nahm jedoch andere Details war, an die ich mich später nicht mehr erinnern konnte. Ich hörte ihre Stimmen, doch ich konnte sie nicht beschreiben. Ich war für alle Ermittlungen nutzlos. Nachdem die Männer weg waren, näherte ich mich meinem Vater, kniete mich neben ihn auf den blutbefleckten Teppich und nahm seine Hand. Ich sagte seinen Namen, ich hauchte ihn eigentlich bloß. Noch einmal flüsterte ich ihn und als keine Antwort kam, schrie ich und rüttelte meinen Vater an den Schultern. Flehte ihn an, mir zu antworten. Die Verzweiflung hatte mich im Griff. Ich verstand, dass er tot war. Ich sah es ihm an, doch ich konnte es nicht begreifen. Ich schaute mich um, unsere Wohnung. Bald würde meine Mutter nach Hause kommen, sie würde Stefan finden und sie würde weinen, sie würde zusammen brechen. Ich wurde mit der Situation nicht fertig, doch als ich begriff, dass ich nichts getan hatte, außer zusehen, schaltete mein Gehirn ab. Ich sprang auf und rannte aus dem Reihenhaus, fast so, als hätte ich gerade jemanden ermordet und wäre auf der Flucht.
Ich lief einige Zeit nur geradeaus, bis ich in den Park kam. Die Puste ging mir aus und ich lief langsamer, bis ich nur noch sehr langsam und laut atmend ging. War es Erschöpfung vom Laufen oder war es Schluchzen? Ich kann es jetzt nicht mehr sagen. Ich kam an diesem Mann vorbei, der Mann im schwarzen Mantel kam auf mich zu und sprach mich an. Fragte, ob ich Hilfe bräuchte und ich verneinte. Er erwiderte, dass es mich nur Zwanzig Euro kosten würde. Ich kramte in meiner Jeans und förderte einen Schein zutage, ich weiß nicht warum ich das tat, aber ich tat es. Ich bezahlte und der Mann im schwarzen Mantel gab mir wortlos eine kleine Pfeife. Ich fragte mich, warum eine Pfeife so teuer sei. Wer rauchte denn heutzutage überhaupt noch Pfeife? Einen Moment lang vergaß ich, dass mein Vater tot war und konzentrierte mich auf den seltsamen Mann vor mir. Als ich ihn ratlos ansah steckte er mir die Pfeife zwischen die Lippen und murmelte, dass etwas Crack mir ganz gut tun würde. Er zündete sie für mich an und ging. Das war die seltsamste Begegnung, die ich je hatte.
Nur wenige Sekunden nachdem ich das scheinbare Kokain geraucht hatte, passierte etwas sehr seltsames. Ich fühle mich unglaublich gut, ich wollte zu den Männern gehen, die meinen Vater ermordet hatten und ihnen eine reinhauen. Ich fand es komischerweise nicht schlimm, dass er tot war. Ich quatsche Menschen an, die neben mir gingen und erzählte ihnen, was mir soeben widerfahren war. Und dann sah ich plötzlich meinen Vater hinter einem Baum stehen, doch als ich zwinkerte war er wieder verschwunden, aber ich war mir sicher ihn gesehen zu haben. Ich war so euphorisch wie noch nie in meinem Leben.
Leider hielt dieser Rausch nur wenige Minute an. Als ich die Welt wieder schwarzweiß sah, wollte ich nichts mehr, als erneut diesem erdrückenden Gefühl von Schuld, Trauer und Hass entfliehen. Doch der Mann im schwarzen Mantel war schon weg und ich konnte ihn nicht mehr finden. Ohne eine Träne zu vergießen, streifte ich ziellos durch den Park und ließ mich schließlich auf einer Bank nieder, bis die Sonne untergegangen war. Vielleicht auch noch länger, ich weiß es nicht mehr. Doch ich weiß, dass ich nicht nach Hause gehen wollte, unter keinen Umständen wollte ich diejenige sein, die meinen Vater erneut vorfindet, noch wollte ich diejenige sein, die meine Mutter trösten musste. Ich wollte nicht stark sein, ich konnte es nicht.
Als ich dort auf der Bank saß, wurde mir bewusst, dass ich für den Tod meines Vaters verantwortlich war, dass ich Schuld war, weil ich nichts getan hatte, um diesen grausamen Mord zu verhindern. Kein Therapeut und kein Arzt konnten mir diesen Glauben ausreden, auch in den wochenlangen Therapien, in denen ich nicht einmal zu Schule gehen durfte, hat niemand es geschafft, mir das auszureden. Es ist in mir verankert, und ich weiß, dass es stimmt. Ich weiß, dass ich, wenn ich sterbe, in die Hölle kommen werde, und dass ich nichts anderes verdiene, als dasselbe, was meinem Vater widerfahren ist. Ich bin mir dem so sicher, und ich weiß, dass ich das alles beenden werde. Heute noch nicht, morgen noch nicht, denn ich verdiene es zu leiden, unter den Qualen des schlechten Gewissens.

All das schießt mir durch den Kopf, wenn ich an den Park denke, den ich heute, auf dem Weg nach Hause, meide. All die Erinnerungen und der Schmerz, das Bild von meinem Vater, blutend am Boden. Wieder und wieder laufen in meinem Kopf die gleichen Bilder. Ich sagte, ich hätte es überwunden, ich sagte es ginge mir besser und ich wüsste, dass ich nicht Schuld sei. Lügen ist am besten. Durch Lügen entkommt man der Klapse und Irrenanstalt. Man darf nach Hause und weitermachen wie vorher und man wird nicht mehr mit Fragen durchbohrt. Lügen ist das beste Mittel um für sich zu sein. Vorgeben, dass es einem gut geht, damit man selbst mit den Dingen fertig werden kann, von denen andere denken, man hätte sie längst verarbeitet.

