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Kolumnen, Briefe und Tageseinträge Eure Essays und Glossen, Briefe, Tagebücher und Reiseberichte.

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Alt 06.10.2016, 11:26   #67
Thing
R.I.P.
 
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So komfortable Betten gibt es?
Glückwunsch.

Liebste Wünsche und Grüße zu Dir

von
Thing
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Alt 13.10.2016, 23:03   #68
gummibaum
 
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schon kurz darauf begann der operierte arm zu stark schmerzen. ich sah, dass er auf der oberseite jetzt eine gipsschale trug, und die metallstäbe verschwunden waren. ich rief nach einem schmerzmittel, und als der schmerz schwächer wurde, fühlte ich, dass ich ohne den netzschlüpfer dalag. „wir mussten sie katheterisieren, 700 milliliter“, sagte die schwester.

später, auf station, forderte ich mehrmals weitere schmerzmittel. die nacht verging unruhig, doch am nächsten tag ließen die schmerzen nach.

den übernächsten stand ich schon auf. meine frau und meine tochter, die ich sonst nicht oft sehe, waren angereist und umarmten mich. meine frau entdeckte einen roten ausschlag auf meinem bauch. ein arzt, dem ich es zeigte, war sichtlich beunruhigt und ließ das antibiotikums gegen wundinfektion durch ein anderes ersetzen.

meine tochter kam noch einmal, diesmal mit dem nächst älteren bruder, dem, der mich „standman“ genannt hatte. er zog einen latexhandschuh aus der packung am bett, blies ihn riesig auf und hielt ihn seiner schwester als euter an den bauch.

auch mein bruder kam mit seiner frau. er brachte eines der pflegekinder mit, ein dunkelhäutiges mädchen aus sri lanka. ich hatte mit ihr noch vor kurzem federball gespielt und die bälle geschmettert. jetzt hörte sie angestrengt meinen erzählungen von den schrauben zu und blühte erst auf, als ich vorschlug, eis essen zu gehen. draußen, vor dem bettenhaus, war ein kiosk mit leckeren sorten.

dreimal wechselte in den nächsten tagen noch mein bettnachbar, eh ich selbst entlassen wurde.

ein großer, schwerer mann aus dem libanon mit unklaren rückenbeschwerden kam, der mir erzählte, am 11. september hätten die amerikaner das world trade center selbst in die luft gresprengt, dann ein junger familienvater, der auch am ellbogen verletzt war, aber nur leicht, nachdem er bei einem hindernislauf an einem hindernis gescheitert war und schließlich ein alter mann mit platzwunden am kopf, dem plötzlich in der wohnung abends schwindelig geworden war. er hatte danach bei mehreren nachbarn geklingelt, bis endlich einer die tür öffnete.

nach meiner entlassung trug ich weiter die gipsschale, machte zuhause leichte arbeiten, überwies das geld für die reise und die reiserücktrittsversicherung, denn ich wusste, dass ich nicht wegfahren konnte.
der verschraubte ellbogen aber schien mir locker, viel wackliger als noch bei der entlassung und manchmal knirschte es verdächtig darin.
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Alt 14.10.2016, 15:08   #69
weiblich DieSilbermöwe
 
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Na, da war was los - und wie geht es jetzt, erstmal musst du doch nicht wieder in die Klinik?
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Alt 14.10.2016, 18:28   #70
gummibaum
 
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danke, liebe silbermöwe. sorry für meine schreibfehler, z.b. standman=stuntman.

lg g
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Alt 14.10.2016, 18:29   #71
gummibaum
 
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am 29. 9., drei tage nach der entlassung, war der erste kontrolltermin, und ich musste um zehn uhr wieder in göttingen sein, um dem professor die entwicklung zu zeigen. mein ältester sohn ließ mich im auto platz nehmen, er fuhr die strecke ohnehin zur arbeit, und immer, wenn uns lastwagen entgegenkamen, machte ich mich auf dem beifahrersitz ganz dünn, um keine angriffsfläche zu bieten.

als der arm ausgewickelt war, leuchteten die löcher der ehemaligen fixateur-schrauben pink im licht, und das ganze machte, rostrot vom desinfektionsmittel, den eindruck eines affenarms, in den ein tiger gebissen hatte. dennoch konnten, wie geplant, alle fäden gezogen werden, nur der letzte, der zwanzigste, gab sich etwas widerspenstig. äußerlich war die heilung sehr befriedigend. ich wurde zum röntgen, und als man verdacht schöpfte, auch noch zum ct/mrt geschickt und wartetete dann lange im gang vor dem sprechzimmer, als sei ich vergessen worden. es war drei uhr nachmittags, als der professor mich rufen ließ und sagte, dass leider eine schraube herausgefallen wäre und im gelenkspalt stecke. das erkläre jetzt das wackeln und knirschen. man müsse nun schnell reagieren, und die op zur revision sei nächste woche.

ich hatte teresa inzwischen gesagt, dass ich vor dezember nicht kommen kann, und sie schrieb mir, dass sie auch in der klinik läge und zwar in der, zu der wir im oktober gehen wollten: „estoy muy delicada de salud y me van a operar hoy de los ovarios porque tengo un problema en el ovario izquierdo y como la inseminación se cancelo para diciembre tengo que operarme hoy……“ (meine gesundheit ist sehr heikel, und sie werden mich heute an den eierstöcken operieren, weil ich ein problem am linken eierstock habe, und da ich die befruchtung bis dezember annulliere, muss ich mich heute operieren lassen…). sie nannte die kosten der operation, und dass sie für deren übernahme auf mich rechne. als ich anrief, waren keine hühner, kein geschrei und kein verkehr zu hören. sie sprach aus der stille und von körperlichen schmerzen.
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Alt 14.10.2016, 18:48   #72
weiblich DieSilbermöwe
 
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Das tut mir von Herzen leid - dass du schon wieder zur Operation musst und dass auch Teresa in der Klinik ist.

