Meisleins Morgenliede

[Werther]

etwas leichte Kost für zwischendurch:

In einer alten Linden

Ein junges Meislein wohnt,

Wo es sich im dämmernden

Morgenlichte sonnt.

Ein leises Lüftchen seuselt

Durch des Baums Geäst.

Leicht das Meislein schaukelt

In seinem kleinen Nest.

Als Sonnenstrahlen dringen

Durch der Linden Kron,

Hebt Meislein an zu singen

In lieblich klingend Ton.

Besingt die holde Schönheit

Seines Märchenmeisenlieb',

Die ihm sein Herz gestohlen;

So singt er in diesem Lied.

Ein Meisenmädchen sitzet

In einer nahen Tann'

Und lauschet gar verzücket

Dies liebevollem Klang.

Da schleicht der reud'ge Kater

Mit düsterem Gemüt;

Dünkt, Meislein zu erjagen

Und sein Hunger wär gestillt.

Und Meislein in der Linden

Spürt nicht die Gefahr

Und singt von schönen Nächten

Unter Himmeln, sternenklar.

Und der reud'ge Kater,

Der zu lang hungrig war,

Schleicht auf leisen Sohlen

Seine Beut' gar brenzlich nah.

Da sieht das Meisenmädchen,

Voll ängstlichem Verdruss,

Das schwarze Ungetier und

Fasst mutigsten Entschluss.

So fliegt sie blitzeschnelle

Zu der Linden hin,

Hat ihr eigen Wohl nicht,

Hat Meislein nur im Sinn.

Sie trifft die wilde Bestie

Mitten ins Gesicht,

Wobei ihr Schnabel dieser

Ein empfindlich Aug' zersticht.

So fällt unter Schmerzgeschreie

Der Kater von der Lind'.

Kann niemals mehr zur Jagd, denn

War auf dem and'ren Auge blind.

Doch Meislein, jetzt begreifend,

Wie knapp er dem Tod entkam,

Schließt die holde Heldin

In sein Herze, warm.

Fortan haust in der Linden

Ein verliebtes Meisenpaar

Und besingt an jedem Morgen,

Wie schön die Nacht doch war.