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Alt 25.11.2020, 16:23   #1
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Standard Ich bereue nichts (1. Teil)

Als Gernot Grün in seinem Wagen saß und die A 620 in östlicher Richtung befuhr, tauchte der Wegweiser Richtung Paris im Scheinwerferkegel auf. Gernot lächelte und fühlte sich leicht wie eine Schneeflocke. Zufrieden ließ er die letzten Tage und Stunden vor seinem geistigen Auge Revue passieren.

„Grün! Haben Sie die Papiere der Silbermann-Korn KG und von Brenkhaus endlich an den Versand rausgegeben?“
In Gernot Grüns Ohr klang die Stimme seines Chefs am Telefon, als würde jemand neben ihm ins Klo kotzen.
„Sind im Moment raus, Herr Koppmann“, sagte er und versuchte locker zu klingen.
„Wie oft muss ich Ihnen denn noch sagen, dass die Ware noch heute rausgehen muss? Also geben Sie Gas, Mann.“ Koppmann legte verärgert auf.
„Tu ich, du Arschloch, tu ich“, sagte Grün.

Es war zwei Wochen vor Weihnachten und ab dem 22. begannen die Betriebsferien. Bis dahin mussten alle Bestellungen an die Kunden ausgeliefert sein, auch die, die ohne festen Liefertermin waren, und deren Erledigung auch im Januar und Februar noch Zeit gehabt hätten. Aber der Chef bestand darauf, dass alles noch im laufenden Jahr erledigt wird, um bei der Zentrale mit den aufgepeppten Umsatzzahlen glänzen zu können.

Sklaventreiber, dachte Gernot Grün und drückte auf die Enter-Taste seines Computers. Nun waren die ach so dringenden Aufträge an den Versand raus, und er konnte Feierabend machen. Schon wieder zwei Stunden nach dem offiziellen Schichtende.
Zum dritten Mal diese Woche - und es war Mittwoch.

Gernot startete seinen Golf und machte sich auf den Heimweg. Es war bereits stockdunkel, und dem Himmel fiel nichts besseres ein, als Sprühregen übers Land niedergehen zu lassen. Und ob Gernot wollte, oder nicht, selbst nach Feierabend kreisten seine Gedanken um die Arbeit.

Es war jedes Mal dasselbe, ob vor den Betriebsferien im Sommer, oder vor Weihnachten, immer erreichte Koppmann bei seinen Mitarbeitern, dass sie die letzten Tage vor dem Urlaub in schlechter Erinnerung behielten, denn er machte Stress ohne Ende. In allen Abteilungen fielen in dieser Zeit haufenweise Überstunden an, die selbstredend nicht bezahlt wurden.

„Ihr sollt nicht ständig fragen, was kann die Firma für mich tun, sondern, was kann ich für die Firma tun. Denn wenn’s der Firma gut geht, geht’s euch gut.“
Mit diesen Phrasen knüppelte Erwin Koppmann, Geschäftsführer der AS-Tech GmbH, Niederlassung Südwest, jedwede Kritik an diesen Missständen nieder.

Gernot Grün machte sich schon lange keine Illusionen mehr darüber, in dieser Firma mit dem Karrierefahrstuhl ein paar Gehaltsstufen nach oben fahren zu können.
Seit vier Jahren war er nun Abteilungsleiter des Auftragsmanagements, und so wie es aussah, würde sich daran auch in naher Zukunft nichts ändern.
Anfang des Jahres präsentierte Koppmann seinen Golf-Club-Kumpel Ortwin Hammer als neuen Chef des Qualitätsmanagements.
Und so zerplatzte Grüns Traum von diesem Posten wie eine Seifenblase. Er fügte sich mutlos in sein Schicksal. Im Gegensatz zu seiner Frau Katrin, die jede erdenkliche Gelegenheit nutzte, ihrem Gatten vorzuhalten, was für ein Waschlappen er sei, und ob er sich schon einmal Gedanken darüber gemacht habe, wie sie bei seinem mickrigen Gehalt die Familie über die Runden bringen sollte.

Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte sich Gernots Miene, bei dem Gedanken daran, dass in nicht mal zwei Wochen der Weihnachtsurlaub begann, und er Firma und Chef für ein paar Tage vergessen konnte.
So süß, dieser Gedanke sein Hirn auch durchflutete, so sauer stieß ihm Sekunden später auf, dass er die meiste Zeit seines Urlaubes mit den Personen verbringen musste, die er ebenso sehr wie seinen Chef verachtete: seine Frau und seine Kinder.

Katrin war ständig im Kaufrausch und machte ihm Vorwürfe, dass er nicht genug Mumm habe, um bei Koppmann mehr Gehalt herauszuholen.
Maike, seine sechzehnjährige Tochter, ging und kam, wie es ihr passte und kleidete sich nach Gernots Meinung, wie eine Bahnhofsnutte. Ihre Klamotten entblößten mehr, als sie verdeckten.
Und Benni, der dreizehnjährige Sohn, war so faul, dass seine Mitschüler ihm den Spitznamen „Karies“ verpassten. Er war zweimal sitzengeblieben und hatte drei teuer bezahlte Nachhilfelehrer zur Verzweiflung gebracht. Außerdem fraß der Junge täglich den Kühlschrank leer und bewegte sich nur, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft waren.
Gernot quälte deshalb seit Jahren der Verdacht, dass er in Wahrheit gar nicht der leibliche Vater der beiden ist.