Dass dir LKWs nicht mehr ganz geheuer sind, ist nachvollziehbar ....

Über den Standman hatte ich mich schon ein wenig gewundert

Ich drück euch beiden die Daumen zur Genesung und zum hoffentlich baldigen Wiedersehen!

Übrigens: schnell reagieren wäre wohl gewesen, wenn die Revisions-Op am nächsten Tag gewesen wäre.
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Alt 15.10.2016, 10:20   #73
gummibaum
 
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danke, liebe silbermöwe fürs lesen und die für die daumen. wenn es zu einem wiedersehen kommt, aber erst dann, schreibe ich hier weiter.

im moment schaueich youtubes mit lymphdrainage an und versuche mit diesen langsamen ausstreichungen die schwellung im arm loszuwerden. außerdem hat mich die schule gebeten, zuhause deutschklauren zu korrigieren, und ich habe gestern einen stapel abgeholt.

wünsche dir ein schönes wochenende
lg gummibaum
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Alt 15.10.2016, 11:46   #74
weiblich DieSilbermöwe
 
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Du sollst jetzt auch noch arbeiten? Korrigieren mit einer Hand? Ja, ich weiß, der linke Arm ist der operierte, aber auch wenn der rechte Arm funktionsfähig ist und du Rechtshänder bist, dürfte das nicht allzu einfach sein.

Ich glaub es kaum ....*Kopfschüttelnder Smiley*

Sobald du Zeit hast, ruh dich lieber aus

Ich hab gestern noch drüber nachgedacht, was die Sache mit Teresa nun zu bedeuten hat ("Befruchtung bis Dezember annullieren" - KWK?), kam aber nicht dazu, noch etwas dazu zu schreiben.

Ein schönes Wochenende und gute Besserung

LG DieSilbermöwe
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Alt 22.12.2016, 18:51   #75
gummibaum
 
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Als ich im Dezember ins Flugzeug stieg, waren genau drei Monate seit dem Unfall vergangen. Die störende Schraube war im Oktober entfernt und durch zwei weitere Schrauben ersetzt worden. Einige Tage später konnte ich die Klinik verlassen. Meine Frau trug mir das Gepäck. Danach trennten wir uns wieder.

Mein Knochenmosaik blieb nun stabil, die Phase der Krankengymnastik begann. „Ihr Arm ist eine Katastrophe“, meinte mein Krankengymnast, als ich ihn um ehrliche Meinung bat. Erst als die Schiene abgelegt wurde, hatte die Lymphdrainage Erfolg. Das Ellbogengelenk blieb kaum beweglich, und da ich ein Mehr an Beweglichkeit aus der Schulter holte, leierte diese aus und drohte zu luxieren.

Meine Krankenversicherung schickte mir alle Klinikrechnungen zurück. „Ihr Unfall ist ein Dienstunfall, Sie fuhren zur Arbeit, die Heilkosten zahlt der Arbeitgeber.“ Ich wandte mich an die Schule, und sie schickte mir Formulare, und ich füllte sie aus und schickte sie zurück, doch inzwischen waren Herbstferien und so lagen sie dort zwei Wochen. Nach den Ferien war der Direktor krank, der ein Gutachten abgeben musste, das ich wirklich an diesem Tag Unterricht hatte, und als der Antrag auf Kostenerstattung bei der Dienstunfallfürsorgestelle einging , war die dortige Sachbearbeiterin krank. Es grenzt an ein Wunder, dass ich schließlich doch alles erstattet bekam.

Als die Boeing am 12. Dezember in die Dominikanische Republik startete, war ich noch krankgeschrieben. Ich durfte nicht in der Welt herumreisen und mich neuen Gefährdungen aussetzen. Schon gar nicht außerhalb der Schulferien. Aber ich tat es. Meine Finanzen waren knapp. Die Reiserücktrittsversicherung hatte mir kaum etwas zurückerstattet und erst in den Weihnachtsferien zu reisen, hieß höhere Hauptsaisonpreise zu zahlen.

Ich buchte irgendwann last minute und All Inclusive, aber hielt es weitgehend geheim. Am 7. Dezember besuchte mich mein alter Schulfreund, um ein paar Tage zu bleiben, und ich fürchtete, dass er länger bleiben wollte, als es mir möglich war. Er hatte schon vor Jahren versucht, mir diese Teresa auszureden und glaubte, die Verbindung sei längst und gottseidank beendet.

Ich hatte Glück, denn er fuhr rechtzeitig. Er hatte entzückt die raureif-vereisten Felder von Abterode fotografiert und für uns beide gekocht. Als er an meiner Kleidung sah, wie wenig Geld ich habe, drehte er in seinem Zimmer die Heizung herunter, saß lesend in Mütze und Mantel darin und kaufte mir eine Jacke und einen Pullover.

Nur meinem ältesten Sohn und meiner Tochter sagte ich Bescheid. Der Sohn hatte gerade ein Haus im Dorf ersteigert, die Tochter mir mitgeteilt, dass ich Opa werde.

Teresa hatte die Hormonbehandlung wieder aufgenommen, als sie wusste, wann ich kommen würde. Doch am Abend des 12. Dezember schwebte ich über dem Atlantik und wusste nicht mehr, ob ich meine Zusage mit „la inseminación“ erfüllte. Draußen blieb über dunkelnden Wolken der Himmel für Stunden rot, denn wir flogen mit der Sonne. Ich stellte die Armbanduhr 5 Stunden zurück auf Karibikzeit. Auch meine innere Uhr hatte ich dort immer zurückgedreht, mein Lebensalter halbiert. Teresa ist jetzt dreißig. Ich hörte nun die kleinen Kinder um mich quengeln und weinen, denn der Flug zog sich hin und die Eltern ermahnen und beruhigen. Wollte ich das wirklich alles noch einmal durchleben?

