Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 07.02.2024, 09:24   #1
kofski
abgemeldet
 
Dabei seit: 01/2024
Beiträge: 378


Standard TRUE CRIME GRIMM - Der dumme Iwan

TRUE CRIME GRIMM
- der Podcast -

Folge 4: Der dumme Iwan, die schöne Wassilissa und Kostja, der Unsterbliche

Herzlich willkommen zu True Crime Grimm. Wie immer mit mir, mein Name ist Walburga Grimm und ich bin Gerichtsreporterin. Vorab eine kleine Warnung: In diesem Podcast geht es um Gewalt gegen Kinder, oder in diesem Fall gegen Jugendliche, und wenn Sie ein sensibler Mensch sind, schalten Sie bitte aus und lesen Sie ein Märchenbuch.

Der heutige Fall spielt im Spätaussiedler-Millieu und ich habe ihn ausgesucht, weil das Thema Jugendstrafrecht viele interessiert und mir vorgeworfen wurde, dass ich nicht über kriminelle „Ausländer“ berichten würde.

Iwan R. war zur Tatzeit, 2019, erst sechzehn Jahre alt. Zur Last gelegt wurde ihm die Tötung des Rentners Kostja M., der achtundneunzig Jahre alt war, aber immer noch sehr rüstig. Er führte sogar den Beinamen „der Unsterbliche“.
Das Gericht ging von einem Mord aus, weil Iwan die Tat geplant hat. Er hat auch viel improvisiert, aber es gab zwei erfolglose Mordversuche, ehe die Tat gelang.
Iwan hätte von seinem Vorhaben zurücktreten und einfach die Polizei rufen können. Aber er misstraute den Behörden.

Zuerst ein paar biografische Fakten: Iwan R. hat eine Lernbehinderung und ist der jüngste von drei Brüdern einer Spätaussiedler-Familie. Er und der mittlere Bruder wurden in Deutschland geboren, seine Eltern kamen mit dem ältesten Bruder 2001 aus Sankt Petersburg in die Bundesrepublik und zogen nach Berlin, wo schon mehrere Verwandte des Ehepaares lebten. Der Vater ist Mathematiklehrer und arbeitet als Kraftfahrer. Die Mutter war in Russland wohl auch Lehrerin, später Verkäuferin, aber da sie schon 2012 verstarb, ließ sich das nicht mehr richtig rekonstruieren. Der Prozess fand 2020 statt.

Zum Tathergang: In der Nacht vom ersten zum zweiten Juli 2019 drang der unbewaffnete Täter in die Wohnung des Rentners ein, weil er vermutete – und das vermutete er richtig – dass dieser Rentner seine seit Herbst 2018 verschwundene Schulfreundin Lissa T. entführt hatte und als Sexsklavin hielt. Iwan versteckte sich in der Wohnung auf einem Hängeboden und beobachtete Kostja einige Tage lang. Der Rentner verließ einfach seine Wohnung nicht, er schlief nur wenige Stunden täglich und hatte einen leichten Schlaf. Es gab außerdem einen Pflegedienst, der dreimal täglich vorbei schaute und der auch Einkäufe erledigte. Iwan hatte unglaubliches Glück, dass er nicht entdeckt wurde, denn er musste ja auch essen und auf die Toilette gehen.

Machen wir mal einen kurzen Exkurs zur Vorgeschichte des Mädchens: Kostja hatte im November des vergangenen Jahres, 2018, die Schülerin Lissa T. Unter einem Vorwand in seine Wohnung gelockt. Aus seinen Tagebüchern ging hervor, dass er sich Hals über Kopf in das hübsche Nachbarsmädchen verliebt hatte und ihr schon eine Weile nachstellte. Lissa hatte sich gegen die Annäherungsversuche gewehrt, aber ihre Eltern hatten sie gebeten, nett zu dem älteren Herrn zu sein, weil sie ihm Geld schuldeten. Auch ihre Eltern und natürlich auch Kostja, der Unsterbliche, stammen aus Russland, aus der Gegend um Sankt Petersburg.

