Frauen sind Nutten

[Ilka-Maria]

Als Lucy ihre freudige Nachricht verkündete, dass sie schwanger war und sich auf das Kind freue, auf diesen einzigartigen Beweis ihrer großen Liebe, verzog Melvin, genannt „Mel“, angewidert das Gesicht. „Mädchen vögeln nur, um Männer reinzulegen. Ich heirate doch keine Nutte!“ Dann tauchte er ab.

Lucy weinte sich die Augen aus, zog ihr Kind, einen schokoladenfarbenen Jungen mit Kraushaar, alleine groß und ging regelmäßig in die katholische Kirche, um zur Jungfrau Maria zu beten und sie um Vergebung zu bitten. Lucy war eine gläubige Katholikin, wie alle Mitglieder ihrer Familie, die sie wegen ihres Fehltritts mit Abscheu behandelten, ihren Jungen aber abgöttisch liebten, weil er ein außergewöhnlich hübsches Kind war.

Sie wollte dem Jungen einen frommen Namen geben und schwankte zwischen Gabriel, Johannes, Michael, Simon und Paul, bis sie sich für Michael entschied. Seine Freunde nannten ihn Mike. Wenn der Name seines Vaters, Melvin, erwähnt wurde, war es für Mike, als spräche man vom leibhaftigen Teufel.

Als Mike dreizehn Jahre alt war, verliebte er sich in eine Klassenkameradin. Sie kam mitten im Schuljahr in die Klasse, eine Zugezogene mit Namen Ulrike. Klein, schmächtig, schüchtern, mausgrau. Keiner seiner Mitschüler nahm Notiz von ihr. Nur Mike war fasziniert von ihren weit auseinander stehenden, tiefblauen Augen, den überlangen Wimpern und den dichtbewachsenen Augenbrauen.

Bei einer Filmvorführung im verdunkelten Saal des Schulfestsaals war es für ihn nicht schwierig, den Platz neben ihr zu ergattern. Sie saß in der hintersten Reihe, direkt neben dem Projektor. Von hier aus ließ sich gut beobachten, wer in der Klasse mit wem Händchen hielt und die Wangen aneinanderschmiegte. Im Dokumentarfilm ging es um Zellteilung und Fortpflanzung. Mike, dem trotz der akademischen Trockenkost das Blut zu kochen begann, fasste sich ein Herz, umfasste Ulrikes Schulter und beugte sich zu ihr, um sie auf den Mund zu küssen.

Er hatte übersehen, dass sie dabei war, im Schein des Projektors Notizen in ihr Biologieheft zu machen. Als sie ihm die verdiente Ohrfeige verpasste, stach ihr Filzstift für einen kurzen Moment in sein Ohr. Er unterdrückte den Schrei des Schmerzes und ließ sie los. „Du verdammte Nutte!“ zischte er sie an, während sie hastig ihre Sachen packte und aus dem Saal stürmte.

An der Uni trafen sie sich wieder. Er entschuldigte sich für sein ungebührliches Benehmen während der Filmvorführung, und sie wurden ein Paar. Er studierte Jura, sie studierte Soziologie und Psychologie. Beide machten ihren Doktor. Gutes Einkommen, Haus, zwei Kinder, zwei Autos, Hund, Katze, gute Nachbarschaft, Ferienwohnung ... Der Himmel auf Erden. Mehr kann sich ein Mensch nicht wünschen.

Doch mit fünfunddreißig dämmerte Mike, sein Leben könne vorbei sein, ohne es wirklich gelebt zu haben. Frau, Kind, Hund, Katze, Haus ... das kann nicht alles gewesen sein! Er schien ausgenommen zu werden, um der ganzen Brut ein angenehmes Leben zu bereiten. Seine Kinder waren Parasiten, und seine Frau war nichts anderes als eine Nutte. Und weil diese Erkenntnis sensationell war, traf Mike auf die einzige Frau im Kosmos, die zu dieser Erkenntnis auch längst gelangt war.

Zwei traurige, von Sehnsucht zernagte und jahrzehntelang missverstandene Seelen trafen aufeinander und witterten die einmalige Chance, zur totalen Erfüllung zu gelangen. Sie brachen alle Zelte hinter sich ab, verschmolzen und ließen einander nicht mehr los. Keine Ehefrau mehr, der alles nur um Familie, Sicherheit und Dukaten ging! Kein Ehemann mehr, dem das Auto die teuerste Braut war ...

Nach einem halben Jahr war der Zauber vorbei. Die Entschmelzung“ begann und der Protest wurde laut: „Ich will mal etwas anderes mit dir machen als nur zu vögeln!“

Der darauf folgende Standardvorwurf: „Du liebst mich nicht mehr!“

Es dauerte nur wenige Wochen, bis sie Mike verließ, weil ein anderer Mann ihr das größere Paradies verhieß.

Gereift an Erfahrung und gestählt von Einsicht tauchte Mike vor Ulrikes Wohnungstür auf und gestand reuevoll seine Niederlage.

Ulrike hörte ihn geduldig an, bis er keine Worte mehr fand. Nach einem Moment des Schweigens sah sie ihm fest in die Augen.

„Gratulation. Jetzt weißt du, was eine Nutte ist!“

Dann schlug sie die Tür zu.