Als wir kurz vor dem Flughafen waren, stieg das Flugzeug plötzlich wieder. Über Punta Cana tobte ein Gewitter und wir kreisten, ohne landen zu können. Aber dann sank es erneut und landete. Ich gab es auf, weiter nachzudenken, brauchte mit dem untauglichen Arm lange, meine drei Gepäckstücke aus dem Flughafen zu befördern. Es war inzwischen Mitternacht. Mein Transferbus zum Hotel schien längst abgefahren zu sein, und als ich suchend herumirrte, stürmte eine Horde dunkelhäutiger Taxifahrer auf mich zu, die gern die 100 Kilometer mit mir verbringen wollten. Einen Bus zum Hotel, behaupteten sie, gäbe es gar nicht. Schließlich fand ich das Neckermann-Schild hinter einer Windschutzscheibe. Der Fahrer sprach meinen Namen unverständlich aus, aber zeigte ihn mir auf seiner Liste und ich sah, dass ich sein einziger Passagier war.

Das Zimmer im Be Live Hamaca Hotel in Boca Chica war riesig, ich hatte zwei Doppelbetten für mich. Auf der abblätternden Farbe der feuchten Wände aber wuchs flauschig der Schimmel. Ich beschwerte mich prompt, bekam ein anderes Zimmer, doch dieses roch ebenfalls nach fauligem Keller. Da ich todmüde war, resignierte ich, verriegelte die Tür, löschte das Licht und trat auf den Balkon. Die Nacht war lau, das Meer leuchtete im Laternenlicht, und es spielte auch jetzt noch irgendwo Musik. Ich streifte nur noch die Schuhe ab und warf mich auf eines der Betten…

Geändert von gummibaum (22.12.2016 um 20:06 Uhr)
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Alt 23.12.2016, 00:25   #76
männlich curd belesos
 
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moin moin gummibaum,

bin erst vor zwei Stunden auf diesen Faden gestoßen und habe ihn langsam von Anfang an durchgelesen.

Momentan bin ich wortlos - doch: "Von Herzen alles Gute"

LG
CB
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Alt 23.12.2016, 11:32   #77
gummibaum
 
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Lieber Curd,

danke fürs Lesen und für die guten Wünsche.

Ich grüße dich ganz herzlich.
gummibaum
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Alt 23.12.2016, 14:16   #78
weiblich DieSilbermöwe
 
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Hallo lieber gummibaum,

da kann man nur sagen:"Chapeau; großes Kompliment, dass du die lange Reise trotz aller Hindernisse und klammheimlich dann doch geschafft hast. Das bewundere ich wirklich.

Mit der KWK lag ich dann wohl richtig?
Aber wahrscheinlich kommt das alles sowieso noch im Text.

Ich habe die Fortsetzung gestern abend schon erfreut gelesen und bin gespannt, wie es weitergeht.

Liebe Grüße an dich
DieSilberm.
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Alt 24.12.2016, 12:56   #79
gummibaum
 
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Liebe DieSilbermöwe,

danke für deine lieben Zeilen. KWK sagt mir nichts.

Schöne Weihnachten!

LG gummibaum
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Alt 24.12.2016, 16:40   #80
weiblich DieSilbermöwe
 
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Lieber gummibaum,

dankeschön, dir auch!

KWK = Kinderwunschklinik.

Liebe Grüße
DieSilbermöwe
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Alt 26.12.2016, 11:08   #81
gummibaum
 
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Ich erwachte um 8.00 Uhr vom Piepsen des kleinen Reiseweckers. Ein bisschen zerschlagen fühlte ich mich noch und begann im Liegen den steifen Arm zu massieren. Teresa wollte um 9.00 Uhr an der Hotelrezeption sein und mit mir nach Santo Domingo in die Klinik fahren. Aber ich rechnete damit, dass sie vor 11.00 nicht hier sein würde, da sie zumindest in den ersten Jahren immer 2 Stunden zu spät kam.

Ich hatte sie vor einem Monat um die Telefonnummer der Klinikärztin gebeten, die ihr die stimulierenden Medikamente und Injektionen verschrieb. Ich wollte selbst mit ihr sprechen, ich traute der Sache nicht. Ich hatte das Gefühl, mein Geld fließt in andere Kanäle und ich werde, wenn ich irgendwann persönlich in der Klinik auftauche, mit einem müden Lächeln meines Alters wegen hinauskomplimentiert.

Ich rief also in der Klinik Pro Familia an und las der Doctora Violeta Pineda, die in der Abteilung Fertilidad y Genética Reprodutiva arbeitet, sorgsam vor, was ich mir in Spanisch notiert hatte. Sie schien vollständig auf dem Laufenden, kannte ihre Patientin Teresa offenbar gut und meinte: „No hay problema.“ „Wenn Sie gesund sind, spielt das Alter keine Rolle.“