Zuhause angekommen, fielen ihm sofort die drei Einkaufstaschen auf, die den Wohnzimmertisch zierten. Alle drei mit den Namen der teuersten Boutiquen der Umgebung. Von seiner Frau und den Kids war nichts zu sehen. Der Gedanke an die vielen Euros, die Katrin für den Inhalt dieser Taschen eingetauscht hatte, ließ seinen ohnehin erhöhten Blutdruck noch einen Tick höher steigen.
Er seufzte entmutigt, und ging in die Küche, um sich ein Abendbrot zu machen. Wie immer, wenn der Groll an Gernots Seele nagte, bekam er Hunger. Hätte er geahnt, dass Katrin, außer ihren kostspieligen Klamotten, noch eine weitere unangenehme Überraschung für ihn parat hatte, wäre er schnurstracks in die nächste Kneipe gegangen und hätte sich dort in aller Seriosität volllaufen lassen.
Da aber Hellsehen nicht zu Gernots Fähigkeiten zählte, saß er an dem kleinen Küchentisch und kaute auf seinem Salamibrot herum, als er jemanden die Treppe herunterkommen hörte.
„Hallo!“ sagte Katrin als sie die Küche betrat. Einen Begrüßungskuss bekam Gernot schon lange nicht mehr. „War oben und hab aufgeräumt.“
„Du meinst, du hast deine neuen Klamotten weggeräumt.“
„Das auch. Hatte ja keine anständige Bluse mehr. Keine Gute. Für die Feiertage.“

Als Gernot noch darüber nachdachte, ob er zum tausendsten Mal die Kosten ansprechen sollte, sagte Katrin: „Sag mal, der Koppmann, der hat doch nicht wieder geheiratet? Der lebt doch noch alleine, oder?“
„Was hat das nun mit deinen neuen Blusen zu tun?“ fragte Gernot perplex.
„Nichts“, antwortete Katrin. „Ich dachte nur, es wäre doch gar keine schlechte Idee, wenn du deinen Chef an Heilig Abend zum Essen einladen würdest.“
„Was?“ Gernot sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umkippte und scheppernd auf den Fliesen landete. Hätte Katrin gesagt: „Ich habe Rattengift in deine Salami getan“, Gernot wäre nicht geschockter gewesen.
„Nun krieg dich wieder ein und denk mal nach“, sagte Katrin und setzte sich zu Gernot an den Tisch, nachdem der seinen Stuhl wieder hingestellt hatte.
„Vor einem halben Jahr ist er geschieden worden und wird Weihnachten wohl alleine verbringen müssen. Dann wäre es doch mehr als eine menschliche Geste, wenn er wenigstens den Heiligabend mit Bekannten verbringen könnte. Außerdem würde sich so eine soziale Tat günstig auf deinen Status in der Firma auswirken.“
„Ach, daher weht der Wind“, antwortete Gernot. „Ich soll also schleimen und buckeln, damit die liebe Katrin noch mehr Geld in die Boutiquen tragen kann.“
„Du bist ein Idiot. Dir wäre es wohl lieber, ich würde mich gehen lassen und mich wie eine Schlampe in schäbigen, fleckigen Klamotten und mit fettigen Haaren auf dem Sofa rumfläzen.“
„Ich weiß“, seufzte Gernot. „Es hat keinen Sinn mit dir über Geld zu diskutieren.“
„Gut, dass du dich daran erinnerst.“
„Du verlangst von mir, dass ich mit einem Menschen, den ich zum Kotzen finde, meinen Tisch und mein Essen teilen soll? Und das auch noch an Weihnachten?“
„Mensch, überleg doch mal. Du opferst drei oder vier Stunden und könntest Jahre davon zehren. Koppmann würde dich mehr respektieren, was sich in Zukunft positiv auf dein Gehalt auswirken könnte. Was ist daran auszusetzen?“

Gernot schwieg und nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank.
„Von nix kommt nix“, sagte Katrin und räumte Gernots Teller und Besteck in die Spülmaschine. „Du investierst ein paar Stunden eines einzigen Abends, und das könnte der Wendepunkt in deinem Leben sein. Also, pass morgen eine gute Gelegenheit ab und lade ihn ein.“
„Und wenn er wieder liiert ist?“
Katrin verdrehte die Augen: „Dann lädst du eben beide ein. Wo ist das Problem?“
Gernot schaute prüfend in seine Bierflasche und trank sie leer. Dann nickte er und gab wie immer nach.
„Also gut. Wer weiß, vielleicht hast du ja Recht?“
„Ist der Papst katholisch?“

Und so nahm das, was Katrin ahnungslos „Wendepunkt des Lebens“ nannte, seinen Lauf.
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