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Alt 24.05.2021, 04:19   #1
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Standard Die Frau, die in den Brunnen schrie

Eine jung verwitwete Mutter suchte nach ihren Kindern, die vor Einbruch der Dunkelheit nicht heimgekehrt waren. Sie rief nach ihnen und folgte dabei einem spiralförmigen Weg, der in der Dorfmitte endete. Von ihren Kindern keine Spur. Sie sah sich noch einmal um. Dann fiel ihr Blick auf einen einsamen Brunnen. Den Kopf hineingehängt, rief sie nach ihrem Großen und dann nach ihrem Kleinen. Keine Antwort. Sie rief abermals. Nichts regte sich am Grunde des Brunnens. "Warum bist du die ganze Zeit so still?", flüstert sie hinab. "Du kannst ruhig zugeben, wenn du etwas weißt." Stille. "Oder bist du dir zu fein dafür?" Plötzlich ertappte sie sich. Warum redete sie gerade mit einem Brunnen? Bestimmt waren ihre Kinder längst zurück. Also machte sie sich auf den Heinweg. Er kam ihr ungewohnt steil vor. "Es muss die Müdigkeit sein.", dachte sie bei sich.
Am Abend darauf waren ihre Kinder noch immer nicht heimgekehrt. Schluchzend folgte sie der Straße bis ins Herz der Stadt und zurück, wieder und wieder, bis sie erschöpft am Rande des Brunnens niedersank. Kalt war seine Mauer und dunkel sein Schacht. Sie sah hinein, doch konnte nichts erspähen. Diesmal fragte sie mit fester Stimme: "Wo sind sie?" Die Worte hallten hundertfach in ihren Ohren wider und verloren sich im Dunkel. "Warum starrst du mich so an, wenn du mir ohnehin nicht antworten willst?" Sie drehte sich kopfschüttelnd fort und bekam sogleich ein schlechtes Gewissen. Während ihre Kinder irgendwo da draußen froren, verschwendete sie ihre Zeit an diesem seelenlosen Nichtsnutz. Diesmal kam ihr der Heimweg vor wie ein Gipfelstieg. Viele Male musste sie sich abstützen, viele Male lag sie kraftlos im Straßenstaub.
In der folgenden Nacht ging sie zielstrebig auf den Dorfbrunnen zu, krallte sich an seine Mauer und schrie: "Zeig mir, was du mit ihnen gemacht hast!" Der Brunnen schwieg. Sie grub ihre Fingernägel immer tiefer in den Stein, als wolle sie ihn erwürgen. Blut quoll aus ihrem Nagelbett. "Mörder! Du hast sie umgebracht! Hast sie beide ertränkt und willst es mir nicht sagen!" Ihr Echo klang schaurig, doch nicht so schaurig wie das modrige Schweigen aus der Tiefe. "Bist du taub oder einfach nur wahnsinnig?" Zitternd hielt sie inne. Da drang ein fernes Gluckern an ihr Ohr. In diesem Augenblick wusste sie es: "Meine Söhne... Nun verdaut er sie also."
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