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Alt 13.12.2016, 23:36   #1
männlich Heinz
 
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Standard 21. Kapitel Urlaub in Jena

Acht Stunden noch bis zur großen Familienfete. Den Tag wollte ich nutzen, um das Töpferstädtchen Bürgel, bisschen mehr als 10 km vom Jenaer Stadtzentrum entfernt, zu besuchen, dort vielleicht ein paar Souvernirs kaufen. Nach ein paar Minuten ein Hinweisschild zum Nordfriedhof. Dort ist das Doppelgrab meiner Urgroßmutter und meines Urgroßvaters. Kurz entschlossen ließ ich den Abzweig Richtung Bürgel rechts liegen und fuhr erst mal zum Friedhof. Bei der Friedhofsverwaltung erfuhr ich, wo das Grab zu finden ist. Das ganze Grab war mit hochstämmigen, blühenden Fuchsien bepflanzt, der Lieblingsblume meiner Omi. Ach - wieviele Erinnerungen an meine geliebte Omi kamen da aus den Tiefen der Seele zutage! Sie war die Große Mutter der ganzen Sippe, ihr Wort war Gesetz, ihre Hilfsbereitschaft unschätzbar und nach der „Republikflucht“ - erst meines Vaters, seines Zeichens Oberkommissar bei der Volkspolizei in Weimar, dann meiner Mutter ein Jahr nach dem „Hochverrat“ meines Vaters, der in Uniform über die „grüne Grenze in den Westen gemacht“ hatte, waren sie, Omi und Opi, Elternersatz für meine beiden Geschwister und mich. Opi war Jahre vor Omi gestorben, leise, unauffällig und von einem Tag auf den anderen. Aus der Ferne glaubte ich als unreifes Bürschchen ein Urteil über das Verhalten einiger Verwandter, insbesonders des ältesten Sohnes - der einzige überzeugte Kommunist und Funktionär bei der SED und vom Rest der Verwandtschaft links liegen gelassene Onkel Rudi mitsamt seiner Frau und meinem „großen Bruder“ Manfred. Omi landete in einem Altenheim und ich schrieb einen flammenden Brief, stellte seine nach außen vertretene Solidarität infrage und - hatte eigentlich keine Ahnung von den Gründen, die objektiv betrachtet und später von mir eingesehen, die zu der Einweisung in ein Altenheim führten. Ich war wütend, enttäuscht, verbittert: Meine Omi in ein Altenheim - unfassbar!
Und nun saß ich auf einer Parkbank am Grab des Lehrmeisters meiner Kinderjahre und meiner Omi. Sie hätte ganz bestimmt nicht geschimpft, als ich mir eine Zigarette enzündete, eine Fuchsienblüte abzupfte und in mein Notizbuch legte und nach einer Stunde leise
„tschüss Omilein“ sagte, ahnend, dass dies mein letzter Besuch an ihrem Grab war.
Zwanzig Minuten später war ich in dem Städtchen Bürgel angekommen und schlenderte durch die Gassen des reizvollen Ortes, in dem die Häuser allerdings so aussahen, als wollten sie morgen zusammenbrechen. Wie zum Hohn waren auf großen Tafeln Sprüche geschrieben, die von der Überlegenheit des Sozialismus, der unverbrüchlichen Freundschaft mit der Sowjetunion und der Übersoll-Erfüllung der VEB und der LPG (der „volkseigenen Betriebe“ und der „landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften) kündeten.
Die Schlangen vor den Geschäften, die leeren Schaufenster, der Gestank der Abgase der üblichen Zweitaktmotoren, marode Fensterflügel, spärlich bestückte Marktstände - das alles zeugte von einem eklatanten Widerspruch zwischen Realität und großsprecherischen Parolen.
Einzig im Schaufenster einer Töpferei entdeckte ich sehr schöne Keramiken. Das „Bürgeler Blau“ ist weithin bekannt, es ist verziert mit weißen Punkten, Bordüren, manchmal Blumen.