Nachdem Kostja das Mädchen entführt hatte, brachte er sie in eine zum Kerker umgebaute Abstellkammer von etwa 2m² Größe und kettete sie fest. Der Raum hatte kein Fenster und war mit Eierverpackungen schallisoliert. Kostja erklärte Lissa, dass ihre Eltern sie ihm verkauft hatten, weil sie Schulden hatten, und sie glaubte ihm, denn das Verhältnis zu ihren Eltern war nicht sehr gut.
Lissas Eltern waren in Russland hoch angesehene Leute gewesen und hatten sie wie eine Prinzessin behandelt, aber das änderte sich mit dem Umzug nach Deutschland 2014. Der Vater hatte sich verspekuliert, fand auch anfangs keine Arbeit, war es nicht gewohnt, hart zu arbeiten und lieh sich Geld, um im Casino ein neues Vermögen zu machen, was natürlich misslang.

Darum musste die ganze Familie arbeiten – Lissa hatte noch zwei ältere Schwestern, die wurden von der Schule genommen und arbeiten geschickt. Das Geld mussten alle beim Vater abliefern, der es wieder sofort verzockte und er trank auch gern.
Auch Lissa musste neben der Schule her arbeiten, sobald sie 14 war. Darum kam es oft zum Streit und Lissa wurde rebellisch. Einige Male war sie schon von Zuhause weg gelaufen. Die Polizei glaubte darum, dass das wieder der Fall sein könnte. Darum wurde nicht richtig nach ihr gesucht, obwohl sie mindestens genau so hübsch war, wie das gephotoshoppte Bild von Rebekka R.

Iwan und Lissa waren sich in der Schule näher gekommen. Beide besuchten die Förderschule, denn Lissa ist derart kurzsichtig, dass sie als sehbehindert gilt. Dennoch wurde sie als fröhlich, offenherzig und empathisch beschrieben. In ihrer Klasse war sie sehr beliebt und sie kann jedes Lied, das sie einmal gehört hat, auf dem Klavier nachspielen. Sie konnte auch sehr gut singen und wie erwähnt, ist sie sehr hübsch. So kam es, dass auch Iwan sich in sie verliebte, was ihrem Vater aber nicht recht war, denn seine Töchter sollten reiche Männer heiraten und keine geistig behinderten Jungs aus der unteren Mittelschicht.

Iwan war aber schlauer als gedacht, denn Lissa hatte ihm von Kostja und seinem zudringlichen Verhalten berichtet und das weckte natürlich seine Eifersucht. Darum wandte er sich im Dezember 2018 an die Polizei, die ihn aber wieder weg schickte.
Kostja wurde zwar von der Polizei befragt, aber es gab keinen Grund, seine Wohnung zu durchsuchen und die Vorstellung, dass ein fast Hundertjähriger ein Mädchen entführen würde, um es als Sexsklavin zu halten, erschien den Ermittlern absurd.

Iwan beobachtete den Rentner und stellte fest, dass dieser ab Anfang Juni 2019 seine Wohnung nicht mehr verließ und dass ein Pflegedienst kam. So kam ihm die Idee, bei Kostja einzubrechen und er bereitete sich sehr gut vor und stieg ein, als Kostja gerade von einem Besuch des Pflegedienstes abgelenkt war. Cleveres Bürschlein.
Schon am ersten Abend stellte Iwan fest, dass der Rentner keineswegs gebrechlich wirkte, sondern nur ein wenig hinkte. Außerdem entging ihn nicht, wie Kostja jede Nacht in der Abstellkammer verschwand, die mit mehreren Schlössern gesichert war.
Iwan hörte Stimmen aus der Kammer und meinte, die seiner Freundin Lissa zu erkennen. Nun hätte er die Polizei rufen können, aber die hatten ihn ja schon einmal weg geschickt, hatten also in seinen Augen nichts unternommen, obwohl das nicht so ganz stimmte. Außerdem hat Iwan den geistigen Stand eines etwa 10-jährigen.

