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Alt 10.01.2022, 19:04   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Fliegenfritze: 1. Connys Bucht

Fliegenfritze war ein Fisch. Kein gewöhnlicher Fisch, sondern einer mit Flossen, die breit waren wie Fledermausflügel und genauso fein von Speichen durchzogen. Er sprang nicht nur wie seine Kameraden mal kurz über die Wasseroberfläche und tauchte wieder kopfüber ein, sondern er flog. Deshalb war er der Champion des Amazonas und der Stolz seiner Familie. Keiner sprang höher als er in die Luft, und keiner schnappte sich bei jedem Flug mit den fleischigen Lippen einen dieser fetten Brocken aus der vor Insekten schwirrenden Luft schneller weg als er … Libellen, Käfer, Schmetterlinge.

Vor allem in der kleinen Bucht am anderen Ufer. Dort, in der üppigen Flora, waren die schmackhaftesten Exemplare unterwegs. Solche geflügelten, raffinierten Biester, die mit ihren Facettenaugen jede Bewegung ihrer Fressfeinde sofort wahrnahmen und viel schneller reagierten, als ein Frosch oder Fisch zuschlagen konnte. Schwuppdiwupp waren sie auf und davon! Man musste schon mächtig fix sein, um sie auf die Zunge zu bekommen.

Und so sprang Fliegenfritze eines Tages zu hoch, kam obendrein zu nahe ans Ufer und landete auf dem Gehörn eines abgestorbenen, steifgedorrten Gezweigs, das seine Konservierung nur dem Umstand verdankte, dass es sein Leben lang im Wasser gestanden hatte.

Fliegenfritze war aufgegabelt und schlug mit seinen Schwanzflossen hin und her, um sich von der Krone des starrtoten Gezweigs zu lösen und wieder ins Wasser zu gleiten. Vergeblich. Seine Flossen, silbrig-zart, aber hart wie ein Kettenhemd, hatten sich verfangen und gaben nicht nach.

Während er seinen Schuppenpanzer verfluchte und um sein Leben rang, schwamm in eleganten Windungen, Ani, die Anaconda, herbei und hob ihren Kopf aus dem Wasser. Ihre Augen begannen zu funkeln. „Ei, wen haben wir denn da?“

Erstmals in seinem Leben erfuhr Fliegenfritze einen Zustand, der ihm bis dahin fremd gewesen war: Ihm wurde heiß wie am Spieß über einem Lagerfeuer. Ani! Und das in seinem wehrlosen Zustand! In seiner Einbildung meinte er zu spüren, wie sein Fleisch in einen gegarten Zustand überging.

Ergeben sah er in Anis Augen und in den Abgrund seines Schicksals. Gleich würde sie zustoßen und ich samt und schuppig vertilgen. Runterwürgen. Mit dem Kopf zuerst, und dann in einigen Stößen seinen Leib mit den herrlichen Fledermausfächern bis hin zu den lächerlichen Ruderflossen am schmalen Ende seines Fischkörpers …

Seine Unterwassertage waren gezählt, das war so sicher, wie der Amazonas immer in eine Richtung floss. Dabei war er noch so jung! Er schloss mit allem ab und stellte sich nur noch vor, wie ihn eines der Mädchen aus seinem Korallenriff zum Abschied küsste.

„Autsch!“ Aufgeregt fächerte Fliegenfritze seine Fledermausflossen auf. Ani hatte ihn nicht mehr im Visier. Sie war herumgefahren und hatte den vorderen Teil ihres Körpers senkrecht aufgebaut. „Du schon wieder!“

Conny, der jüngste und rüpelhafteste Spross einer ansässigen Krokodilfamilie, hatte sie am Schwanz gepackt und schaute sie, den Kopf halb über Wasser, aus starren Augen an.

„Muss das gerade jetzt sein?“, zischte Ani mit einem Seitenblick auf Fliegenfritze, den sie als todsichere Beute nicht aufzugeben gedachte. „Ich bin nicht zum Spielen aufgelegt.“

„Wer redet denn vom Spielen?“ Conny zerrte an ihr und versuchte, sie tiefer ins Wasser zu ziehen. Seine Augen, die in satten Zeiten zwischen gelb und grün schillerten, waren zu einem matten Graugrün verkommen – ein Alarmsignal. Ani wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Conny meinte es ernst. Er hatte Hunger, denn offensichtlich hatte er seit längerer Zeit kein Jagdglück gehabt, und für die Fütterung durch seinen Clan war er zu alt geworden. Er musste sehen, wo er blieb, und damit war die Jugendkameradschaft zwischen ihm und Ani vorbei. Sie war zur Beute geworden.

Doch so einfach war das mit Ani nicht zu machen. Blitzschnell wickelte sie ihren muskulösen Leib um Connys Echsenschnauze und schaute ihm frech in die Augen: „Lass meinen Schwanz los! Sonst gehen wir beide baden, bis dir die Luft wegbleibt!“

Conny schüttelte den Kopf hin und her, bekam aber Ani nicht los. Er schickte sich an, abzutauchen. „Wetten, dass ich länger durchhalte?“ Ani zog ihren Leib noch fester um Connys Schnauze und deckte ihm dabei die Nüstern zu. Er ruderte hin und her, so lange er konnte, doch schon bald blieb ihm nichts anderes übrig, als aufzutauchen und wild um sich schlagend seine Niederlage einzugestehen. Ani rollte sich von ihm los und schlängelte davon, so dass er wieder Luft tanken konnte.

Fliegenfritze hatte Ani und Conny gebannt zugesehen, bis er endlich begriff, dass ihr Streit seine Chance war. Außerhalb Anis Focus begann er wieder, wild um sich zu schlagen, und zog damit die Aufmerksamkeit eines Reihers auf sich. Dieser beäugte ihn eine Weile, befand ihn für zu groß, versuchte aber trotzdem, mit ihm klar zu kommen und pickte ihn aus dem Geäst.

Er war zu groß. Mit einem dicken Plumps landete Fliegenfritze im Fluss und schwamm, ehe der Reiher seinen Misserfolg begreifen konnte, in heftigen Stößen auf und davon, Richtung Heimat.

Am Korallenriff nahm ihn seine Mutter in Empfang: „Wo hast du gesteckt? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“ Sie küsste ihn mit ihren dicken Lippen, die jedem Barsch zur Ehre gereich hätten, von vorn bis hinten ab. „Du bist doch hoffentlich nicht wieder in Connys Libellengarten herumgesprungen. Vergiss niemals, wo du herkommst! Wir sind nur klitzekleine Fische.“

Fliegenfritze duckte sich zum Meeresgrund und tat so, als lutsche er in aller Demut Kleinstpartikel von ihm ab, damit seine Mutter nicht sehen konnte, dass sich die Punkte auf seiner Brust vor Scham knallrot färbten. „Ooch“, winkte er mit der Rückenflosse ab, „so weit draußen war ich nicht. Und außerdem ist dort eh nix los.“
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