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Alt 05.06.2017, 22:08   #1
weiblich Damaris
 
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Standard Splitter und Balken

Der Platz war leer.
„Fuck!“
Er ließ die Scheinwerfer seines VW-Busses aufleuchten, startete erneut den Motor und drehte eine langsame Runde: nichts, nicht mal eine Ratte ließ sich blicken. Was war da los? Er checkte die Wolkenkratzer rings um, nicht ein helles Fenster. Selbst das Wetter passte in diese Science Fiction Szenerie: windstill, wolkenschwerer Himmel, kein Mond zu sehen. Einzig die Straßenbeleuchtung tat so, als wäre alles wie immer.
„Verfluchte heilige Scheiße!“, schrie er in das Schweigen und irgendwo in der Ferne glaubte er Krähen Antworten krächzen zu hören. Er schaltete den Motor ab und identifizierte Hubschraubergeräusche. Aufschauend stellte er fest, dass sie noch außer Sichtweite waren. Langsam überquerte er den Platz und versteckte sich im angrenzenden Stadtforst.
Wie waren sie ihm so schnell auf die Spur gekommen? Sicher hatte er eine hinterlassen, im Darknet sowie in den offiziellen Netzwerken, allerdings, dumm war er nicht, nur auf den Pinnwänden seiner Fake Profile, welche er unter den Nicknames Fu Hannes, Jesco und Karl-Peter, pflegte. Kurz vor seinem Aufbruch hatte er die Posts abgesetzt, in denen er ankündigte, dass dies sein großer Tag sei, wo er es Allen zeigen werde, Allen, die auf ihn herabgesehen hatten, ihn nicht beachtet, verachtet, sich nicht die Mühe gemacht hatten, seine wahre Größe zu erkennen. Allen würde er es zeigen, Allen, mit ihren blinden Splitteraugen. So hatte es seine Großmutter immer bezeichnet, wenn die ihn verspottet und auf dem Schulweg verdroschen hatten:
„Die haben die Augen voll Splitter, deshalb sehen sie dich nicht, aber du wirst es ihnen zeigen, aus welchem Holz du bist, mein Bubi.“
Das würde er! Kein Amoklauf, damit konnte man sich längst kein Denkmal mehr setzten in dieser beschissnen Welt.
„Ein Spinner nur, nur ein armer Irrer.“, würde die Öffentlichkeit in diesem Fall feststellen, um, erleichternd aufzuatmen und, kaum inne haltend, sich, verächtlich lachend, zurück in ihren Alltag der Superlative zu stürzen, voller geiler Megas, die sie ihm verwehrten.
Die einzige Währung, die denen wirklich Angst einjagte, war Terror. Er glaubte weder an Gott noch Teufel, aber an seine eigene Größe. So hatte er den alten, vom Großvater geerbten, VW-Bus wieder flott gemacht und sich eine Kalaschnikow besorgt. Damit wollte er heute, nach bewährtem Vorbild, auf dem belebtesten Platz der Stadt in die Menge rasen, auf die Fliehenden ballern und Allahu Akbar schreien, nur die letzte Kugel aufsparend, um sich selbst ins Nirwana zu befördern. Und falls es doch ein Paradies gab mit auf ihn wartenden Jungfrauen, so hatte er nichts dagegen, auch auf diesem Gebiet war er zu kurz gekommen.
Rau lachend schüttelte er den Kopf, so dumm war er nicht. Das Einzige, woran er glaubte, war Gerechtigkeit, sein Ruhm, den er endlich ernten wollte.
Aber was zum Teufel ging hier vor? Er lauschte spähend in die Dunkelheit. Nur die Hubschrauber waren in der Ferne zu hören. Nichts hatte sich verändert. Er schaltete sein Radio an:
„… bleibt zu Hause und hört Soundcheck 24, Euren Sender in jeder Lage, für jede Stimmung und auch für dieses Wetter!“
Wie auf das Stichwort heulte ein Wind auf, der an seinem VW-Bus rüttelte, ein grellweißer Blitz zerfetzte den Himmel, augenblicklich folgten ihm weitere seiner Art, dazu dröhnender Donner und peitschender Regen. Ein blutroter Mond, wie er noch keinen gesehen hatte, schaute grinsend auf ihn herab.
„Allahu Akbar!“, schrie er ihm entgegen, während er eine Salve auf ihn feuerte.
Ein anderes, dumpf berstendes, Krachen, ließ ihn zusammenfahren. Dann sah er das Holz.
„Viel zu groß für einen normalen Ast, wo kommt dieser gewaltige Balken her?“, flüsterte er, während er zusah, wie dieser sich langsam durch die Windschutzscheibe seines VW-Busses hindurch arbeitete, stetig auf seinen Kopf zu steuernd, um sich schlussendlich Millimeter für Millimeter in sein rechtes Auge zu bohren, mit diesem elektrisierenden Schmerz, der alles, selbst seine Wut, verbrannte. Gleich gestutzten Flügeln flogen seine Arme zum Kopf, um auf halber Strecke kraftlos auf die längst gelähmten Lenden herabzusacken. Wie unter diesen Umständen nicht anders zu erwarten, zog sein kurzes Leben in seiner trivialen Belanglosigkeit an seinem inneren Auge vorbei. Einziger Lichtblick war die Großmutter, wie sie ihn an ihren mächtigen Busen drückte, seinen Kopf streichelnd und über die Splitter in den Augen der Anderen schimpfend.
Sein Lebensfilm wurde untermalt vom Punksong der Ärzte: „Schrei nach Liebe“. Wenn er schon an keinen Gott glaubte, glaubte er jetzt an den Teufel, denn das war genau der Song, den er von allen am meisten hasste. Er sollte ihn bis zum Schlussakkord verfolgen, die sich anschließende Stimme des Moderators nahm er nicht mehr war:
„Bleibt zu Hause und hört Soundcheck 24, Euren Sender in jeder Lage, für jede Stimmung und auch für dieses Wetter! Die Katastrophenwarnung gilt weiterhin und die Evakuierungsmaßnahmen rund um den...“
Der Ton erstarb.
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gesellschaft, seltsam, spannung

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