Kapitel 2
Zuhause angekommen nehme ich meine Mutter in den Arm, die ich, im Gegensatz zu meinem Vater damals, einfach nur Mama nenne. Stefan war nicht nur ein Vater, er war mehr. Ein bester Freund vielleicht. Mama fragt, wie die Schule war, ich antworte gut. Mama gibt mir zu essen, ich esse drei Bissen. Ich sage, dass ich in der Schule gegessen habe (was nicht stimmt), Mama stellt das Essen zurück. Mama fragt, wie es mir geht, ich antworte, es ginge mir bestens. Sie sagt, ich solle die Wahrheit sagen. Ich lächle, sage, es ginge von Tag zu Tag besser. Warum meine Mutter schon mittags zuhause ist und gekocht hat? Weil sie nicht arbeitet, weil sie nach wie vor in Therapie ist. Jeden Vormittag. Den Rest der Zeit macht sie Yoga, putzt, kocht und backt. Wenn sie damit fertig ist, putzt sie die Küche erneut. Sie kommt nicht gut mit Stefans Tod klar. Sie braucht das Mitleid, das Mitgefühl der anderen. Ich komme viel schlechter damit klar, doch die Menschen sind stolz auf mich. Wie stark ich bin, wie mutig, und was für ein großes Mädchen ich doch geworden bin, und so erwachsen. Ja, wirke ich denn so? Fällt mir nicht auf. Ich style mich so, aber das war es dann auch schon wieder. Wie einfach die Menschen zu täuschen sind. Sie sehen nur das, was sie sehen wollen, sie glauben nur das, was sie glauben wollen und reden sich die Welt solange schön, wie sie es wollen.
Nachdem ich abgetrocknet habe, während meine Mutter abgewaschen hat, gehe ich in mein Zimmer und lasse mich auf mein Doppelbett fallen. Die Wand hinter dem Bett habe ich nach Stefans Tod schwarz gestrichen. Mit einem weißen Permanent Marker schreibe ich dort Worte drauf. Bisher steht dort: „Schuld und Unschuld“, „Liebe und Hass“, „Vergessen und erinnern“ und „Wissen und glauben“. Warum ich das tue? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wieso ich Mama verboten habe, mein Zimmer zu betreten. Die saubere Wäsche muss sie mir vor die Tür legen und wenn sie etwas von mir will, muss sie anklopfen und ich komme raus. Sie akzeptiert das, meine Privatsphäre ist mir sehr wichtig geworden seit Stefans Tod. Diese Worte „Seit Stefans Tod“, sie widern mich an. In meinem Leben gibt es nur diese Zeitrechnung, vorher und nachher. Die Menschen in meinem Umfeld sehen das so, alles was ich „davor“ getan habe, tat die richtige Melanie. Alles, was „danach“ geschah, wird verziehen, gut geheißen und auf mein „innerliches Psychotrauma“ geschoben. In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich? Die alte Melanie war ein Teil dieser Gesellschaft, doch die neue, traumatisierte Melanie hasst diese Gesellschaft. Hasst alle Menschen, die sich ihr anpassen und jeden, der versucht, auf sie zuzugehen. Die neue Melanie ist schon ziemlich verabscheuungswürdig. Und deshalb verdient sie Schmerzen.
Ich setzte mich auf das Bett, ziehe einen Schuhkarton unter diesem hervor und öffne ihn. Ich nehme die Rasierklinge heraus, ziehe den Ärmel meines Sweatshirts hoch und setzte die Klinge an. Ich erinnere mich, dass ich etwas vergessen habe, greife erneut unter mein Bett und lege ein Handtuch auf meine Oberschenkel, um das Blut davon abzuhalten, auf die Bettwäsche zu tropfen. Erneut setzte ich die Klinge an meinen Arm an und drücke leicht zu. Ein kleiner Schnitt bildet sich, ein Tropen Blut tritt aus der Haut und läuft seitlich an meinem Arm herab. Ich drücke fester, ziehe die Klinge langsam den Arm entlang. Eine gerade Linie entsteht, eine rote Linie auf meinem bleichen Unterarm. Ich liebe diese Linie, ich liebe dieses Gefühl. Die Gewissheit, dass ich es verdiene. Die Gewissheit, dass ich leiden muss, und die Dankbarkeit, dass wenigstens mein Vater das an seinem Todestag nicht musste. Ich weiß, dass ich Schuld bin, ich spüre in mir, dass ich es hätte verhindern können. Aber das habe ich nicht, ich lebe und er ist tot. Es sollte anders herum sein.
Vorsichtig tupfe ich das Blut mit dem Handtuch ab und stopfe die Klinge und das Handtuch zurück unter mein Bett. Ich ziehe den Ärmel meines Sweatshirts runter und lege mich auf mein Bett, starre an die Decke. Denke, dass ich sie vielleicht auch schwarz streichen sollte, schwarz wie meine Seele. Mein Unterarm brennt und pocht, ich ignoriere es. Ich nehme meinen Marker, schreibe an meine Wand „Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit“ und daneben „Schwarz und Weiß“. Ich weiß nicht, warum ich diese Worte schreibe. Irgendwie ist „Ich weiß nicht...“ sowieso mein Lebensmotto geworden. Und ich weiß nicht, warum.
Unschlüssig, was ich jetzt tun soll, nehme ich meinen Laptop heraus, mache ihn an und kurze Zeit später wieder aus. Mein Blick fällt auf meine Schultasche in der Ecke, einen kurzen Moment denke ich darüber nach, Hausaufgaben zu machen, ich verwerfe diesen Gedanken aber gleich wieder. Stattdessen mache ich mein Fenster auf, klettere über das Dach auf den nahe gelegenen Apfelbaum und von dort aus in den Garten. Im Schutz der Dunkelheit laufe ich los, meine Chucks machen keine Geräusche auf der leeren Straße und die einsame Stille erfüllt mich mit einem Gefühl von Geborgenheit. Doch es gibt ein Gefühl in mir, dass noch viel stärker ist, als der Hass, die Trauer und das schlechte Gewissen. Der Drang. Der Drang nach diesem unglaublichen Gefühl von Euphorie in mir. Ich will, nein ich muss, diesem Druck in mir entkommen. Wenn auch nur für wenige Minuten. Ich hatte mir wirklich vorgenommen, es zu lassen. Ich weiß, was das Crack mit mir macht, aber ich will es nur noch ein letztes Mal. Die Schnitte ins eigene Fleisch geben mir schon lang nicht mehr genug Adrenalin, um zu vergessen, aber die Drogen tun es. In dem Park angekommen, bleibe ich außer Atem stehen und schaue mich enttäuscht um. Ich weiß nicht, was ich mir gedacht habe. Dass der Mann mit dem schwarzen Mantel dort auf mich wartet und mir etwas verkauft? Dass ich einen anderen Dealer finden kann, der mir etwas verkauft? Nichts dergleichen ist der Fall, also stehe ich ratlos mitten in der Nacht in einem Park, nahe meinem zuhause, und tue nichts. Nach Stefans Tod sind wir übrigens umgezogen, jetzt wohnen wir ungefähr fünf Minuten von der alten Wohnung entfernt. Unschlüssig, wie ich weiter verfahren soll, lasse ich mich auf die Parkbank sinken, auf der ich schon damals, an „dem Tag“ gesessen habe.
Eine kühle Hand legt sich auf meine Schulter. Erschrocken fahre ich herum und erfasse in der Dunkelheit einen Jungen mit langen, glatten Haaren, der mich liebevoll anlächelt. Im Schein einer nahe liegenden Laterne nehme ich grob war, wie er aussieht: Er trägt eine dunkle Hose, und genau wie ich manchmal, Springerstiefel. Darüber trägt er einen viel zu großen, dunklen Pullover, welcher neongrüne Reisverschlüsse hat. Also, eigentlich sind nur die Dinger grün, mit denen man den Reisverschluss verschließt, keine Ahnung, wie die heißen. Seine definitiv rabenschwarzen Haare fallen glatt bis knapp über die Schultern und seine fast genauso schwarzen Augen schauen intensiv in meine. Er fragt, ob er sich neben mich setzten darf und ich bejahe. Er bietet mit eine Zigarette an und ich nehme sie dankend an. Während er mir Feuer gibt, fragt er, was ein kleines Mädchen nachts draußen verloren hat. Ich beantworte die Frage nicht, sondern gebe sie zurück, und dann erzählt er mir, was ihm an diesem Abend alles widerfahren ist. Seine langjährige Freundin hat ihn aus der gemeinsamen Wohnung geschmissen und verlassen, nachdem sie sich mehrere Stunden gestritten haben. Ich mache große Augen, gebe ihm aber kein Mitleid. Das kann man in so einer Situation nicht wirklich brauchen, denke ich mir. Er erzählt von seinen innersten Gefühlen und Gedanken und seine warme und weiche Stimme klingt, als käme sie direkt aus seinem Herzen. Ich erzähle nichts über mich, ich lasse ihn erzählen und höre geduldig zu, sage ab und zu meine Meinung. Stunden später bemerke ich, dass ich mittlerweile am ganzen Körper zittere. Er bemerkt es auch und gibt mir seinen Pullover. Er riecht nach Zigaretten und noch etwas anderem, was ich irgendwie nicht definieren kann. Ich lächle, und es ist das erste Mal, seit Stefans Tod, dass ich auch innerlich ein klitzekleines bisschen lächle. Ich frage, wo er diese Nacht verbringen will und weil mir auffällt, dass ich seinen Namen nicht einmal kenne, frage ich auch nach diesem. Er heißt Milan und wo er schlafen will, weiß er noch nicht. Wahrscheinlich auf einer der Bänke. Ich gebe zu bedenken, wie kalt es ist und biete an, ihn heimlich mit in mein Zimmer zu nehmen, wenn er einen Apfelbaum hochklettern könne.
Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zu mir nach Hause, ich lege eine Isomatte mit Schlafsack auf den Boden und wir kuscheln uns in unsere Betten. Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen gilt dieses Mal nicht Stefan, sondern Milan. „Milan und Melanie“, denke ich, klingt schön. Ich habe keine Alpträume, ich starre auch nicht stundenlang in die Dunkelheit. Ich schlafe, wie jeder normale Menschen auch. Erstaunlich, ich wusste gar nicht mehr wie sich das anfühlt.