Ich hatte Teresa vor einem Jahr, am letzten Tag meines Besuches, gefragt, ob sie nicht nochmals Kinder wollte. Schließlich war sie jung genug, der Tod ihrer beiden Kinder lag ein paar Jahre zurück und ihr Schmerz darüber hatte nachgelassen. Ich hatte schon längst nicht mehr an mich als den möglichen Vater gedacht wie noch am Anfang dieser Beziehung. Ein junger Mann an ihrer Seite schien mir realistisch. Aber seltsamerweise antwortete sie: „Quizás por una inseminación.“ (Vielleicht durch eine Insemination). Ich stutzte und glaubte, dass sie mich nicht wieder eifersüchtig machen wollte. Ich hatte früher einmal ihr ganzes Tagebuch heimlich abfotografiert, und sie hatte die Seiten auf meinem Foto entdeckt. Ich hielt es einfach für zu unwahrscheinlich, dass sie allein mit einem Pflegekind lebte und all die Männerstimmen, die ich bei Anrufen im Hintergrund hörte, nur aus dem Fernseher stammen. Aber dann fragte sie unverblümt: „Quieres ser mi donante, Archim?“ (Möchtest du mein Spender sein?) Mir fehlten die Worte. Nach einer Weile sagte ich: „Sería un gran honor para mi.“ (Es wäre mir eine große Ehre.) Sie wollte damals sofort zur Klinik, und als ich einwandte, dass meine Umhängetasche kein Geld mehr enthielte, folgerte sie pragmatisch: „Entonces lo haremos, cuando regreses!“ (Dann machen wir es, wenn du wiederkommst.)

Nun war ich zurückgekehrt. Ich stand vorsichtig auf und duschte mich, rasierte mich, trug die Narbensalbe auf und wählte leichte Sommerbekleidung. Mehr als ein Jahr lang hatten ihre Worte nachgehallt, mich ermuntert und gerührt und manchmal, wenn ich kleine Kinder sah, war ich den Tränen nah. In der Schule hatte ich einen Kollegen ermutigt, trotz seiner Fünfzig den Kinderwunsch noch wahrzumachen, aber der war Realist genug, mich zu unterbrechen: „Was nützt dem Kind ein Vater, der stirbt, bevor es erwachsen ist?“

Um Viertel vor neun verließ ich mein Zimmer, um zu frühstücken. Ich musste an der Rezeption vorbei, und so lief ich durch die langen und breiten Gänge und über die Treppen immer dem Hinweisschild nach. In der großen Eingangshalle drängten sich am Tresen die frisch Angereisten. Die Bediensteten schleppten das Gepäck auf die Zimmer, und überall lungerten Uniformierte vom Sicherheitsdienst herum. Gegenüber vom Tresen standen für wartende Gäste Korbstühle und Tische bereit. Als ich meinen Blick im Vorbeigehen schweifen ließ, sah ich dort etwas, von einer Säule halb verdeckt, das mir bekannt vorkam. Teresa hatte ihre Frisur immer wieder mal verändert, aber manchmal trug sie die Haare einfach wild, wie sie wuchsen, und ein solch wuscheliger Hinterkopf schien auf einem der Stühle zu warten.

Ich ging um die Säule herum und noch ehe ich sie ganz umrundet hatte, war Teresa aufgestanden: „Archim!“ Sie umarmte mich fröhlich. Ich hielt ihren Körper lange an mich gepresst. Ich war wie ein Schiffbrüchiger, der endlich das Land erreicht. Ich weinte.
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Alt 26.12.2016, 15:42   #82
männlich curd belesos
 
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wortlos

Curd
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Alt 26.12.2016, 17:59   #83
männlich Schippe
 
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Das ist wohl der erste Faden, der über mehrere Seiten geht, den ich komplett durchgelesen habe. Spannend und sehr persönlich, wirklich ansprechend. Alles Gute für den weiteren Heilungsprozess und dem Abenteuer mit Teresa.

MfG
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Alt 27.12.2016, 16:32   #84
männlich Gylon
 
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Lieber gummibaum,
deine Geschichte ist weiterhin sehr bewegend. Gute Besserung und lass dich nicht unterkriegen!

Liebe Grüße Gylon
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Alt 28.12.2016, 22:19   #85
gummibaum
 
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Hallo, DieSilbermöwe,

herzlichen Dank fürs Lesen, die richtige Vermutung und hilfreiche Erklärung.


Hallo Curd, Schippe und Gylon!

Schön, dass ihr den Text begleitet. Da macht das Schreiben noch mehr Spaß.

LG gummibaum
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Alt 28.12.2016, 22:29   #86
gummibaum
 
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Wir küssten uns immer wieder, und ich genoss ihre weichen Lippen. Dann trat Teresa einen Schritt zurück und musterte mich. „Du hast abgenommen!“, sagte sie besorgt.

Kurz nach dem Tod ihrer „beiden Schätze“ war Teresa auch recht dünn geworden, und mir gefiel diese Figur. Aber schon ein Jahr später, 2012, hatte sie zugenommen, ihr Busen war dicker geworden und tat seltsamerweise weh. Eines Abends, als ich das Striplokal kennenlernen wollte, in dem sie eine Zeit lang bedient hatte, zwängte sie den Körper in enge, knallgelbe Jeans. Steckte die braunen Beine erst in eine Plastiktüte, um leichter in diese Hose zu gleiten. Sie trug rote High Heels und stöckelte unsicher an meiner Seite über die schadhaften Gehwege.

Sie war danach so vollschlank geblieben, aber jetzt, 2016, hatte sie flache Schuhe, weitere Hosen und ein pastellfarbenes Sakko an, und ihr rundliches, liebes Gesicht strahlte einen gewissen Liebreiz aus.

Nun untersuchte sie kritisch meinen linken Arm und fand ihn ganz passabel. Ich hatte ihr nach der Operation ein Röntgenbild geschickt, und sie war begeistert gewesen: „Muy claro!“ Ein so kontrastreiches Bild von Knochen mit Schrauben gefiel ihr.