Das Geschäft hatte einen mittelgroßen Ausstellungsraum - die jeweiligen Preise erfuhr ich durch eine sehr freundliche Verkäuferin. Dann die Enttäuschung: „Nein, das können sie nicht kaufen, das ist alles Exportware“, und leise zu mir „das geht alles an große Möbelhäuser im Westen, die verkaufen die Möbel mit unseren schönen Sachen.“ Ich, genauso leise wie sie:
„ Schau‘n sie, ich bin Vertreter eines großen Möbelhauses in Düsseldorf und ich brauche eine Auswahl ihrer Ware, um sie meinem Chef vorzuführen.“ - „Ja, wenn das so ist, dann sagen sie mal, was sie mitnehmen möchten.“ - „So einfach mitnehmen will ich die Sachen ja nicht - meine Firma zahlt gut und prompt.“ Ich durfte mir sechs Bierkrüge, Aschenbecher, Vasen, Krüge, Tassen, Teller, sogar Sparschweinchen mit dem Namenszug meiner Kinder, Eierbecher, Kerzenständer und Schüsseln aussuchen, der Lehrling musste alles verpacken und zu meinem Auto schleppen und der Chef der Töpferei kam persönlich, um den Handel perfekt zu machen und um mich nach hinten in die Töpferei zu bitten. „Und sie sind speziell wegen unseres Bürgeler Blaus aus dem Westen hergekommen?“ - „Nein, ich verbinde das Nützliche mit dem Angenehmen, bin zu Besuch bei meinem Onkel in Jena.“ Er murmelte den Familiennamen vor sich hin, kratzte sich am Kopf: „Köhler heißt ihr Onkel, Köhler - kenne ich in Jena nur den Geschäftsführer der Elektrogenossenschaft.“ - „Ja, das ist er.“ - „Wissen sie, der Vater vom Gerhard, der ist vor dem Krieg immer aus Jena hierher gekommen (klar - zu Fuß -) und hat seinen Rucksack mit Bürgeler Blau zweite Wahl vollgepackt und die Sachen in Jena verkauft.“ Das Eis war gebrochen, wir standen neben einer Töpferscheibe, ich bewunderte die Handfertigkeit des Töpfers, der aus einem Klumpen Ton zwischen seinen Händen einen Krug „wachsen“ ließ: Faszinierend! Ich durfte auch mal probieren: Katastrophe! Das Geschäftliche war schnell abgeschlossen, ich zahlte einen lächerlichen Preis und fragte nach Ausfuhrbestimmungen. „Ja, das kann ein Problem werden. Am besten, sie sagen gar nichts.“
Gerhard - am Abend danach gefragt: „Nee, das kriegste nicht über die Grenze. Nimm mal nur zwei Teile mit, dann weißte, wie das da abläuft.“ Hab ich dann so gemacht, die beiden Teile, ein Krug und ein Sparschweinchen, als Erbstücke deklariert und - es hat geklappt. Wenn ich bei jedem geplanten Besuch zwei Teile mitnähme, so rechnete ich mir aus, brauchte ich etwa
zwanzig Jahre, um meinen Erwerb nach Wuppertal zu transportieren. Bitte ein bisschen Geduld, ich erzähle, wie ich es dann gemacht habe.
Nach einem herzlichen Abschied vom Töpfer juckelte ich gemütlich nach Jena zurück und kam rechtzeitig, um bei der Vorbereitung der Familienfete noch Hand anzulegen.
Nach und nach trudelten sie alle ein: Gerhards drei Söhne, einer davon mit einer Ärztin verheiratet, Ursels Eltern, Gerhards Bruder mit Frau, meine „Tante“ Hannelore - Tante in Anführungsstrichen, weil sie fast ein Jahr jünger war als ich und unser Verhältnis war in ganz jungen Jahren alles andere als das von Tante und Neffe zu sein pflegt. Inzwischen war sie zum zweiten Mal mit demselben Mann verheiratet, hatte ein liebreizendes Töchterchen und war genauso naiv und bisschen nicht von dieser Welt wie vor anderthalb Jahrzehnten. Brigitte, eine Cousine mit Töchterchen, war aus Erfurt gekommen, Kurt, der kurz nach dem Krieg mit seinem Kumpel ein paar Fassdauben auf den Rücken räuberischer Sowjetsoldaten hatte tanzen lassen, mein Großonkel Hans, der Boxer in der weitverzweigten Familie nebst Gattin und Tochter Elfriede - die Hütte war voll. Es wurde Fleisch auf den Rost gelegt, das Bier floss in Strömen, die Gespräche wurden lauter und bald von wilden Gesängen abgelöst.
Diana war auch eingeladen und weil alle Betten von fahruntüchtigen Cousins, Neffen, Tanten, Onkeln, Nichten in Beschlag genommen wurden, überwanden Diana und ich zu später Stunde den Zaun zu ihrem Grundstück und beschlossen in Eintracht, mäßig betrunken, aber immer noch fähig uns sehr lieb zu haben, die ausgelassene Feier.
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