Kapitel 3

Als ich aufwache, fällt mein Blick zuerst auf den Boden, auf dem Milan, eingemummelt in seinen Schlafsack, liegt und selig vor sich hin schnarcht. Eine Weile schaue ich ihn einfach nur an, die Konturen seines Gesichtes, die markanten Gesichtszüge und die Härte und Lebenserfahrung, die daraus spricht. Was mag dieser Junge wohl schon alles erlebt haben? Was für eine Geschichte hat er? Wie ist er zu dem Menschen geworden, der er jetzt ist? Wie alt ist er eigentlich? Ich beschließe, ihn das nachher zu fragen.
Ich öffne meine Zimmertür und gehe den Flur entlang in die Küche. Meine Mutter schläft noch ebenso tief wie Milan, also schmiere ich zwei Brötchen, gieße Orangensaft in Gläser und stelle beides auf ein Tablett. Daneben stelle ich noch einen Teller Kekse und das ganze bringe ich zurück in mein Zimmer. Als ich es betrete, schlägt Milan die Augen auf und lächelt mich an. Er wünscht mir einen guten Morgen, und ich denke, dass es der beste Morgen ist, seit „dem Tag“.
Ich stelle das Tablett auf den Boden und setzte mich im Schneidersitz neben Milan. Mein schlabberiger Schlafanzug versteckt meine zierliche Figur und die Schminke von gestern ist zum Glück soweit heil geblieben. Ich nehme den Orangensaft und reiche ihn Milan, er nimmt ihn, trinkt einen Schluck und schaut dann nachdenklich auf die Hand, mit der ich ihm das Glas gereicht habe. Erstaunt frage ich, ob alles in Ordnung sei, und er bittet mich, ihm meinen Arm zu zeigen. Ich verweigere diese Aufforderung, er kann mich dazu schließlich nicht zwingen, und schließlich lässt er dieses heikle Thema auf sich beruhen. Ich frage ihn, wie alt er ist und er erzählt, dass er vor wenigen Tagen achtzehn geworden sei. Ich gratuliere nachträglich.
Nach diesem kurzen Gespräch trinken wir schweigend den Saft und ich reiche ihm die Brötchen, während ich in Gedanken überlege, ob ich mir die Kalorien eines halben Brötchens erlauben dürfe. Da Milan scheinbar halb am verhungern war, komme ich zu dem Schluss, dass ich sowieso viel zu fett bin, und überlasse ihm die beiden Brötchen mit Marmelade.
Bei einem beiläufigen Blick auf die Uhr fällt mir ein, dass die Schule in einer halben Stunde beginnt und gleichzeitig freue ich mich, dass meine Mutter scheinbar schon auf dem Weg zur Therapie ist, und Milan und mich hier nicht erwischen kann. Nach Absprache mit Milan beschließe ich, dass wir heute nicht zur Schule gehen. Na ja, eigentlich eher ich, Milan hat mir vorhin erzählt, dass er seinen Ausbildungsplatz vor ein paar Wochen verloren hat, und seitdem der Streit mit seiner Freundin immer schlimmer geworden sei. Gestern sei es dann einfach eskaliert.
Dann fällt mir ein, dass meine Mutter in ein paar Stunden schon wieder zurück sein wird, und entweder Milan finden wird, oder sich wundern wird, warum ich schon wieder nicht in der Schule bin, wenn es mir doch so gut geht. Ich muss Milan also kurzerhand rauswerfen, verabrede mich aber mit ihm abends im Park, und lege mich dann wieder ins Bett. Natürlich räume ich zuerst Milans Bett weg. Meiner Mutter will ich erzählen, dass ich mich heute Morgen etwas fiebrig gefühlt habe.
Meine Mutter hat mir geglaubt. Als sie nach Hause kam, ging ich ihr entgegen und erzählte mir sei schlecht und dass ich mich gern ausruhen würde. Sie machte mir eine Tomatensuppe, die ich mit in mein Zimmer nahm. Zehn Minuten wartete ich, dann kippte ich den Inhalt der Schüssel in die Toilette, ging zu meiner Mutter, gab ihr die leere Schüssel und lobte ihre Kochkünste. Zufrieden lächelte sie mich an, sagte ich solle schlafen und ich gab zurück, dass das eine gute Idee sei und sie mich bitte nicht mehr stören solle.
Als ich endlich meine Ruhe habe, werfe ich mich auf mein Bett und starre, mal wieder, an die Decke. Dabei denke ich, mal wieder, dass ich sie unbedingt schwarz streichen muss, wenn ich schon so oft darauf starre. Ich liege einfach nur dort auf meinem Bett, betrachte eine kleine Spinne, die sich den Weg durch mein Zimmer bahnt. Mein Zimmer besteht eigentlich nur aus einem roten Sofa vom Sperrmüll, einem kleinen Glastisch mit einigen Zeitschriften, dem riesigen Doppelbett, welches auf einer kleinen Erhöhung in der Ecke des Zimmers steht. Außerdem wird dies ergänzt durch eine hölzerne Kommode. Alles in allem ist es sehr schlicht eingerichtet, die rote Couch bietet die einzige Farbe. Ich habe es komplett umgestaltet, als Stefan starb. All die Designermöbel aus dem Fenster geschmissen und Stefans Couch behandelt wie ein lebenswichtiges Relikt. All die Jahre stand sie bei ihm im Büro, und als Mama sie wegwerfen wollte, habe ich darauf bestanden, sie zu behalten. Es hängen keine Fotos an den Wänden, weder von meinen nichtvorhandenen Freunden, noch von meiner nichtvorhandenen Familie, und am allerwenigsten von meinem nichtmehrvorhandenen Vater Stefan. Der Boden ist mit Parkett ausgelegt, wie die ganze Wohnung. Die Wohnung ist eigentlich ziemlich klein, mein Zimmer befindet sich am Ende des Flurs, davor gibt es eine weitere Tür die in die Küche führt und die vorderste Tür ist die zu Mamas Zimmer. In Mamas Zimmer befindet sich eine weitere Tür, welche zum Bad führt, was manchmal ziemlich nervig sein kann.
Nachdem ich also einige Minuten auf meinem Bett herumgelungert habe, unschlüssig, was ich nun tun soll, vibriert mein Handy.
Hey. Danke für das Nachtquartier. Heute Abend steht fest? Ich hoffe du hattest keinen Ärger, und sei nicht sauer, dass ich mir heimlich deine Nummer notiert hab, als du auf dem Klo warst. LG Milan.
Ich lächle. Als ich es bemerke, höre ich auf damit. Ich habe seit Stefans Tod doch nicht mehr gelächelt, solange ich alleine war jedenfalls nicht. Ich verdiene es nicht, so etwas wie Glück zu empfinden. Und lächeln drückt genau das aus. Ich lese die SMS ein zweites Mal, und dann ein drittes Mal. Ich freue mich. Milan hat nun also meine Handynummer, und ich habe seine. Sofort speichere ich sie ein. Nachdem ich auch das getan habe, denke ich über den gestrigen Abend nach, über die Nacht und den Morgen darauf mit unserem gemeinsamen Frühstück. Milan hatte registriert, dass ich nicht aß, er hat auch die Narben registriert, und mich trotzdem nicht verurteilt oder mich direkt darauf angesprochen. Zögerlich ziehe ich den Ärmel von Milans Kapuzenpulli hoch und betrachte meinen Arm. Eine bunte Mischung aus fast verblassten Narben, noch deutlich sichtbaren Schnitten und ein paar frischen Wunden, werden sichtbar. Die Narbe von gestern ist am stärksten zu sehen. Behutsam streiche ich mit dem Zeigefinger über den gleichmäßigen Schnitt in meiner Haute, fühle das Adrenalin ein zweites Mal, erinnere mich an das berauschende Gefühl in mir, und die Gewissheit, es zu verdienen. Ohne mich würde Stefan noch leben. Immer wieder dieselben Gedanken in meinem Kopf, die Bilder lassen mich nicht in Ruhe. Eine Stimme in mir schreit mir immer und überall ins Ohr, dass ich Schuld sei. Nur, wenn ich so berauscht bin, fühle ich mich gut. Nach dem Crackrauchen fühle ich mich gut, nach dem Ritzen. Selbst Milans Zigarette Gesternabend auf der Parkbank hat mir gut getan, mich entspannen lassen und mich für wenige Sekunden vergessen lassen. Oder war es der nicht definierbare Geruch von Milans Pulli, der mich diesen einen Moment ein wenig hat lächeln lassen? Verwirrt wegen all der Gefühle, setzte ich mich auf und hole den Schuhkarton und das Handtuch unter dem Bett hervor. Immer, wenn das Blut das Handtuch zu sehr verdreckt hat, wasche ich es heimlich, wenn Mama nicht da ist und hänge es in meinem Zimmer auf. Aber rot ist es immer. Ich lege es auf meine Oberschenkel, krame in dem Karton und nehme die Rasierklinge in die rechte Hand. Ich streife den linken Ärmel nach oben, ich will die Stimme in mir zum schweigen bringen, die Stimme, die sagt, dass ich Schuld sei. Auch wenn sie Recht hat, ich will sie nicht mehr hören. Ich denke an Milan, hat er das hier wohl auch schon einmal gemacht? Trägt er wohlmöglich auch Narben mit sich herum, die ihn sein Leben lang kennzeichnen werden? In diesem Moment vibriert mein Handy erneut.
Was machst du gerade? Weißt du, ich musste gerade an dich denken. Sitze auf unserer Bank im Park, schreibt Milan. Kann der Junge Gedanken lesen? Ich lege die Klinge beiseite, und antworte ihm.
Nichts Besonderes. Im Winter ist es aber saukalt. Dumm, dass ich vergessen habe, dir deinen Pulli wiederzugeben. Du bekommst ihn später.
Ich lese die Nachricht noch einmal durch, bevor ich sie abschicke. Auf meiner Facebookseite war ich auch schon ewig nicht mehr, doch es gibt auch keinen Grund dazu. Es gibt niemanden, mit dem ich chatten könnte. Unschlüssig werfe ich einen Blick auf die Klinge neben mir, nehme sie in die Hand, betrachte sie. Ich werfe sie zurück in den Karton, stopfe das Handtuch unters Bett und schiebe den Karton hinterher. Ich brauche das nicht, heute nicht, vielleicht bin ich ja doch ein wenig stark. Doch gut genug für einen Jungen werde ich niemals sein, und erst recht nicht für einen Jungen wie Milan. Traurig schaue ich mich um. Nehme meinen weißen permanent Marker und schreibe an meine schwarze Wand „Gefühle?“. Das Fragezeichen male ich doppelt nach und schreibe es in doppelt so großer Schrift. Ich will noch ein kleines „M“ mit einem Herz malen, doch ich kann nicht riskieren, dass er es sieht, falls er noch einmal zu mir kommt.
Wir sind erst in einer Stunde verabredet, doch ich klettere über den Apfelbaum in den Garten und laufe von dort aus in die Stadt. Meine Chucks werden nass von den Pfützen, bestehend aus Schneematsch. Ich weiß, dass ich viel zu dünn angezogen bin, für diese Jahreszeit, doch das ist mir egal. Ich trage meine Converse Chucks, dazu eine schlabberige, zerrissene und Ausgebleichte Jeans. Darüber trage ich Milans Pullover mit dem grünen Reißverschluss und in der Hand habe ich noch eine grellrote Sweatshirtjacke. Ich laufe mitten auf der Straße, die Autos hupen mich an, doch ich ignoriere sie. Ich habe plötzlich das dringende Bedürfnis Milan zu umarmen. Nur für wenige Sekunden, seinen Geruch einatmen und seine Umarmung spüren. Ich lasse niemals die Nähe von anderen zu, nie. Meine Mutter umarme ich aus Anstand, aber sonst niemanden. Doch bei Milan wünsche ich mir fast, ihm in die Arme fallen zu können. Ich wünsche mir, dass er mich hält, dass er mich ganz fest an sich drückt und mir sagt, dass alles gut wird. Vielleicht glaube ich es dann ja irgendwann auch selbst. Irgendwie ist das verrückt, ich kenne Milan ja kaum und er weiß praktisch nichts von mir. Warum fühle ich etwas für ihn? Es ist das erste Gefühl in mir, seit Stefans Tod. Abgesehen von Selbsthass, Verzweiflung, Trauer und Wut.