Ich lobte, dass sie diesmal so pünktlich war und sagte, ich müsste noch frühstücken. Ihr etwas aus dem Speisesaal mitzubringen, schlug sie aus. Sie müsse nüchtern für die Klinik bleiben.

Ich bat sie, kurz zu warten, ging durch die weiträumige Hotelanlage bis zu dem schilfgedeckten großen Holzpavillon, der dreimal am Tag für die Mahlzeiten öffnet und dessen leckeres Speiseeis mir vor zwei Jahren einen schrecklichen Durchfall mit Krämpfen beschert hatte. Gäste vieler Länder bewegten sich wählerisch zwischen den über hundert Gerichten. Ich aber schaufelte nur rasch etwas Fleischiges und ein paar Ananasstückchen auf meinen Teller und aß express. Danach lief ich wieder an Teresa vorbei, um aus dem Zimmer noch mein Geld zu holen.

Vor dem Hotel umkreisten uns die Mopedtaxis. Teresa wies sie aber mit „no, mi amor!“ oder „no, negro!“ ab. Sie nahm schützend meinen linken Arm in die Mitte und gab mir die rechte Hand, und als wir an der Hauptstraße waren, hob sie die linke, und schon hielt ein klappriges Guagua (Kleinbus) und ließ uns einsteigen.

In Santo Domingo war wieder das übliche Chaos. Zäher Verkehrsfluss und Stau. Hupen und warten. Die meisten Autos nur noch Schrott. Dazwischen die Motorräder. Nie ein Helm. Vater und Mutter hatten die Kinder zwischen sich eingeklemmt, deren Schuluniformen leuchteten. Auf den Gehwegen faulten Marktabfälle, lagen der Bauschutt und die Bettler, auf knappen Grünflächen der Plastikmüll. Es stank nach allem Möglichen.

Im Zentrum stiegen wir in ein Taxi um und schließlich an der Klinik aus. Eine halbe Stunde blieb uns bis zum Termin um 11.00 Uhr.
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Alt 30.12.2016, 03:27   #87
gummibaum
 
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Der Eingangsbereich vor der Klinik, deren Ausmaße nur etwa 1 % der Göttinger Uniklinik betragen (während Santo Domingo ungefähr 30mal größer als Göttingen ist) liegt ein Kiosk, und während ich mich auf einem der Metallsitze niederließ, die diesen Bereich flankieren, kaufte Teresa mir einen Kaffee im Plastikbecher, klein, stark und süß wie Espresso, weil sie glaubte, dass ich mich von der einstündigen Anreise erholen müsse. Ich saß als einziger Hellhäutiger zwischen den dunklen Frauen, und ein Klinikwächter, der mich argwöhnisch ansah, begann in meine Richtung zu schimpfen. Ich verstand nur „Blanquito“ (Bleichgesicht), aber zum Glück kam Teresa zurück und erklärte ihm, dass ich zu ihr gehörte.

Im Innern der Klinik gingen wir zum Anmeldungstresen. An der Wand das Ölporträt der Namensgeberin der Klinik, Evangelina Rodriguez, der ersten dominikanischen Frau, die in Medizin promovierte, doch den Diktator Trujillo zu offen kritisierte und 1947 umkam. Mein Personalausweis wurde abgeschrieben, und ich sorgte dafür, dass Name und Geburtsort nicht verwechselt wurden. Teresa gab mich als ihren Esposo (Ehemann) aus, und als sie nach meinem Alter gefragt wurde, wusste sie es nicht und fragte mich. Die Angestellte trug die 63 in ein Formular ein. Dann musste ich einen Betrag bezahlen, der zunächst nur die für Teresa vorgesehene Untersuchung abdeckte.

Teresa zog eine Nummer, und dann setzten wir uns in die Sitzreihen der Wartehalle, wo junge und alte, dicke und dünne Frauen, Mütter mit Babys und Schwangere saßen und warteten, dass jemand uns aufrief. An der Wand waren Schilder angebracht, die die Richtung zur Biopsía, Mamografía, Radiografía usw. wiesen, aber wir wollten ja zur Fertilidad.

Im letzten Jahr war es die Mamografía, und ich wartete hier auf Teresa, die sich den Busen wegen Krebs operieren ließ. Sie kam nach zwei Stunden mit einem Verband auf der Brust aus der Abteilung und regte sich auf, dass ich Fotos von den Patientinnen machte. Sie trug ihre Infusionsflasche in der hochgehaltenen Hand, und während es tropfte und die Kanüle schließlich verstopfte, fuhren wir im vollgestopften Guagua wieder zu ihr nach Hause. Dort zeigte sie mir die Rechnungen der vielen Medikamente, durch deren Nebenwirkungen sie in den letzten Jahren zugenommen habe und zwischendurch glatzköpfig gewesen sei, und ich schrieb mir die Namen ab und fand später, dass es meist Hautpilzmittel und keine Chemotherapeutika waren.

Diesmal zog sich das Warten in den Nachmittag hinein. Unter den Frauen, die wie wir zur Fertilidad wollten, brach immer mehr Unruhe aus. Es hieß, Doctora Violeta Pineda sei in ihrem Zimmer und schon eine Patientin bei ihr, aber niemand begriff, weshalb es nicht weiterging.
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Alt 30.12.2016, 19:55   #88
weiblich DieSilbermöwe
 
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Ich finde diese Erzählung aus drei Gründen sehr interessant: erstens aus beruflichen, zweitens aus dem Grund, dass mir das alles nicht mehr passieren kann, drittens, weil es mich fasziniert , was Frauen ( und auch Männer) wegen Kinderwunsch auf sich nehmen.

Und obwohl ich mit Kleinkindern absolut nichts mehr am Hut habe: Diese Entschlusskraft und dieser Wille imponiert mir.