Ein ziemlich pfiffiger 10-jähriger, würde ich sagen, denn nach drei oder vier Tagen auf dem Hängeboden beschloss er, sich Kostja zu zeigen und zu behaupten, dass er ein Engel sei und Gott ihn geschickt habe, um Kostja in den Himmel zu begleiten. Der alte Mann glaubte ihm das sogar, er wollte aber noch nicht sterben. Iwan sagte nun, dass er dem Rentner noch einige Jahre Aufschub gewähren würde, wenn Kostja ihm sein größtes Geheimnis mitteilt. Kostja bat sich Bedenkzeit aus.

Kostja war nicht ganz so leichtgläubig, wie Iwan dachte. Er bemerkte, dass Essen verschwand und er viel mehr Toilettenpapier verbrauchte als sonst. Iwan konnte kein Engel sein. Da beschloss er, Iwan mit in die Kammer zu sperren. Er wollte ihn hineinlocken, indem er ihm Lissa für sexuelle Handlungen anbot. Und wieder war Iwan klüger als gedacht, denn er sagte, dass er als Engel keinen Sex haben dürfe, sonst würde er sterblich werden. Bei dieser Gelegenheit erkannte Lissa ihren Schulfreund Iwan und fasste wieder neuen Lebensmut. Das hat sie später bei der Verhandlung sehr ausführlich und emotional geschildert.

Iwan hatte beschlossen, Kostja umzubringen. Wie erwähnt war der alte Mann sehr rüstig, ehemaliger Ringer, eins neunzig groß und hundert Kilo schwer. Iwan war nur knapp eins fünfundsechzig und hätte bei einem Kampf wohl den kürzeren gezogen. Kostja war auch bekannt dafür, dass er zur körperlichen Gewalt neigte und nie eine Schlägerei verlor.
Der erste Mordanschlag erfolgte am 6. Juli, als Iwan seinem Widersacher Rohrreiniger in den Kaffee mischte. Kostja trank diesen Kaffee, übergab sich dann und weiter geschah nichts.
Der zweite Mordversuch erfolgte am nächsten Tag, diesmal gab Iwan Reinigungsalkohol in die Wodkaflasche des Rentners, aber der Rentner hatte den Wodka nur als Dekoration und trank nie davon. Er war ein Gesundheitsfanatiker.

Iwan wollte nicht mehr warten und beschloss, den Rentner zu erschlagen. Als Tatwaffe wählte er einen Schürhaken und er ging wirklich sehr brutal vor, als er Kostja tötete, der eingeschlafen war und nicht schnell genug reagieren konnte. Anschließend befreite er Lissa, gab sich am Telefon als Enkel aus und sagte dem Pflegedienst ab und er begann, die Leiche zu zerstückeln. Lissa wollte die Polizei rufen, daraufhin bedrohte Iwan sie und sperrte sie wieder in die Abstellkammer.

Dadurch kommt nun einiges zusammen: Mord, Nötigung, Freiheitsberaubung. Auf ihr Bitten hin ließ er Lissa am Abend des neunten Juli erneut frei, drohte aber damit, sie zu schlagen, wenn sie ihm nicht half. Also ließ die junge Frau sich darauf ein.
Lissa war übrigens zur Tatzeit erst fünfzehn und sie war vierzehn gewesen, als Kostja sie entführt hatte. Sie war traumatisiert und verängstigt und wahrscheinlich wurde sie deshalb nicht wegen Beihilfe oder ähnlichem angeklagt.
Es gelang ihr schließlich, Iwan zu überreden, sich zu stellen. Der Verwesungsgeruch war inzwischen unerträglich geworden und Iwan hatte keine Ahnung, wo er die Leichenteile verstecken sollte. Etwas ungeplant also, aber dennoch ganz klar Mord.

Die Polizei kam dann auch und nahm die beiden Jugendlichen in Gewahrsam. Lissa wurde nach einigen Tagen entlassen und wird seitdem psychologisch betreut.
Wegen Corona hat sich der Prozess ein bisschen verzögert. Verhandelt wurde vor der Jugendstrafkammer. Die verminderte Intelligenz des Täters wurde strafmildernd bewertet, auch die Tatsache, dass er Lissa ursprünglich befreien wollte. Trotzdem stellte das Gericht keine Schuldunfähigkeit fest. Iwan wusste ganz genau, dass ein Mensch sterben kann, wenn man ihn mit einem Schürhaken auf den Kopf schlägt. Vermindert schuldfähig und schuldunfähig sind verschiedene Sachen, Jugendliche und Heranwachsende auch.