Kapitel 4
Durch das Laufen kann ich die Kalorien abtrainieren, die ich heute zu mir genommen habe, denke ich. Dann fällt mir ein, dass ich überhaupt noch nichts gegessen habe, und ich bin stolz auf mich. Ich habe den ganzen Tag ohne Nahrung ausgehalten, nicht einmal eine Orange habe ich gegessen. Das schaffe ich nur an sehr wenigen Tagen, meistens wird mir schwindelig und ich muss essen, wenn ich nicht will, das jemand etwas mitbekommt. Im Park angekommen verlangsame ich mein Tempo und mir fällt auf, dass ich viel zu früh bin. Ich wünsche mir, dass Milan schon da ist. Ich bin erleichtert, als ich ihn auf der Bank sitzen sehe, die Bank auf der mir das erste Mal bewusst wurde, dass ich für den Tod meines Vaters verantwortlich bin. Ich gehe noch ein Stück auf ihn zu und rufe dann seinen Namen. Er dreht sich um und lächelt und mein Herz macht einen Satz. Ich lächle zurück, wenn es auch nur ein klitzekleines Lächeln ist, so ist es doch ein erheblicher Fortschritt, seit Stefans Tod. Kein Therapeut konnte mich zu einem ehrlichen, nicht erzwungenen Lächeln bewegen, doch Milan schafft es, ohne es zu wollen und ohne jede Strategie.
Er nimmt mich in den Arm, und es fühlt sich genauso schön an, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich umarme ihn nicht zurück, doch ich genieße jede Sekunde und hoffe er würde nie mehr loslassen. Doch natürlich lässt er mich wieder los. Wir setzen uns nebeneinander, wohlgemerkt ziemlich dicht nebeneinander, sodass unsere Oberschenkel und die Arme sich leicht berühren. Er schaut mich an, sagt nichts. Ich lächle, doch jetzt ist es wieder das aufgesetzte Lächeln, das Lächeln, welches ich den Therapeuten und Lehrern gebe, wenn ich in Ruhe gelassen werden möchte. Er schaut ein wenig traurig und sagt, dass das nicht das Lächeln sei, was er heute Nacht auf meinem Gesicht gesehen hätte. Scheinbar wirke ich erstaunt, denn er gibt zerknirscht zu, dass er lange nicht einschlafen konnte und im Schein seines Handys einige Minuten lang mein Gesicht angeschaut hat. Er meint, ich hätte ein sehr schönes Lächeln, wenn es ehrlich sei. Ich bin verblüfft und frage mich erneut, ob der Junge Gedanken lesen kann. Eine Weile schweigen wir, das Schweigen wird mir peinlich doch ich beginne nicht gern Gespräche und weiß leider auch gar nicht, wie ich das machen sollte. Ich bin einfach nicht der Typ Mensch, der auf Menschen zugeht. Also seit Stefans Tod. Milan schaut mir in die Augen, ziemlich intensiv, und ich beginne mich unwohl zu fühlen und schaue auf den Boden. Nach einer kurzen Pause fragt er mich, wer ich sei. Ich bin verwirrt, frage was er meint. Er sagt, er kann mich nicht einschätzen. Eigentlich hätte er das Talent, in den Augen der Menschen ihre Geschichte und ihre Gefühle zu erahnen, doch bei mir kann er nichts sehen. Er sieht Trauer, sagt er. Doch er wundert sich, denn sie würde nicht zu so einem schönen Mädchen wie mir passen. Er sagt außerdem, dass ich durch die Klamotten und Schminke wirke, wie ein verletzliches Kind und fragt mich, wie ich darauf käme, mich hinter Make Up verstecken zu müssen. Zuerst sage ich gar nichts, ich weiß, dass er nun eine lange, ausführliche Antwort erwartet. Er will, dass ich von mir erzähle, so wie er gestern Abend von sich, dass ich ihm mein Leben offen lege und mein Vertrauen schenke. Doch wie kann ich ihm vertrauen, wenn ich mir selbst nicht traue? Ich setze zu einer Antwort an, und schweige dann doch. Erneut atme ich ein, und antworte dann, dass ich es nicht wüsste. Er schaut mich fragend an, also ergänze ich, dass ich nicht wüsste, wer ich bin. Mehr hatte ich nicht vor zu sagen, doch ich füge hinzu, dass ich als kleines Mädchen dachte, ich sei eine Prinzessin. Dass mein Vater das immer zu mir gesagt hatte und ich mich jedes Mal sehr darüber gefreut hatte. Dann, als ich kein kleines Kind mehr war, dachte ich, ich wäre ein normales Mädchen in einer normalen Schule mit normalen Freunden. Doch dann, als mein Vater starb, habe ich gedacht, ich wäre eine nutzlose Schlampe und jetzt denke ich gar nichts mehr über mich, ich verurteile mich nur noch.
Sichtlich erschrocken über diese Antwort legt Milan mir seinen Arm über die Schultern, doch ich winde mich aus seiner Umarmung und drehe mich weg. Peinlich berührt schaue ich auf den Boden, Schnee und Schneematsch und einige Fußabdrücke sind dort zusehen, sehr spannend. Er entschuldigt sich und wir schweigen uns an. Schließlich nimmt er behutsam meine Hand in seine, ich ziehe sie nicht zurück, also streicht er vorsichtig darüber. Diese Berührung verursacht ein warmes Kribbeln in der Magengegend. Er fragt, was mit meinem Vater genau passiert ist und ergänzt, dass ich nicht antworten bräuchte.
Ich atme tief ein und nach einer kurzen Überwindung beginne ich die Geschichte zu erzählen. Zuerst zögerlich beginne ich damit, dass Stefan schon immer mehr als ein Vater für mich war, wie ein bester Freund. Milan lächelt und ermutigt mich damit weiter zu erzählen. Ich erzähle ihm von der Wohnung, in der wir zu dritt gewohnt haben, von den Männern, die ohne zu fragen ins Wohnzimmer gegangen sind. Ich erzähle von dem Moment, als der Schuss an den Wänden widerhallte und mein Vater zu Boden fiel. Wie die Männer an mir vorbei nach draußen liefen, wie ich neben meinem Vater kniete und schließlich, wie ich einfach abgehauen bin. Ich gestehe, dass ich weder einen Krankenwagen gerufen habe, noch die Männer von dem Mord abgehalten habe. Ich war nicht für meinen Vater da, obwohl ich weiß, dass er es für mich gewesen wäre.
Stille. Einen Moment lang sagt niemand von uns ein Wort, und erst als Milans kalte Hand behutsam über meine Wange streicht, merke ich, dass ich weine. Zum ersten Mal seit dem Tag an dem mein Vater starb, weine ich. Die Tränen fließen über meine Wangen, aus einer werden zwei und dann immer mehr. Ich kann gar nicht mehr aufhören. Ich lasse mich von Milan in den Arm nehmen, die Situation gerät außer Kontrolle, die Stimme in mir schreit, dass ich das Mitleid nicht verdiene und ich löse mich von Milan, rücke an den äußersten Rand der Bank und flüstere, dass ich Schuld sei.
Milan blickt mich bestürzt an, schüttelt den Kopf, sagt sonst aber nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Das ein Krankenwagen nicht mehr hätte helfen können? Das es eine normale Schockreaktion war? Das ich absolut nicht Schuld bin? Vielleicht hätte er dasselbe sagen können, wie die Therapeuten, doch er hat es nicht getan.
Er zieht mich wieder zu sich, legt meinen Kopf auf seine Brust und streicht behutsam über mein Haar, während die aufgestauten Tränen von all den Wochen langsam seinen Pullover durchnässen.
Nach einer Weile flüstert er, dass mein Vater recht gehabt hat. Ich sei so schön, wie eine Prinzessin. Das Kompliment durchflutet mich, und für einen kurzen Moment fühle ich wieder diesen warmen Stich in der Magengegend. Ich höre auf zu schluchzen, schaue zu ihm hoch, und er lächelt mich ermutigend an. Vorsichtig löst er sich ein wenig von mir und nimmt mein Gesicht in seine Hände. Und dann, ganz langsam, ganz behutsam zieht er mein Gesicht näher zu seinem. So langsam, dass ich es jederzeit verhindern könnte. Doch das tue ich nicht, ich will ihn küssen. Unsere Lippen berühren sich und das warme Kribbeln und stechen in der Magengegend wird zu einem Feuerwerk in meinem Körper. Ich werde vollkommen von diesem Gefühl kontrolliert. Ich bekomme eine Gänsehaut, als aus der hauchdünnen Berührung unserer Lippen ein echter Kuss wird. Langsam öffne ich meine Lippen. Ich bin machtlos gegen all die Gefühle in mir, selbst wenn ich wollte, könnte ich mich jetzt nicht von ihm lösen. Er fasst mit seiner Hand in mein Haar und streicht über meinen Kopf während wir uns immer stärker küssen. Unsere Zungen berühren sich, wir verschmelzen zu einem Individuum und ich vergesse all die Trauer, Schuldgefühle und Suizidgedanken. Es ist egal, dass ich Milan erst seit zwei Tagen kenne, es ist egal, dass er drei Jahre älter ist als ich und es ist egal, dass meine Mutter denkt ich liege krank im Bett. Für mich zählt nur dieser Moment, in dem ich seine Zunge in meinem Mund spüre, seine Lippen auf meinen, Seine Lust und Leidenschaft und das Gefühl begehrenswert zu sein. Ich fühle mich, wie eine Frau, nicht wie ein kleines Mädchen in einem erwachsenen Körper.
Langsam ebbt unser Kuss ab, unsere Lippen berühren sich noch ein zweimal, bis wir uns voneinander lösen und ich meinen Kopf an seine Brust schmiege, seinen wunderschönen, aber immer noch undefinierbaren Geruch einatme und den Moment genieße. Ich weiß, dass ich seinen Geruch kenne, aber woher nicht. Vielleicht habe ich einmal von ihm geträumt, und es vergessen. Das muss wahre Liebe sein.
Langsam geht die Sonne unter, es wird dunkel und kalt. Mittlerweile ist es bestimmt um die neun Uhr. Wir sitzen eng aneinander geschmiegt auf der Parkbank, schweigen uns an und sind glücklich. Ein paar Mal haben wir uns noch geküsst, aber nicht so heftig, wie anfangs. Ich traue mich nicht, ihn zu fragen, ob wir nun zusammen sind oder ob er heute Nacht wieder bei mir schlafen möchte. Ich möchte den Moment unter keinen Umständen zerstören.
Schließlich ist er es, der ein Gespräch beginnt. Er erzählt mir, dass er heute Mittag, nachdem er bei mir verschwunden war, all seine Sachen aus der Wohnung geholt hat und bei einem Kumpel untergestellt hat. Dort darf er auch einige Tage schlafen. Er fragt mich, ob ich dort noch mit hinkommen möchte und ob er sich morgen früh für das Frühstück revanchieren könne. Ich werde unsicher. Geht es ihm nur darum, mich ins Bett zu bekommen? Ich kenne ihn eigentlich ja gar nicht, ich weiß nichts von ihm, und was ich weiß, kann alles gelogen sein. Vielleicht werden er und sein Kumpel mich vergewaltigen, vielleicht wird er von mir Dinge verlangen, die ich nicht will. Vielleicht denkt er ja, wir wären jetzt zusammen und deshalb wäre es normal, wenn wir miteinander schliefen? Ich habe Angst, und obgleich es nur eine einfache Frage von ihm war, fühle ich mich eingeengt und unwohl. Ich sage, dass ich lieber nach Hause gehen würde, weil ich ja morgen Schule habe und dass wir uns SMS schreiben könnten. Er ist einverstanden, gibt mir noch die Nummer von dem Kumpel, indem er sie auf ein Stück Pappe einer Zigarettenschachtel schreibt, und sagt, dass er mich wieder sehen muss. Er nimmt mich in den Arm, gibt mir einen liebevollen Kuss auf die Stirn. Ich gehe auf Abstand, gebe ihm das gekünstelte Lächeln und gehe schnellen Schrittes nach Hause.