Und merkwürdigerweise mag ich Geschichten, in denen es um Kinderwunsch geht .... Das hat etwas von Glaube und Zuversicht an eine glückliche Zukunft.
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Alt 02.01.2017, 07:20   #89
gummibaum
 
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Wir stellten anhand der Nummern fest, dass wir die zweiten in der Reihe waren, und so ermutigten wir die Frau, die vor uns drankam, an der Tür der Ärztin der klopfen. Sie hatte Erfolg, wurde eingelassen und kam schon bald wieder zum Vorschein, erleichtert lachend, so dass nun wir ins Sprechzimmer gingen.

Es war ein kahles, kleines Zimmerchen mit winzigem Schreibtisch, und die junge Frau, die dahinter saß, ließ uns auf zwei Stühlchen davor Platz nehmen. Teresa stellte mich ihr freudig als „mi Esposo Archim“ vor, und weil ich ihr vor neun Jahren die erste Postkarte geschrieben hatte, fügte sie hinzu: „Wir sind schon neun Jahre zusammen.“ Ich mischte mich nicht ein, obwohl mir einfiel, dass sie erst zwei Jahre später auf diese und viele weitere Karten reagiert hatte, und ich zusammenrechnete, dass wir uns nur ganze sechs Wochen seither gesehen hatten. Die Ärztin, wohl eher ein wissenschaftlicher Typus, schien ohnehin nicht darauf anzusprechen. Sie blickte nur auf ihren kleinen Flachbildschirm und fragte: „Teresa, wann war deine letzte Regel?“ Teresa gab nun recht bescheiden die verlangte Auskunft. Am 7. Dezember sei die Blutung vorüber gewesen. Die Ärztin bewegte die Maus auf dem Tisch, klickte etwas an und meinte lakonisch: „Dann können wir es heute nicht machen.“

Danach sah sie vom Bildschirm auf, und ihr wohlgeformtes, dunkles Gesicht richtete einen eher kühlen Blick auf Teresa: „Geh bitte rüber, ich möchte dich untersuchen.“ Teresa stand auf, verschwand durch eine Tür, und Violeta Pineda folgte ihr.

Die Tür zum Nebenraum blieb angelehnt, und ich hätte sie gerne aufgestoßen und die Untersuchung genauestens verfolgt. Aber dann fand ich diese Absicht doch zu dreist und zwang mich, reglos dazusitzen und nur zu horchen. Doch ich hörte fast gar nichts.

Nach etwa drei Minuten erschien die Ärztin wieder, setzte sich mir gegenüber und fragte: „Wie lange bleiben Sie?“ „Sechs Tage noch.“ „Dann kommen Sie wieder. Die Zeitspanne ist zu kurz.“ Ich war gelähmt. Teresa kam aus dem Zimmer, und ich teilte ihr fassungslos mit, dass unsere Pläne gescheitert waren. Ich war überzeugt, dass die höhere Macht wieder zuschlug. Teresa wirkte auch nun betroffen. Sie beeilte sich, der Ärztin klarzumachen, dass "Archim" wegen des weiten Weges höchstens einmal im Jahr hierher kommen könnte. Violeta Pineda begriff unser Missgeschick. Sie nahm sich einen Zettel und einen Stift. Ich könne doch die erforderliche Untersuchung, Blut und Sperma, schon diesmal durchlaufen. Der nächste Montag wäre möglich. Als ich einwandte, dass an diesem Tag mein Flugzeug am Nachmittag ginge, setzte sie den Termin auf früh um 8.00 Uhr fest, kreuzte auf dem Zettel etwas an und gab ihn an Teresa für das Labor mit. Wir konnten gehen.
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Alt 02.01.2017, 23:27   #90
weiblich Ex-Dabschi
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Lieber Gummibaum,

heute las ich ab #71 bis zum vorläufigen Ende weiter. Ich sehe die Bilder zu Deiner Erzählung und irgendwie fesselt mich Deine Geschichte.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass zum Ende der Geschichte herauskommt, dass es ein Experiment war, um herauszufinden, wie die Leser darauf reagieren bzw. wie die Leser reagieren, wenn diese Geschichte von Dir eventuell nur frei erfunden wurde. Aber das glaube ich nicht.

Andererseits wäre es schon sehr geschickt eine "halbwahre" Geschichte zu erzählen, die z.B. mit einem Unfall, wo der Autor zu schreiben beginnt und er anschließend seiner Phantasie freien Raum lässt ...

Ob real oder nicht - ich finde Deine Geschichte toll und bin gespannt wie sie weiter geht.

Wenn sie tatsächlich komplett real ist, wünsche ich Dir alles Gute mit Teresa, vor allem gutes Gelingen.

Liebe Grüße
Dabschi
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Alt 04.01.2017, 05:49   #91
gummibaum
 
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Liebe DieSilbermöwe, liebe Dabschi,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ich freue mich.

LG gummibaum
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Alt 04.01.2017, 05:53   #92
gummibaum
 
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Auf der sonnenheißen Straße begann ich, ärgerlich auf Teresa einzureden. Hatte sie nicht gesagt, die Hormongaben steuerten ihren Zyklus und mich in dem Glauben gelassen, ihr Eisprung sei heute, und es käme nur noch auf mich an, damit sie schwanger würde? Ich war enttäuscht.