Ich hole jetzt ein bisschen aus, man unterscheidet zwischen Jugendlichen, die noch keine 18 sind, und Heranwachsenden, das sind Menschen zwischen 18 und 21. Unter 14 geht man sogar straffrei aus. Ausschlaggebend ist nicht das Alter des Täters zum Zeitpunkt der Verhandlung, sondern zur Tatzeit. Da war doch neulich mal ein Fall mit einem inzwischen fast hundertjährigen Aufseher aus Auschwitz, der zur Tatzeit erst 20 gewesen war und darum nach Jugendstrafrecht verurteilt wurde. Den Fall muss ich mal raussuchen, da habe ich mich wirklich gefragt, was das jetzt noch bringen soll. Aber darüber sprechen wir ein anderes Mal.

Kommen wir lieber zum Mord im Jugendstrafrecht. Da bekommt man nicht 25 Jahre, sondern maximal 10 Jahre Haft. Bei Heranwachsenden sind es maximal 15 Jahre.
Bei Jugendlichen wird immer Jugendstrafrecht angewendet, bei Heranwachsenden nur, wenn die Betreffenden noch nicht die sittliche und geistige Reife von Erwachsenen erreicht haben.
Am Ende wurden es acht Jahre für Iwan, mindestens sechs muss er absitzen. Das klingt nicht viel für einen Mord, besonders unter diesen Umständen. Ist aber relativ viel, wenn ich mir andere Urteile so anschaue.

Warum aber gibt es Jugendstrafrecht auch in besonders schweren Fällen wie Mord? Was hat sich der Gesetzgeber dabei gedacht?
Bei Jugendlichen ist das Gehirn noch nicht voll entwickelt und es besteht eine große Chance, die Täter nach Verbüßung der Strafe zu rehabilitieren. Außerdem wären die überfüllten Gefängnisse noch überfüllter, wenn jede Jugendsünde mit der vollen Härte des Gesetzes bestraft werden würde.
Wenn wir jetzt an den Fall Marcel Heße denken, der erst 19 war, könnte man sich fragen, warum dort kein Jugendstrafrecht angewendet wurde. Der Grund hierfür ist die Täterpersönlichkeit.

Iwan war erst sechzehn. Selbst, wenn er 19 gewesen wäre, hätte man bei ihm wahrscheinlich Jugendstrafrecht angewendet, denn er ist eigentlich ein netter, hilfsbereiter Junge, der Unrecht nicht leiden kann. Er ist sehr beliebt bei allen, die ihn kennen, eben weil er so ruhig und gerechtigkeitsliebend ist. Iwan hatte auch keine richtigen Vorstrafen, einmal hatte er ein Mofa geklaut und es wieder zurückgestellt, einmal hatte er eine Nachbarin mit einer Milchtüte beworfen – er neigte eben zu Streichen und Schabernack und hat ein kindliches Gemüt.
Dazu kam, dass ihm der Mord an dem Rentner im Nachhinein sehr leid tat. Er weinte im Gerichtssaal. Man hatte wirklich den Eindruck, dass er noch sehr kindlich dachte und handelte. Er zeichnete während der Verhandlung Blumen und Tiere. Wenn man so einen 25 Jahre weg sperrt, tut man der Gesellschaft nichts Gutes.
Unser Strafsystem ist auf Rehabilitation und nicht auf Abschreckung ausgerichtet, anders als zum Beispiel in den USA. Darüber mache ich dann aber mal eine extra Folge.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist Iwan 21 Jahre alt und er muss noch ein paar Jahre absitzen. Lissa wollte nicht in ihre Familie zurück und wohnt in einer Wohngruppe. Mit dem Täter hat sie noch Kontakt, beide schreiben sich Briefe. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
kofski ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für TRUE CRIME GRIMM - Der dumme Iwan




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.