Kapitel 5
Zuhause angekommen klettere ich durch das Fenster in mein Zimmer, ziehe meine Klamotten aus und lege mich in mein Bett. Ich bemerke, dass ich Milan seinen Pulli gar nicht wieder gegeben habe, also benutze ich ihn als Kopfkissen. Sein Geruch macht mich traurig. Milan war so lieb zu mir, er hat gesagt ich sei so schön wie eine Prinzessin. Und was habe ich getan? Ihn behandelt, wie all die anderen. Wie all die Therapeuten, wie meine Mitschüler, meine Lehrer und wie meine Mutter. Doch er ist nicht wie all die anderen. Er kann in mich hineinschauen, er versteht, wie ich mich fühle und bei unserem Kuss habe ich ein Glück in mir gespürt, von dem ich nicht wusste, dass ich es noch fühlen kann. Ich kann nicht einschlafen, ich muss immerzu daran denken, wie kalt ich ihn behandelt habe. Als ich auf die Uhr schaue ist es halb zwölf. Ich nehme mein Handy und schreibe Milan eine Nachricht.
Hey. Es tut mir leid, wie ich mich am Ende verhalten habe. Für mich ist das alles sehr neu und ich habe noch so viel zu verarbeiten. Bitte verzeihe mir, denn ich hab dich echt gern. Melanie.
Einige Minuten später halte ich mein Handy in den Händen und starre in der Dunkelheit auf das helle Display, bis es endlich vibriert und eine Kurznachricht ankündigt. Ich öffne sie.
Das ist doch kein Problem, Melanie. Ich verstehe dich. Das Angebot kam wohl anders rüber, als es gemeint war. Entschuldige. Ich würde niemals Dinge machen, die du nicht möchtest. Ich würde dich so gerne sehen. Ich kann nicht aufhören an dich zu denken, meine Prinzessin.
Mein Herz macht einen Satz und schlägt dann einen Ticken schneller als vorher. Was für eine liebe SMS, warum hatte ich vorhin solche Zweifel? So ein Mist, wenn mein blödes Gefühl vorhin nicht so einen Aufstand gemacht hätte, würde ich jetzt in seinen Armen liegen. Ich beschließe, ihm nicht zu antworten und mich einfach zur Seite zu drehen. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Ich quäle mich durch die alten Alpträume, in denen ich jede Nacht aufs Neue Stefans Tod durchlebe und stehe morgens pünktlich auf, um zur Schule zu gehen.
Als ich das große, erdrückende Gebäude betrete, fühle ich mich sofort wieder eingeengt. So, wie gestern Abend von Milans Vorschlag bei ihm zu schlafen. Ich gehe zügig durch den Gang, remple einige kleinere Schüler an und komme schließlich in meinem Klassenzimmer an. Ich betrete es und alle Augen werden augenblicklich auf mich gerichtet. Niemand sagt etwas, niemand wendet sich von mir ab. Es ist eindeutig, dass bis eben alle anwesenden Mitschüler über mich geredet haben, und als ich den Raum dann betreten habe, sind alle gleichzeitig verstummt, in der Hoffnung, ich hätte nichts mitbekommen. Wortlos gehe ich mitten durch den Kreis von mindestens zehn Jugendlichen, mit denen ich einmal befreundet war, und alle gehen einen Schritt zur Seite, sodass ich hindurch passe. Etwa so, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Immer noch ist es absolut still im Raum, also setzte ich mich auf meinen Platz und blättere betont gelangweilt in meinem Heft. Ich kann praktisch hören, was jeder einzelne meiner ehemaligen Freunde gerade denkt. Ich sei eingebildet, hielte mich für etwas Besseres und würde mich deshalb so distanzieren. Natürlich tue ich ihnen leid, weil mein Vater tot ist. Doch niemand kann nachvollziehen, wie das ist. Einige denken sogar, ich sollte mich nicht so anstellen. So zum Beispiel meine ehemals beste Freundin, die, die den Eintrag auf Facebook geschrieben hat.
Ich registriere, dass sie genau in diesem Moment den Raum betritt, dicht gefolgt von ihren zwei neuen Busenfreundinnen. Sie schenkt mir einen abwertenden Blick, betrachtet mich einmal von Kopf bis Fuß und kommt dann zu mir herüber geschlendert. Sie begrüßt mich und damit holt sie sich sämtliche Aufmerksamkeit aller im Raum vorhandenen Menschen ein. Ich schaue zu Boden. Sie fragt mich, ob ich seit Neuestem einen Freund hätte. Ich sage gar nichts. Sie sagt, dass sie gehört habe, wir seien zusammen im Park gewesen. Ich sage gar nichts. Sie lacht und lobt dann, unabhängig von den Fragen davor, mein Outfit und fragt mit ironischem Unterton, wo ich die Hose mit den roten Kreuzen gekauft hätte. Ich sage gar nichts. Doch als sie dann sagt, dass ich genauso hässlich und nutzlos wie man Vater es ist, bin (an dieser Stelle verbessert sie sich und sagt » war «), höre ich auf, auf den Boden zu schauen. Ich schaue ihr direkt in die Augen und drohe ihr dann, wenn sie es jemals wieder wagen würde, etwas Schlechtes über meinen Vater zu sagen, würde sie im Krankenhaus landen. Meine Augen füllen sich mit Tränen, doch zum Glück sieht das niemand. Hohen Hauptes verlasse ich den Klassenraum und begebe mich auf die Toilette. Eingeschlossen in einer Kabine und auf dem Klodeckel hockend beginne ich dann zu weinen. Das zweite Mal, seit „dem Tag“, an dem ich Tränen zeigen kann. Milan scheint den Damm gebrochen zu haben. Wieder denken alle, ich sei stark und mutig, ich sei von mir selbst überzeugt, eingebildet und egoistisch. Wie ich mich wirklich fühle, kann niemand ahnen. Einsam, verlassen, schwach, nutzlos und hässlich, wie meine Exbestefreundin so schön sagte, ungenügend und erbärmlich. Abstoßend, eine Gefahr für die ach so perfekte Gesellschaft, in der wir leben.
Mein Handy vibriert. Ich habe eine SMS von Milan bekommen. Ich wische die Tränen weg und lese die Nachricht.
Hey Prinzessin. Wie geht es dir?
Ich freue mich, kann aber immer noch nicht aufhören zu weinen. Ich antworte.
Ziemlich scheiße.
Nicht mal eine Minute später klingelt mein Handy und Milan ruft mich an. Im selben Moment ertönt der Gong, der den Beginn des Unterrichts anzeigt. Ich ignoriere ihn und begrüße Milan am Telefon mit einem unterdrückten Schluchzen und einem leisen » Hallo «. Er fragt was passiert sei und ich erzähle es ihm. Außerdem ergänze ich, dass ich mich nicht traue, in die Klasse zurückzugehen und nicht weiß, was ich machen soll. Milan schlägt vor, mich jetzt mit dem Auto abzuholen und verspricht, dass wir an einen wunderschönen Ort fahren könnten, der mich aufmuntern würde. Ich freue mich, bejahe und lege auf. Unfassbar, wohin möchte er wohl fahren? Dieses Mal habe ich keine Angst, ich freue mich so sehr einen Ausflug mit ihm zu machen, zu zweit mit ganz vielen Küssen und Schmetterlingen im Bauch. Eilig richte ich mein Make Up und stelle mich vor den Eingang der Schule, um auf Milan zu warten.

Kapitel 6
Ich stehe auf dem Parkplatz der Schule, welcher menschenleer ist, und warte gebannt auf Milan. Ich stelle mir vor, wie er mit einem ziemlich schrottreifen Auto um die Kurve gerast kommt, vor mir stehen bleibt, aussteigt und mich umarmt, mir die Tür aufhält und wir dann zusammen losfahren. Und genauso passiert es dann auch, ein altes rotes Auto, es sieht ein bisschen aus wie aus diesen alten Filmen, quietscht um die Kurve und bleibt genau vor meinen Füßen stehen. Milan steigt aus, strahlt über das ganze Gesicht und nimmt mich in den Arm, gibt mir einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn. Ich lächle, lege zaghaft meine Arme auf seinen Rücken und er drückt mich fester an sich. Ich atme seinen Duft ein, fühle seine Wärme und wieder durchläuft mich ein warmes Gefühl, bleibt im Magen stehen und beginnt dort wohlig zu kribbeln. Er löst sich von mir, begrüßt mich und hält mir die Wagentür auf. Ich frage mich, woher er das Auto hat.
Schon seltsam, einen Tag war ich in der Schule, nach Wochen voller Trauer, und an diesem Tag lerne ich einen wundervollen Jungen kennen. Den Tag darauf gehe ich gar nicht in die Schule und den Tag darauf halte ich nicht einmal bis zur ersten Stunde durch. Und wieder rettet mich dieser wundervolle Junge aus der Verzweiflung. Wieso ist er nicht ein paar Wochen früher aufgetaucht, wieso mag er mich so, wo mich doch sonst niemand mag? Er ist wie ein Engel, aus dem Nichts aufgetaucht und hat mein ganzes, beschissenes Leben auf den Kopf gestellt. Ich frage mich nicht, womit ich das verdiene, ich weiß, dass ich es gar nicht verdiene. Ich bin mir dem so sicher und trotzdem genieße ich es wie Nichts zuvor.
Scheinbar habe ich einige Zeit verträumt aus dem Fenster geblickt, ohne darauf zu achten, wohin wir fahren, denn Milan stupst mich während des Fahrens vorsichtig an und fragt, was los sei. Ich sage, dass es mir gut ginge, dass ich die Sache in der Schule schon fast vergessen hätte und mich nur gerade gefragt hätte, woher er das Auto habe. Er erzählt, dass es nicht seines sei. Er habe es von dem Kumpel geliehen, bei dem er auch schläft und wohnt. Ich frage mich, ob er einen Führerschein hat.
Dann schweigen wir beide, ich weiß nicht, was ich sagen soll, er konzentriert sich auf das Fahren. Ich schaue aus dem Fenster, sehe die Landschaft an uns vorbeiziehen. Die Stadt, in den wir wohnen, haben wir hinter uns gelassen. Neumünster ist die viertgrößte Stadt Schleswig-Holsteins und mit 77.000 Einwohnern schließlich auch nicht ganz klein. Doch ich, und Milan wahrscheinlich auch, wohnen in einem kleineren Stadtteil, am Rande der Stadt, dem so genannten Gadeland. Die Felder ziehen an uns vorbei und mittlerweile ist einige Zeit vergangen. Nach etwas mehr als einer Stunde Fahrt, sehe ich vor uns Wasser, das muss das Meer sein. Ich lächle, denn ich liebe das Meer. Als ich noch Stefans kleine Prinzessin war sind wir oft am Wochenende zusammen ans Meer gefahren, meist nach Travemünde, oder irgendwo dort in der Nähe, haben Camping gemacht und er hat mir den ganzen Abend lang Geschichten erzählt.
Ich frage Milan wo wir sind und er antwortet, wir seien nach Travemünde gefahren. Ich freue mich über diesen Zufall und nehme es als ein Zeichen des Schicksals. Zuerst hat Milan, ohne meinen Vater je gekannt zu haben, „Prinzessin“ zu mir gesagt, genau wie Stefan damals. Und jetzt ist er mit mir nach Travemünde gefahren, genau wie Stefan damals. Die Stimme in mir flüstert, dass jeder zweite Junge sein Mädchen Prinzessin nennt und das Travemünde nun mal der Strand ist, der bei uns am nächsten ist. Doch ich ignoriere diese Stimme und freue mich über mein Glück.
Milan öffnet mir die Tür, nimmt meine Hand und hilft mir aus dem Wagen. Er lässt meine Hand nicht los, als wir über den Parkplatz an den Strand gehen und uns auf einen umgekippten Baumstamm setzten, der einsam am Strand herum liegt und halb ins Wasser ragt. Es ist kalt und windig, deshalb ziehe ich meinen Reißverschluss ein bisschen Höher. Ich trage dieses Mal nicht die Jeans mit den roten Kreuzen und auch nicht die verwaschende Jeans, ich trage eine schwarze Strumpfhose mit Sternen, welche eingestanzt sind in den Stoff, und darüber einen roten Faltenrock. Außerdem trage ich wieder mein schwarzes Kapuzensweatshirt mit einem roten T-Shirt und die Springerstiefel. Seinen Pulli habe ich Milan im Auto wiedergegeben, ansonsten würde er jetzt wohl fast erfrieren. Das Meer ist aufgebraust und die Wellen schlagen gegen das Ufer, wie Zungen, die nach mir schnappen, mich verschlingen wollen. Der Himmel ist von grauen Wolken behangen, aber nach Regen sieht es glücklicherweise nicht aus.
Ich frage mich, wie spät es ist und ob Mama sich schon fragt, wo ich bin, beruhige mich dann aber. Zum Glück habe ich mein Handy im Auto liegen lassen, wo ich es nicht höre, wenn Mama mich anruft.
Milan legt seinen Arm um mich und ich lehne meinen Kopf an seine Schulter. Wir haben eine Zeitlang nichts gesagt, jetzt murmelt Milan, dass er das Meer liebt. Ich sage, dass ich es auch liebe, weil ich mit Stefan immer hier gewesen bin. Und dann sagt Milan, ganz nahe an meinem Ohr, sodass nur ich es hören kann, dass er das Meer zwar liebt, aber nicht so sehr, wie er mich liebt. Ich bin sprachlos, fühle wieder diese Enge um mich, als würde ich in einem sehr kleinen Raum sein. Es schnürt mir den Hals zu, und ohne sagen zu können warum, fühle ich mich plötzlich sehr unwohl in seinem Arm. Ich rücke ein Stück von ihm ab, entschuldige mich.
Wir sind allein an dem Strand, niemand der uns sehen oder hören könnte, unser Auto steht ganz allein auf dem großen Parkplatz. Plötzlich bekomme ich Angst. Ich bin mit einem Jungen, den ich drei Tage lang kenne an einen Ort gefahren, wo mich niemand hören und sehen kann. Ich habe ihm blind vertraut, wegen ein paar lieber Worte. Er könnte jetzt alles mit mir anstellen, was er wollte, ich weiß, dass er stärker ist, als ich. Die Stimme in mir kichert, schreit, dass ich das Schlimmste verdient hätte. Ich weiß, dass es stimmt. Wenn er mich jetzt vergewaltigen würde, so hätte ich das definitiv verdient. Ich schaue traurig in die Richtung, in der Milan mein Gesicht nicht sehen kann.
Er fragt, was los ist und ob er etwas falsch gemacht hätte. Plötzlich komme ich mir dumm vor, was habe ich mir nur dabei gedacht, auch nur eine Sekunde zu denken, Milan könnte mir etwas antun? Er liebt mich, das hat er gesagt. Ich bin seine Prinzessin. Warum kann ich dumme Kuh das nicht einfach genießen? Ich glaube, ich werde paranoid.
Ich schaue ihn an, schenke ihm ein trauriges Lächeln und lege meinen Kopf zurück an seine Schultern. Ich murmle eine Entschuldigung, schmiege mich an seine Brust, atme den Geruch von Zigaretten und noch etwas anderem ein, und eine einsame Träne kullert meine Wangen hinab. Ich halte sie nicht auf. Milan bemerkt es nicht, er kramt in seiner Hosentasche und fördert schließlich einen Ipod zu Tage. Er steckt mir behutsam einen Ohrstöpsel in die Ohren und den anderen benutzt er selbst. Er flüstert, so leise es gegen den Wind geht, dass er mir etwas zeigen möchte, ein Lied, dass ihm in seinem Leben sehr oft geholfen hat, wenn er Menschen vermisst hat, die nicht mehr auf dieser Erde waren. Er streichelt meine Wange und das Lied beginnt. Ich höre in meinen Ohren eine Gitarre, ich weiß, dass ich das Lied schon einmal gehört habe, doch noch nie so bewusst, wie jetzt. Die Gitarre spielt noch einige Takte, bis eine raue, tiefe Stimme beginnt, die erste Strophe zu singen. Es ist die Stimme von Eric Clapton, wie ich nun erkenne, und das Lied heißt » Tears in Heaven «.
Would you know my name
If I saw you in heaven?
Would it be the same
If I saw you in heaven?
Die ersten vier Zeilen verklingen, die Gitarre spielt im Hintergrund eine gleichmäßige Melodie. Das Lied berührt mich, tief in meinem Herzen und eine weitere Tränen findet den Weg meine Wange hinab.
I must be strong
And carry on
'Cause I know I don't belong
Here in heaven
Ich denke über die letzten vier Zeilen einen Moment lang nach, ehe Eric Clapton weiter singt. Die Gitarre spielt die nächsten Takte allein und meine Gedanken schweifen. Ich gehöre nicht in den Himmel, ich muss stark sein, dies hat Eric Clapton in mein Ohr gesungen und die Worte dringen bis tief in mein Herz. Was, wenn er Recht hat? Wenn meine Zeit noch gar nicht gekommen ist? Was, wenn Stefan niemals gewollt hätte, das ich mich für seinen Tod verantwortlich mache? Er ist dort, im Himmel, und ich bin hier unten auf der Erde. Was, wenn ich lernen muss, glücklich zu werden, auch wenn Stefan hierzu nicht mehr die Chance haben wird? Wäre das wirklich egoistisch?
Would you hold my hand
If I saw you in heaven?
Would you help me stand
If I saw you in heaven?