19.08.2017

[wolfgang]

Flüssig erzählt. Gut auf den Punkt gebracht.

[DieSilbermöwe]

Liebe Ilka-Maria,

erstmal freut es mich, dass hier im Geschichtenforum ja endlich mal richtig was los ist Dann hast du einen guten bzw. gut provokanten Titel gewählt, der genau deswegen - aufgrund der Provokation - die Leser anzieht.
Die Botschaft der Geschichte ist zwar nicht neu, aber gut und spannend erzählt. Ich habe sie in einem Rutsch gelesen.

LG DieSilbermöwe

[talking head]

Mike ist ohne negative Klassifizierung, die anderen sind Nutten oder Parasiten. Er müsste doch wenigstens ein Freier sein. Ulrike bestraft ihn noch nach Jahrzehnten für seine unbeholfene pubertäre Dummheit beim Film. Welche Dummheit war größer, seine oder die der Intelligenzbestie mit dem spitzen Bleistift. Antwort: keine; die Jugend ist der beste Grund, aufeinander zu fallen und der beste, wieder auseinander zu gehen; will sagen, da macht man halt Fehler. Warum bestraft sie mit erwachsener Wut die unbeholfene Annäherung eines pubertär verliebten Klassenkameraden noch nach Jahrzehnten? Mag sein, dass, wie in der Geschichte wie nebenbei angefügt, die Ohrfeige so grade eben noch verdient gewesen war (nach dem Spruch oben nicht), der Stich ins Ohr war's nicht. Hätte er sich an die beschriebene Norm der anderen halten sollen und Händchen halten und Wange an Wange schmiegen anstatt sie gleich auf den Mund küssen zu wollen? Sein Blut kochte doch, so verliebt war er; war's bei den anschmiegsamen Händchenhaltern nur lauwam?
Schön erzählt, fließend, bin nicht gestolpert beim Lesen.
Gute Nacht und schöne Grüße,
th

[DieSilbermöwe]

Hallo talking head,

da hast du wohl etwas überlesen oder übersehen. Ulrike bestraft Mike nicht für die Dummheit beim Film, sondern dafür, dass er sie nach einigen Ehejahren, gemeinsamen Kindern und zusammen aufgebauten Besitztümern für eine andere sitzen lässt, mit der er dann nichts als voegeln kann, was für eine längerfristige Beziehung nicht reicht.

LG DieSilbermöwe

[talking head]

danke für die Rückmeldung,

mit kam der Dreh so weit zurück gleich wenig aus dem Text begründet vor.

Das andere hab ich in weiteren Bekanntschaft erlebt: ein Paar aus der Jugendzeit zusammen, er beruflich erfolgreich aufgestiegen, sie Kinder erziehend; nach 3o Jahren Ausbruch einer Depression wg Überforderung, von hedonistischem Ausleben bei ihm begleitet; sie hält eisern den Laden zusammen, die Kinder sind aus dem Haus, alles wieder i.O., nur scheinbar? Wo ist ihre Lusterfüllung?

Lieben Gruß,
th

[Ilka-Maria]

Zitat von talking head

... nach 3o Jahren Ausbruch einer Depression wg Überforderung, von hedonistischem Ausleben bei ihm begleitet; ...

Es ist viel banaler, talking head. Die innere Unzufriedenheit ist meistens bei beiden Ehepartnern vorhanden, aber keiner von beiden kann genau benennen, woran es liegt. Deshalb gibt es den ständigen Wechsel zwischen Deprimiertheit (Depression ist mir dafür ein zu starker Ausdruck) und neuer Hoffnung, wenn es mal wieder harmonisch läuft.

Wenn diese latenten Krisen ignoriert werden, sind Ehepartner anfällig für äußere Einwirkungen. Manche Menschen haben ein sehr gutes Gespür dafür, ob sich ein Ehepartner in einer labilen Phase befindet, und das machen sie sich zunutze. Sie spielen ihm eine Rolle vor, z.B. als zu einer ungewünschten Ehe gedrängter Ehemann, der für sein Leben ganz andere Pläne hatte; oder als unterdrückte Ehefrau, über deren Leben der garstige Ehemann samt dessen Familie entscheidet. In Wahrheit verfügen Menschen, die sich in andere Ehene drängen, meistens über einen sehr aggressiven Charakter: Sie nehmen sich, was sie gerade haben wollen, dafür erfinden sie Geschichten, und in extremen Fällen lügen sie das Blaue vom Himmel herunter. Natürlich bemühen sie sich immer um eine positive, auf eine goldene gemeinsame Zukunft gerichtete Haltung, um bei dem labilen Ausbrecher aus der Ehe keine Zweifel an seiner Entscheidung, ein neues Leben zu beginnen, aufkommen zu lassen. Wenn sie jedoch in einigen Monaten des Objekts ihrer Begierte überdrüssig sind, machen sie sich vom Acker in dem Bewusstsein, dass der Scherbenhaufen, den sie mitverursacht haben, nicht ihre Schuld ist.

So einfach sehen die Mechanismen aus, die oft Ehen zum Scheitern bringen, bei denen es eigentlich gar keine gravierenden Gründe gibt (wie es z.B. Geldsorgen, Alkoholismus, Gewalt etc. wären).