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Alt 24.03.2019, 14:34   #1
weiblich Ilka-Maria
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Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City, auf der richtigen Seite des Mains
Beiträge: 31.043


Standard Wackelbilder

Mit dem Einkaufen hatte es Oma bequem. Um in den Laden der Kette „Kaiser’s Kaffee“ zu gelangen, brauchte sie nur die vier Stockwerke von ihrer Wohnung nach unten zu meistern, den kleinen Hof zu überqueren, durch den Torbogen zu trotten und nach links zu schwenken – schon war sie am Ziel, weil der Laden direkt an ihr Domizil grenzte.

Damals, in den Jahren nach dem Krieg, den ich gottseidank nicht erleben musste, gab es noch keine Selbstbedienungsläden. Man schaute auch nicht nach links und rechts, was man brauchen könnte (oder auch nicht), sondern hatte einen Einkaufszettel dabei. Mit diesem Zettel stand man vor der Theke, wartete, bis man an die Reihe kam, und sagte dann die Artikel auf, die man für die Woche benötigte.

Wenn der Laden voll war, und „voll“ hieß bei den damaligen Ladenflächen fünf bis sechs Kunden, hatte man reichlich Zeit für nette Gespräche, den einen oder anderen Witz (gelacht wurde viel) und natürlich für die regelmäßig wiederkehrende, mich peinlich berührende Bemerkung: „Die Kleine ist aber groß geworden.“

Die Verkäuferin in solch einem Lebensmittelgeschäft war im Regelfall auch die Inhaberin des Ladens, die alles, was man verlangte, aus dem Regal nahm, behutsam auf die Theke stellte und die Preise auf einem Blöckchen, ungefähr fünfzehn Zentimeter hoch und sechs Zentimeter breit, notierte und sie am Ende des Einkaufs flink addierte. Zu dieser Leistung genügte damals ein Hauptschulabschluss.

Was heutzutage in den Supermärkten an der Kasse aufgereiht ist, um kleine, unschuldige Engelchen in kleine, quengelige Teufelchen zu verwandeln, war bei „Kaiser’s Kaffee“ ein Schälchen mit Wackelbildern. Allerdings gehörte ich nicht zu der quengeligen Sorte, die sich die Gesellschaft mit den neuesten Erkenntnissen in Kindererziehung herangezüchtet hatte und die mit schmerzverzerrtem Gesicht und gespreizten Finger ihr „Habenwollen“ demonstrierte. Mir genügte ein sehnsüchtiger Blick auf diese Wackelbildchen, um Omas Herz zu erweichen. „Such dir eins aus.“

Im Laufe der Zeit hatte ich eine Anzahl von zehn dieser Fünf-Pfennig-Kostbarkeiten gesammelt, die ich in einem kleinen Etui mit Reißverschluss verwahrte. Davon sind mir noch zwei in guter Erinnerung. Das eine zeigte einen Cowboy, der ein erst ruhiges, dann bockiges Pferd zuritt, das andere ein grau-weißes Kaninchen, das an einer Mohrrübe knabberte und „dabei seine linke Pfote hob und auf den Boden zurückdonnern ließ.

Über Nacht war es mit den Wackelbildern vorbei, denn „Kaiser’s Kaffee“ zog um, meine Oma auch, und der gute alte Lebensmittelladen der Marke „Emma“ wich den ersten Selbstbedienungsläden. An die Stelle der Wackelbilder traten Sammelalben, in die Kinder Bilder von allerlei exotischen Tieren klebten, von deren Existenz sie bis dahin nichts geahnt hatten.

Auch das ist vorbei. Heute lockt man Kinder nur noch alle zwei Jahre mit den Bildern von Fußballstars, nämlich pünktlich zu den Europa- und Weltmeisterschaften. Zugkraft steckt allerdings auch darin nicht mehr, wie überhaupt das Bild des „Helden“ in unserer rational bestimmten Zeit verlorengegangen ist – oder erstarrt wie ein kaputtes Wackelbild.
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Alt 24.03.2019, 17:16   #2
männlich Plutino
 
Dabei seit: 02/2019
Beiträge: 361


Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
den Laden der Kette „Kaiser’s Kaffee“
Jetzt weiß ich, wem ich den Deppen-Apostroph auf dem Schild von dem Chantal sein Nagelstudio zu verdanken habe. Nein, als Kaiser’s 1880 gegründet wurde, galt der Genitiv-Apostroph bei Eigennamen als korrekte Grammatik. Kaiser’s hatte den Apostroph auch nie im Zuge einer Änderung der Wortmarke aus dem Namen getilgt.

Hey, ich werde den Deppen-Apostroph künftig nur noch als ›Chantals Fingernagel‹ bezeichnen.

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Mohrrübe
Das ist doch ein schönes Wort, das vor dem Aussterben bewahrt werden sollte. Mohr in Mohrrübe geht laut Wikipedia auf westgermanisch ›murhōn‹ (Möhre) zurück. Anderenfalls hätten [s]all die[/s] kaiser’s Mohrenstraßen natürlich nicht in Möhrenstraßen umbenannt werden können …

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Zugkraft steckt allerdings auch darin nicht mehr, wie überhaupt das Bild des „Helden“ in unserer rational bestimmten Zeit verlorengegangen ist – oder erstarrt wie ein kaputtes Wackelbild.
Heute reichen schon blattvergoldete Steaks, um ›Helden‹ wackeln zu lassen. Dafür gibt es beim Bäcker (mit Körnern) ›veredelte‹ Brötchen. Beim Juwelier wird es also früher oder später traurige Ringe mit Kürbiskernen geben.
Plutino ist offline   Mit Zitat antworten
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