I'll find my way
Through night and day
'Cause I know I just can't stay
Here in heaven
Ich weine nun richtig, Die Worte dringen mir unter dir Haut, öffnen alle Kanäle, die der Schmerz verschlossen hat und lassen den Tränen freien Lauf. Milan hält mich fest in seinem Arm, wiegt uns langsam hin und her, und lauscht mit geschlossenen Augen der Musik. Ob er mitbekommt, dass ich weine? Bestimmt. Eric Clapton singt das, was mir all die Therapeuten gesagt haben, doch ihm glaube ich. » Ich kann einfach nicht bleiben, hier im Himmel «.

Time can bring you down
Time can bend your knees
Time can break your heart
Have you begging please
Begging please

Beyond the door
There's peace, I'm sure
And I know there'll be no more
Tears in heaven
Tränen im Himmel, Tränen auf der Erde. Die Trauer um meinen Vater erfasst meinen ganzen Körper, ich erinnere mich, wie wir hier am Strand waren, wie wir baden gegangen sind und uns gegenseitig nass gespritzt haben. Ich wollte bei jedem Wetter ins Meer, egal wie kalt und windig es war. Ich erinnere mich an die Abende, in denen wir in unserem Zelt saßen und uns Geschichten erzählt haben. Er war mehr als ein Vater, und ich weiß, dass ich diese Momente in meinem Herzen behalten will. Doch vielleicht kann die Zeit mich dazu bewegen, mein Leben auf eine Art trotzdem zu genießen? Vielleicht wird Milan bei mir bleiben, mich für immer in seinen Armen wiegen und mir die Liebe geben, die mein Vater mir nicht mehr geben kann? Vielleicht kann ich selbst entscheiden, ob die Zeit mein Herz brechen wird, oder ob es keine weiteren Tränen im Himmel mehr geben wird? Ich will glauben, dass alles gut werden kann.
Would you know my name
If I saw you in heaven?
Would it be the same
If I saw you in heaven?

I must be strong
And carry on
'Cause I know I don't belong
Here in heaven

'Cause I know I don't belong
Here in heaven
» Weil ich weiß, ich gehören nicht hierher. Hier, in den Himmel. » Ja, weiß ich das? Weiß ich, dass ich nicht in den Himmel gehöre, sondern hier auf die Erde? Verdiene ich vielleicht doch mehr, als den langsamen und qualvollen Tod, den ich für mich vorgesehen hatte? Die Stimme in mir schweigt, sie lauscht genau wie ich und Milan den beruhigenden Klängen des Gitarrensolos, die immer gleiche Takte, die mein Herz erweichen. Das Lied klingt aus, die Gitarre wird leiser und schließlich verstummt sie. Doch der Zauber ist noch lange nicht vorbei. Milan und ich sitzen eng aneinander geschmiegt auf einem einsamen Baumstumpf am Strand, das Meer tobt und die Musik verstummt. Keiner von uns sagt ein Wort, die Musik hat genug gesagt und keiner von uns wagt es, sich zu bewegen, aus Angst, die Magie zwischen uns zu zerstören. Zwischen Milan, mir und der Musik. Und die Tränen hören auf zu fließen, die Trauer um meinen Vater ebbt ab. Vielleicht können die Tränen mit der Zeit wirklich in den Himmel verschwinden, während ich auf der Erde glücklich werden darf. Glücklich, mit Milan.