Teresa schien sich nicht darüber erklären zu können. Vielleicht wusste sie es nicht besser. Gern hätte ich die Ärztin ausgefragt und erfahren, was sie mit Teresa besprochen hatte. Aber Violeta sprach nicht so langsam mit mir wie Teresa, und mein Spanisch reichte nicht aus. Ich haderte mit mir, so naiv zu sein und mich nicht längst in Deutschland mit den Möglichkeiten und Unwägbarkeiten der Insemination genauer befasst zu haben. Aber, das war mir nur allzu bewusst, mir war es eben nicht geheuer dabei gewesen, den Kinderwunsch umzusetzen, und deshalb hatte ich eher weggesehen von dem, was ich immer weiter vorantrieb. Ich stockte im Reden und fragte schließlich: „Qué hacemos ahora, mir amor?“ (Was machen wir jetzt, meine Liebe?). Und damit meinte ich die Insemination.

Teresa hatte sogleich etwas anzubieten. Wie wäre es, ihre Mutter Daniela in Santiago de Caballeros zu besuchen? Sie würde sich freuen, mich unerwartet wiederzusehen. Zwar passte die Antwort nicht recht auf meine Frage, aber ich war nicht abgeneigt. Schließlich mochte ich Daniela. Sie war nicht viel älter als ihre Tochter und 2012 war sie es, die sich mit anstrengte, Teresa zum Visum zu verhelfen, umsonst allerdings, da die Deutsche Botschaft stur blieb: es fehle Teresa an Privatvermögen, das eine Rückkehr ins Heimatland garantierte.

Ich wollte nun eigentlich erst noch ins Hotel, doch Teresa beruhigte mich, ihre Mutter schenke mir sicher wieder etwas Wäsche zum Wechseln aus ihrem Second-Hand-Geschäft, und morgen könnten wir zum Hotel. So saßen wir kurz darauf im klimatisierten Linienbus, kuschelten uns zwei Stunden lang aneinander, weil wir froren. In Santiago nahmen wir ein Taxi und nun, als ich stutzte, weil es nicht den mir bekannten Weg fuhr, erzählte mir Teresa, dass ihre Mutter nicht mehr zur Miete wohnte. Sie habe ein Haus gekauft.

Es ging zum Stadtrand und dort ins Feld und auf schlammigen Wegen an weit verstreuten Baracken vorbei. Es wurde schon dunkel, als Teresa halten ließ. Sie ging in den Schuppen, der hier stand, vier rohe Bretterwände mit einem Wellblechdach, und kam mit Verwandten heraus, die darin wohnten und die uns zum nächsten solchen Schuppen geleiteten. Aber Daniela war noch nicht zu Hause.

Also boten uns die Verwandten geflickte Plastiksesselchen an. Sie fragten, wer ich sei und woher ich käme. Teresa deutete auf ein groß gewachsenes Mädchen, dem ich zusah, wie sorgsam es einem Baby das Fläschchen gab. Es sei seine Mutter, aber selbst erst vierzehn. Dann hörten wir Motorgeräusche, und aus dem klapprigen Auto entstiegen Daniela und ihr jetziger Mann, Winton, zehn Jahre jünger als sie. Die beiden kehrten vom Kleidungsverkauf zurück, dem Straßenrand in Santiago, wo sie stets mit lauten Rufen ihre Ware anpriesen, aber wenig verkauften. Die beiden begrüßten uns freudig und nahmen uns mit zu sich.

Die Nacht über lag ich mit Teresa in Danielas Bett, die mit Winton ein improvisiertes Lager bezogen hatte. In den Morgenstunden, als die Hähne krähten, versuchte ich Teresa mit Küssen zu stimulieren. Doch sie flüsterte: „No debemos manchar la cama de Daniela!“ (Wir dürfen Danielas Bett nicht beflecken.) Ich tat mich schwer damit. Ich hatte einen Monat für die Insemination gespart und fühlte mich wie eine Kuh, die man lange zu melken vergessen hatte. Ich sagte es Teresa, und sie meinte, ich müsste nur noch bis Montag durchhalten für das Labor. Wir lachten und dann sagte ich: „Te amo mucho!“ (Ich liebe dich sehr) und sie sagte mir das gleiche, und ich erzählte ihr einmal wieder, wie ungewöhnlich es vor zehn Jahren mit dieser Liebe begonnen hatte.

Geändert von gummibaum (04.01.2017 um 09:51 Uhr)
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Alt 04.01.2017, 19:35   #93
männlich curd belesos
 
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............immer noch sprachlos, aber ich lese ja

lieben Gruß aus den überfluteten Trave-Niederungen
von Curd.
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Alt 04.01.2017, 22:42   #94
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Standard prosa

Lieber gummibaum,

es ist doch erstaunlich, was man alles übersieht! Nun bin ich tatsächlich, (ich, einer deiner größten Fans), erst heute auf diese Prosa-Berichte gestoßen. Welch ein Lesegenuss!
Und ich schreibe dir etwas von

„…das traf mich schon mein Leben lang.
Erst war ich (meist vergeblich) krank…“

Aber es ist natürlich wahr, dass in meinen Zeilen nicht nur ein Körnchen Wahrheit, sondern fast der berühmte Reissack steckt, der gerade in China umgefallen ist.

Bei weitem nicht so schlimm wie bei dir und für eine Fortsetzungsgeschichte eher ungeeignet.

Jedenfalls war ich fasziniert, was nicht alle Tage vorkommt und ich bin natürlich auf alles gespannt, was du noch schreibst.

Erst einmal: alles Gute und viel Glück für 2017!
Herzlich grüßt Lewin.
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Alt 05.01.2017, 22:42   #95
gummibaum
 
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Lieber Curd,

danke fürs Lesen. Ich hoffe, ihr schwimmt an der Trave nicht weg. Hier, um meine Reha-Klinik in Bayern, hat Tief Alex Schnee aufgeschichtet.