Kapitel 7
Wir sitzen noch eine ganze Weile so dort, auf dem Baumstamm, der halb ins Wasser ragt, Arm in Arm, bis Milan schließlich die Stöpsel aus den Ohren nimmt, aus denen längst andere Musik tönt. Ich erkenne meine Lieblingsband, » Die Ärzte «, in diesem Moment hören wir das Lied » Schrei nach Liebe «.
(...)
Deine Gewalt ist nur ein stummer schrei nach Liebe
Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit
Du hast nie gelernt dich zu artikulieren
Und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit
(...)
Der Text klingt noch ein wenig in meinem Kopf nach, und ich tue das, was ich bei allen Liedern tue, die ich höre. Ich beziehe den Text auf mich selbst. Für mich ist es wichtig, einen Bezug zu den Gedanken der Songwriter aufzubauen. Ich mag nur Lieder, die genau auf meine Situation passen, egal welche Musikrichtung, ich höre immer zuerst auf den Text.
Milan steckt den Ipod zurück in seine Jeanstasche und nimmt meinen Kopf in seine Hände. Ich denke schon, er möchte mich erneut küssen, doch dann sagt er etwas. Einen Satz, den ich wohl niemals vergessen werde, der mir mein ganzes Leben lang Mut geben wird.
» Vergiss niemals, dass es Menschen gibt, die dich lieben «. Ich bin gerührt. Gerührt von so viel Liebe, die er mir entgegen bringt, so vielen Gefühlen, die in mir auf- und wieder abebben. Ich bin sprachlos. Ich sollte jetzt wohl sagen, dass ich ihn liebe, oder ihn küssen. Doch das kann ich nicht, die Überwindung ist zu groß. Ich habe ihm jetzt schon mehr von mir offenbart, als jedem anderen Menschen auf dieser Welt. Ich bin nicht der Typ Mensch, der viel redet, erst recht nicht von Gefühlen und Gedanken. Wenn ich jemandem mein Herz schenke, laufe ich Gefahr, dass derjenige es bricht. Obwohl es eigentlich sowieso schon gebrochen ist, seit Stefans Tod. Doch das Lied » Tears in Heaven «, hat in mir so viele Gefühle erwacht und ein kleines Pflaster auf mein Herz geklebt. Oder ist es Milans Zuneigung, die mich aus meinem schwarzen Abgrund zieht? Er hat mir seine Hand gereicht, mir aufgeholfen, als mir die Kraft fehlte, selbst aufzustehen. Er hat mir seinen Arm gegeben, an dem ich mich festhalten konnte und seine Liebe, die er mir so sehr zeigt, gibt mir das Gefühl zu fliegen.
Ich bedanke mich bei ihm, ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen könnte. Ich schenke ihm mein ehrlichstes Lächeln und er lächelt genauso ehrlich zurück. Und in diesem Moment begreife ich, dass wir jetzt ein Paar sind. Ich begreife, dass ich ihn das nicht fragen brauche, dass wir es einfach sind, und ich weiß, dass wir beide das wissen. Er flüstert, ich sei sein Mädchen und ich gebe zurück, dass ich das gerne für immer wäre. Mein Leben hat einen neuen Weg eingeschlagen, ohne das ich etwas dagegen hätte machen können, hat dieser Junge, den ich seit genau drei Tagen kenne, mich in eine Richtung geführt, die ich von mir aus niemals eingeschlagen hätte.
Nach einer Weile stehen wir auf und gehen zurück zu unserem Auto. Wir steigen ein und Milan startet den Motor. Ich sehe auf mein Handy, es ist später als ich dachte, der Abend ist schon angebrochen. Ich habe fünf unbeantwortete Anrufe von meiner Mutter. Ich rufe sie zurück, jedoch nicht ohne ein genervtes Stöhnen. Völlig außer sich vor Sorge fragt sie mich, sobald sie abgehoben hat, wo ich denn sei. Ich antworte, dass ich zu einem Mädchen aus meiner Klasse gegangen sei um mit ihr für eine Klassenarbeit zu lernen. Meine Mutter atmet scharf ein, sagt, dass sie wüsste, dass das nicht stimmte. Sie erzählt, dass meine Klassenlehrerin bei ihr angerufen hat und gesagt hat, dass ich sei zwei Tage nicht mehr in die Schule gekommen sei. Scheinbar wollte sie sich nach meinem Wohlbefinden erkundigen. Nun möchte meine Mutter auf der Stelle wissen wo ich gerade bin und da ich keine Antwort weiß, lege ich auf. Sie versucht mehrere Male mich zurück zurufen, doch ich drücke sie weg.
Milan fragt, was los sei und ich erkläre es ihm. Er sagt, dass er nichts dagegen hätte, meine Mutter kennen zu lernen, und dass es für ihn an der Zeit wäre, wenn wir die Beziehung normalisieren würden. Er meint, da ich nun sein Mädchen wäre, würde er auch gern zu meiner Familie gehören. Ich murmele, sodass er es nicht hören kann, was für eine Familie er meine, stimme ihm aber zu. Ich schlage ihm vor, direkt mit zu mir zu kommen, damit ich ihn meiner Mutter vorstellen kann. Er willigt ein.
Wir parken vor unserer Haustür und gehen in den zweiten Stock. Ich drücke den Klingelknopf. Meine Mutter öffnet wenige Sekunden später die Tür, sieht mich und nimmt mich stürmisch in die Arme. Nachdem sie sich erkundigt hat, wie es mir geht, beäugt sie Milan mit einem kritischen Blick und ich erklären, dass ich ihr gerne meinen Freund vorstellen würde. Weiterhin kritisch bittet sie uns beide hinein und wir setzten uns ins Wohnzimmer. Nachdem meine Mutter Tee gekocht hat, setzt sie sich zu uns und ich erzähle ihr von meinem Tag. Was heute Morgen passiert ist, was meine ehemals beste Freundin zu mir gesagt hat und das ich dann aus der Schule geflüchtet bin. Ich erzähle, dass ich den Tag demnach mit Milan verbracht habe. Ich erzähle außerdem, wie ich Milan kennen gelernt habe, lasse aber aus, warum und wann ich ihm Park war, als wir uns trafen. Ich erzähle, dass ich Angst habe in die Schule zu gehen und am Ende sage ich, wie sehr ich meinen Vater vermisse, und dass Milan mir sehr hilft Vieles zu verarbeiten. Meine Mutter und Milan haben die ganze Zeit über still zugehört, Milan und ich sitzen Arm in Arm auf der Couch, während meine Mutter auf dem Sessel sitzt. Noch nie habe ich meiner Mutter so viel erzählt, überhaupt habe ich noch nie so viele Sätze hintereinander gesprochen, seit Stefans Tod. Meine Mutter ist überwältigt, Milan streicht mir liebevoll über das Haar und lächelt mich an. Dann nimmt er seine Tasse und trinkt als erster von uns einen Schluck Tee, während meine Mutter immer noch schweigt.
Nun holt sie einen Moment tief Luft und antwortet dann, dass sie gern allein mit mir sprechen würde. Ich bin verblüfft, ich hatte vieles erwartet, aber nicht das. Ich entgegne, dass ich keine Geheimnisse vor Milan habe, doch meine Mutter bittet Milan nun ziemlich aufgebracht, ihre Wohnung sofort zu verlassen. Ich frage mich, was sie auf einmal hat und bin ein kleinwenig sauer auf sie. Doch Milan verlässt kommentarlos die Wohnung.

Kapitel 8
Meine Mutter und ich setzten uns wieder ins Wohnzimmer, ich bin mittlerweile stinksauer. Ich habe mich meiner Mutter geöffnet, wie ich es vor Milan bei keinem Menschen getan habe, und sie schmeißt meinen Freund auf so unhöfliche Weise heraus. Unfassbar. Ich fühle mich sehr allein. Als wir wieder sitzen, gibt meine Mutter mir den Tee und ich trinke die ganze Tasse auf einmal aus, und stelle sie etwas zu heftig zurück auf den Tisch. Meine Mutter schaut mich deswegen tadelnd an. Keine von uns sagt ein Wort. Schließlich halte ich das nicht mehr aus und fauche ihr ins Gesicht, wie sie dazu käme, meinen Freund rauszuschmeißen. Sie guckt traurig, fast besorgt. Und dann bittet sie mich ruhig zu sein und einen Moment zuzuhören. Ich halte inne. Sie erklärt mir, dass sie sich nach meiner anfänglichen Erzählung sehr für mich gefreut habe, dass sie in meinen Augen gesehen habe, dass ich so etwas wie Freude empfunden habe, und wahre Liebe gefühlt habe. Sie sagt weiterhin, dass sie es sehr lieb von mir fand, dass ich mich ihr so geöffnet habe und sie scheint bemerkt zu haben, wie sehr ich Milan liebe. Das ist alles sehr lieb von ihr, doch dann erklärt sie mir, warum sie Milan letztendlich rausgeworfen hat. Sie sagt, dass sie Milan dabei beobachtet hat, wie er sich seinen Tee vom Tisch nahm, und dabei sei sein Pullover hoch gerutscht. Ich schaue verwirrt, schließlich ist das nicht weiter unnormal. Doch dann erzählt meine Mutter, dass sie auf Milans rechtem Arm eine Tätowierung gesehen habe und diese sehr beunruhigend fand. Es handelte sich um eine schwarze 88. Ich halte inne, werde unruhig. Das kann nicht sein! Ich frage meine Mutter ob sie sicher sei, und sie bejaht. Jeder hier in Neumünster weiß, was die 88 bedeutet. Und hier im Gadeland weiß es erst Recht jeder. Die Zahl 88 steht für den achten Buchstaben im Alphabet, für das „H“. „88“ bedeutet also soviel wie „HH“, und das lässt sich zurückführen auf „Heil Hitler“. Es gibt hier auch einen sehr bekannten Club, namens „Club 88“, welcher ein bekannter Neonazitreffpunkt ist. Sollte meine Mutter Recht haben, ist Milan demnach ein Neonazi. Ich überdenke das einen Moment, Milan hat lange schwarze Haare. Nazis haben meist kurze- oder gar keine Haare. Milan ist zuvorkommend und lieb, von Nazis denke ich das Gegenteil, obwohl ich mich kaum damit auskenne. Milan ist in mich verliebt und ich in ihn, so etwas hätte er vor mir doch niemals verschwiegen?
Ich erkläre meiner Mutter, dass das nicht sein kann, dass sie sich geirrt hat und beende kurzerhand die Unterhaltung. Warum gönnt sie mir mein Glück nicht? Warum macht sie Milan so schlecht? Meine Mutter versucht auf mich einzureden, dass diese Szene kein Spaß sei, dass Nazis unberechenbar sind und ich den Kontakt zu Milan auf der Stelle abbrechen soll.
Ich gehe in mein Zimmer, knalle die Tür hinter mir zu und schließe sie ab. Dann setzte ich mich auf mein Bett und krame mein Handy aus den Taschen meiner Jacke. Aufgewühlt durchsuche ich das Adressbuch nach Milans Nummer, ich muss Gewissheit haben.
Ich habe seinen Namen im Adressbuch entdeckt und rufe ihn an. Es tutet lange Zeit, aber Milan nimmt nicht ab. Schließlich lege ich auf. Ich schreibe keine SMS, diese Sache möchte ich persönlich klären.
Ich überlege, was ich jetzt tun könnte. Ich bin so traurig, so enttäuscht. Auch wenn ich meiner Mutter nicht glaube, bin ich enttäuscht von Milan, auf eine Art, die ich im Moment nicht versteh. Vielleicht, weil er nicht an sein Handy geht? Ich bin enttäuscht von meiner Mutter, weil sie mir meine erste große Liebe kaputt macht, aber am meisten enttäuscht bin ich von mir selbst. Ich fühle mich schuldig, an allem. In mir befindet sich ein großes, dunkles Loch. Man kann es nicht sehen, aber ich spüre wie es sich ausbreitet, und irgendwann wird es mich von innen verschlingen. Mit diesem Loch verbunden ist Schmerz, ein Stechen. Ausgehend von meinem Bauch, sticht es weiter, bis schließlich mein ganzer Körper schmerzt. Ich fühle mich nutzlos und schwach, also lege ich mich auf mein Bett und starre, mal wieder, an die weiße Decke. Mein Körper fühlt sich an, als gehöre er nicht mehr zu mir, meine Gedanken kreisen über mir und fast kann ich mich selbst von oben sehen, wie ich dort liege und verzweifle. Ich sollte die Decke schwarz streichen, denke ich.
Plötzlich fällt mir die Nummer ein, die Milan mir gegeben hat. Die Nummer von seinem Kumpel, bei dem er zurzeit wohnt. Vielleicht kann ich dort anrufen, vielleicht ist Milan dort und vielleicht habe ich dann endlich die Gewissheit, dass Milan mich nicht belogen hat? Ich krame erneut in meiner Jackentasche und finde das abgerissene Stück einer Zigarettenschachtel, auf der eine Nummer steht. Mit zittrigen Fingern tippe ich die Zahlen auf dem Touchdisplay und das Freizeichen erklingt.
Nach wenigen Sekunden nimmt jemand ab und begrüßt mich, indem er schlicht und einfach fragt, was es gäbe. Ich erkläre, dass ich Melanie heiße und eine Freundin von Milan bin. » Ach, die. « entgegnet mein Gesprächspartner und stellt sich als Ralf vor. Von Ralf erfahre ich, dass Milan vor einigen Stunden weggegangen sei und nicht erzählt hat, wohin er will. Seinen ganzen Kram habe er aber da gelassen, und daraus schlussfolgert Ralf, dass er demnächst wiederkommen wird. Er notiert sich meinen Namen und meine Nummer, und verspricht, Milan Bescheid zu geben, dass ich angerufen habe.
Ich lege auf. Und jetzt? Was soll ich tun? Ich möchte Milan wieder sehen, es gibt Nichts auf dieser Welt, was ich mehr möchte. Ich möchte aus seinem Mund hören, dass er kein Nazi ist und dass er mich liebt. Denn ich weiß, dass das die Wahrheit ist.

Kapitel 9
Lange Zeit liege ich auf meinem Bett und lasse mich von meinen Gefühlen innerlich auffressen. Mein Körper pustet sich auf wie ein Luftballon, mal wieder. All die Angst, der Druck, die unbeantworteten Fragen und Gefühle in mir, blasen mich auf, sodass ich das Gefühl habe, gleich zu platzen. Ich muss etwas dagegen tun und da ich von allein scheinbar nicht platzen werde, hole ich die Rasierklinge unter meinem Bett hervor. Das Handtuch breite ich wie immer auf meinen Oberschenkeln aus. Ein Schnitt. Ein Lächeln. Das Blut fließt. Der Druck minimiert sich.

Mein Handy klingelt. Ich nehme ab. Milan begrüßt mich mit seiner rauchigen Stimme und sagt, dass er mich sehen möchte. Dass er mich vermisst und ich ihm erklären solle, was vorhin los war. Ich frage ihn, wo er gerade ist und er antwortet, er säße auf unserer Bank im Park. Also klettere ich über das Dach und den Apfelbaum und laufe erneut die Straße entlang in Richtung Park. Meine kaputten Schuhe hallen auf dem Asphalt wieder. Dort angekommen sehe ich Milan auf unserer Bank sitzen. Ich setze mich wortlos neben ihn, er bemerkt es und will mich in den Arm nehmen, aber ich lasse es nicht zu. Völlig verwirrt fragt er mich, was los sei. Statt ihm zu antworten nehme ich seine Hand, schiebe seinen Pullover ein Stück hoch und lege seinen rechten Arm frei. Und dort ist sie, die Tätowierung. Ich atme scharf an, rücke ein großes Stück von Milan weg und schaue ihn fragend an. Ich will das nicht wahrhaben, es muss hierfür eine Erklärung geben. Milan sieht mir tief in die Augen, und sagt etwas, ganz langsam und ganz deutlich, so, als wäre ich schwerhörig. » Melanie, schau in meine Augen. Glaubst du das wirklich? Bloß weil deine Mutter das sagt? Melanie, Ich liebe dich «, mein Herz will dahin schmelzen, doch mein Verstand hält es davon ab. Ich bitte ihn, es mir zu erklären. Er erzählt mir, dass er früher in dieser Szene zu tun hatte, dass er Kumpels hatte, welche sehr aktiv dort waren. Einige Monate war er dort Mitglied, doch dann lernte er seine Ex-Freundin kennen, zog bei ihr ein und entfernte sich von dem Ganzen. Merkte, wie falsch das alles ist. Doch die Tätowierung lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Ich denke mir, dass das plausibel klingt und lächle ihn an, entschuldige mich für mein Misstrauen.
In diesem Moment beginnt es, wie aus Eimern zu regnen. Milan grinst mich durch den Regen an und fragt, ob ich heute mit zu ihm kommen wolle. Ich grinse zurück und nicke. Er nimmt meine Hand und wir laufend lachend durch den Regen, springen in Pfützen und kommen wenige Minuten später völlig durchnässt in seiner Wohnung an. Milan drückt den Klingelknopf, sein Freund öffnet die Tür. Er schaut uns lachend an und bittet uns herein, macht uns warmen Kakao und gibt uns Decken. Wir kuscheln uns auf das Sofa. Kurze Zeit später verabschiedet sich Milans Freund Ralf und wir sind allein. Wir trinken unseren Kakao (ich bin sehr besorgt über die Kalorien) und Milan streicht behutsam über mein Haar. Ich schaue Milan an und bemerke in diesem Moment, dass ich mein Handy nicht finden kann. Milan vermutet, dass ich es wohl im Park beim „durch die Pfützen springen“ verloren habe und ich sage, dass meine Mutter mir sowieso ein Neues kaufen wird.
Ich schmiege meinen Kopf an Milans Brust, fühle seine Wärme, atme seinen Duft ein, und erschrecke schlagartig. Mein ganzer Körper spannt sich an, alle Sinne stehen auf Alarmbereitschaft. Dieser undefinierbare Duft, der plötzlich gar nicht mehr so undefinierbar ist, sticht in meiner Nase. Milan richtet sich auf, legt die Decke beiseite und lächelt mich an, fragt was denn los sei. Ich stehe auf, will die Wohnung ohne zu zögern verlassen und sofort vergessen, was mein Gedächtnis mir eben gezeigt hat. Ich sage, dass ich gehen möchte, stehe auf und gehe zur Tür. Sie ist verschlossen. Ich bitte Milan aufzuschließen und gebe mir die größte Mühe, beherrscht zu klingen. Milan kramt in seinen Taschen und gibt zerknirscht zu, dass er keinen Schlüssel besäße und wir wohl auf seinen Kumpel warten müssten.
Ich schreie. Ich beginne aus vollem Halse um Hilfe zu schreien, werde panisch und total hysterisch, schlage mit meinen Händen gegen die verschlossene Tür, will sie gewaltsam aufmachen, doch sie regt sich nicht. Milan will mich von hinten umarmen, fragt, was in mich gefahren sei, doch ich stoße ihn von mir. Ich schreie ihn an, dass er meinen Vater ermordet hätte und schlage ihm so heftig ins Gesicht, dass seine Nase blutet und er am Boden liegt. Er sieht plötzlich unendlich traurig aus. Ich halte inne. Milan steht auf, hebt beschwichtigend die Hände und bittet mich, ihn einen Moment reden zu lassen. Er gibt es zu, sagt, dass es stimmt, dass er meinen Vater ermordet hat. Er versucht mir zu erklären, dass es notwenig war, weil mein Vater angeblich in die Neonazi Szene reingerutscht war und dafür bezahlen musste, den „Chef“ dieser Szene vor Gericht gebracht zu haben. Weiterhin erzählt Milan, dass er dann damit beauftragt wurde, ihn umzubringen. Er sagt, er habe meinen Vater nicht einmal gekannt, doch in dieser Gemeinschaft hilft jeder jedem. Ich bin fassungslos, will mir das nicht länger anhören, will, dass dieser Alptraum ein Ende hat und schlage erneut gegen die Tür. Nichts geschieht. Warum hören mich die Nachbarn nur nicht? ich verfluche, dass ich mein Handy verloren habe. Milan schaut mich an, mittlerweile sieht er ziemlich gestört aus und ich habe Angst. Ich habe noch mehr Angst, als an dem Tag, an dem mein Vater starb. Milan stößt mich zurück ins Wohnzimmer, auf das Sofa, auf dem die zerknüllte Decke von eben noch liegt und sagt, dass er mich liebt. » An dem Tag, als ich bei euch klingelte und du die Tür öffnetest, habe ich das erste und einzige Mal an der Richtigkeit meiner Tat gezweifelt. Die Gewissheit, einem Mädchen wie dir den Vater zu nehmen, ließ mich nicht kalt, ohh nein! Doch, weißt du, Melanie, weißt du, warum ich es trotzdem getan habe? Weil es sich gut anfühlt. Die Macht über deinen Vater zu haben, hat sich so unendlich gut angefühlt. Wie er dort wehrlos am Boden lag. Als ich bemerkte, dass du alles beobachtet hattest, bekam ich Panik und flüchtete. Doch von diesem Tag an konnte ich nicht mehr aufhören, an dich zu denken. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir vorstellte, wie du leidetest. Also begann ich, dich zu beobachten um herauszufinden, wie es dir geht. Ich fand heraus, dass es dir ziemlich Scheiße ging, also habe ich vor vier Tagen meine Hand auf deine Schulter gelegt, auf unserer Bank im Park, und somit endlich Kontakt zu dir aufgenommen. Es tat gut, dir meine Liebe zu gestehen, Melanie «.
Ich war gelähmt vor Angst, kauerte auf diesem Sofa und lauschte Milans kranken Erzählungen. Wie konnte sich binnen Minuten alles so sehr verändern? » Melanie, Ich will dich. Ich will dich glücklich machen, immer und überall, doch wenn du dies nicht zulässt, dann muss ich es dir aufzwingen. Willst du das etwa? « Milan kommt näher, flüstert mir diese Worte ins Ohr und öffnet den Reißverschluss meines Sweatshirts. » Bist du nicht glücklich, wenn ich bei dir bin, Melanie? Ist es nicht herrlich, wie ich dich begehre? Dein Vater war mir unterlegen, Prinzessin, und du bist es auch. Ich wusste alles! Dass ihr beide immer zusammen nach Travemünde gefahren seid, dass er dich Prinzessin nannte. Ich habe mich gründlich informiert, bevor ich dir begegnete. Ist das nicht alles perfekt gelaufen, kleine Melanie? «. Ich zittere. Der undefinierbare Geruch, der mir schon in die Nase stieg, als Milan am Todestag meines Vaters an mir vorbei lief, sticht in meiner Nase. Mir wird übel und ich übergebe mich. Milan ignoriert das Erbrochene neben mir auf dem Sofa, zerrt an meinem Topp, öffnet gewaltsam meine Hose, bis ich schließlich in Unterwäsche dort liege, immer noch gelähmt vor Angst. » Wie dünn du bist, kleine Melanie. Und wie schön. Du bist das wundervollste Mädchen, dass ich je kennen gelernt habe, Prinzessin «. seine Stimme ist ganz nah an meinem Ohr und von dort an, beginnt er mich am Hals zu küssen. Erst nur am Hals und später überall. Ich ertrage das nicht, mein Körper krampft sich zusammen und ich wünsche mir nichts mehr, als zu sterben.

Epilog
Als ich den Friedhof betrete und vor dem Grab auf die Knie gehe, klingelt mein Handy. Ich drücke den Anruf weg und gebe mich ganz meiner Trauer hin. Nun sind schon drei Jahre vergangen seit ich die Liebe meines Lebens ermordete. Immer noch weiß niemand, dass ich es war. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Ich sehe den Tag, der ihr Letzter gewesen sein sollte, noch vor mir, als wäre es gestern gewesen. Das Sofa, die leeren Kakaotassen, das Erbrochene auf der zerknüllten Decke. Die Klamotten auf dem Fußboden und das dünne, nackte Mädchen hysterisch schreiend und um sich tretend. Ihre nackten Brüste und ihre Rippen, welche man deutlich erkennen konnte, weil sie so dünn war. Ihr langes, braunes Haar. Meine Erektion. Das Messer in meiner Hand, dann dass Messer in ihrem Herz. Das Blut überall und dann meine Flucht durch den strömenden Regen.
Drei Jahre trauere ich schon und nun weiß ich, wie es ihr damals ging. Was für einen Schmerz es ihr bereitet haben muss, dass ihr Vater tot war. So wie es mir Schmerz bereitet, wenn sie tot ist. Und die Schuld lastet auf mir, wie ein großer, schwerer Stein. Während ich die Rose auf ihr Grab lege, klingelt erneut mein Handy. Als ich den Anruf annehmen will, tippt mir jemand auf die Schulter. Die Frau will wissen was ich am Grab ihrer Tochter zu suchen habe. Vor Schreck lasse ich das Handy fallen, beachte es aber nicht weiter und laufe davon. Aus dem Augenwinkel sehe ich wie die Mutter behutsam das Handy ihrer Tochter aufhebt und in Tränen ausbricht.
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