Lieber Lewin,

ich dachte, deine Krankheit sei erfunden. Wenn sie real ist, nährt sie wahrscheinlich deine Texte, die ich genieße.

LG gummibaum
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Alt 05.01.2017, 22:56   #96
gummibaum
 
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2006, als meine Ehe scheitere, der Winter sich in den Frühling hineinzog, und meine Seele fror, begann ich, eine Liebesgeschichte zu schreiben. Sie spielte in der Karibik, weil ich wollte, dass es endlich warm ist und alles erblüht. Doch nach ein paar Textseiten verlor mein Ich-Erzählers seine Geliebte. Ein tiefes Misstrauen ins Glück hatte mich eingeholt. Ich brach die Geschichte an dieser Stelle ab und suchte nach anderen, unverfänglichen Themen.

Doch ein Link im Internet führte auf die Seite einer Partnervermittlung, die westlichen Männern schöne und treue Dominikanerinnen in reicher Auswahl anbot. Ich druckte mir das Foto einer Neunzehnjährigen aus, die wie die Madonna aussah, und nun geschahen in meiner Geschichte wunderbare Dinge, und ich konnte sie weiter schreiben.

„Me prometieron conseguirme trabajo“ (Sie versprachen mir Arbeitsbeschaffung), widersprach Teresa. Ich ging nicht darauf ein, denn früher hatte sie an dieser Stelle über die Partnervermittlung gesagt: „Me prometieron una beca para un estudio en el extranjero (… ein Stipendium für ein Auslandsstudium).

Als die Geschichte 2006 abgeschlossen war, verbannte ich sie und das Foto auf den Speicher, denn ich glühte vor Liebe zu dieser Unbekannten. Erst ein Jahr später las ich sie wieder, schickte sie dann an die Partnervermittlung und bat sie, der Unbekannten meinen Dank für dieses Gelingen zu übermitteln.

Ich küsste Teresa jetzt in Danielas Bett.

Die Partnervermittlung antwortete: „You can get this womean…“ Ich saß, als ich das las, am Computer im Lehrerzimmer, und die Kollegen glaubten 2007, ich sei verrückt geworden. Ich schlug auf den Computer und lachte, und der Bildschirm verlor den Kontrast und die Farbe.

Aber einen Tag später kam die Ernüchterung: „Look for another lady…Die Frau ist verzogen. Wir haben ihr Bild gelöscht.“

„Mentira!“ (Lüge), sagte Teresa. „No me fui…“ (Ich zog nicht um.) Wieder küsste ich sie und wurde diesmal ganz unruhig.

Ich wollte keine andere „Lady“! Ich bat die Partnervermittlung händeringend, mir die alte Adresse von Teresa zu schicken, und sie tat es mit der Bemerkung: Ich solle mir keine falsche Hoffnung machen. Auf dieser Insel wäre kaum jemand mit Wohnsitz gemeldet. In der Dominikanischen Republik zögen die Menschen ständig weiter auf der Suche nach Arbeit.

Ich aber kaufte ein Lernbuch für Spanisch.



Nachdem nun Daniela und Winton aufgestanden waren, ging ich ins baño (Bad), einen nicht durch Wände und Tür geschützten Raum. Lediglich von Wäscheleinen hängende Tücher trennten in diesem zusammengenagelten Haus die Räume ab. Da es kein fließendes Wasser gab, schöpfte ich es aus dem Plastikfass, um mich zu waschen und die Toilette, die keine Klobrille hatte, zu spülen. An einigen Stellen im Haus lagen die Wäschestapel für den Second-Hand-Verkauf, und Daniela schenkte mir daraus ein Sportlertriokot, das früher vielleicht einem Basketballspieler gehört hatte.

Sie kochte für uns Kaffee und Platanos (Kochbananen), briet Rührei, und während die andern am Tisch saßen, aß sie im Stehen.

An diesem Tag und auch an den nächsten, die ich hier noch blieb, weil Teresa mir die Abreise immer wieder ausredete, bis ich zornig wurde, gab es Platanos, Nudeln und Kartoffeln, Lebensmittel, die billig sind. Winton und Daniela fuhren nicht zur Arbeit, und Teresa bat mich jedes Mal um Geld, wenn sie zum Colmado (Lädchen) einkaufen ging. Als ich sie fragte, ob sie Daniela dieses Haus auch mit meinem Geld, das ich für Medikamente schickte, bezahlt hatte, gestand sie: „Un poco“ (ein bisschen).

Später gab Daniela mir Lesematerial, denn sie sorgte sich, dass es mir langweilig war. Sie selbst hatte das Lesen erst vor zwei Jahren gelernt, ein bisschen mit Teresas Hilfe. Und so saß ich im Essraum auf einem Sofa, dem besten Möbel im Haus, auf dem jetzt nur ich allein sitzen durfte, und las in ihren wenigen Büchern, die alle von der Mission der katholischen Kirche stammten: „Die vier Temperamente“ und die „Hilfen zum Bibelverstehen“: „Para qué quiero conocer la Bibla? Para descubrir a Dios…“ (Warum möchte ich die Bibel kennenlernen? Um Gott zu entdecken…). Und während ich las, liefen immer zwei Hündchen um meine Füße herum.

Wenn ich draußen auf der Betonterrasse in einem der Plastiksesselchen saß, hörte ich um mich die Hähne krähen und die Ziegen meckern und die Rufe vom Nachbargrundstück über den Stacheldraht schallen. Nur im Schatten war es hier auszuhalten. Die Sonne stand hoch und saugte aus den Pfützen den nächtlichen Regen, und die Schmetterlinge flattern über die Sonnenblumen zwischen den Palmen.

Einmal stand ich auf und ging den Weg entlang, und schon nach hundert Metern hörte ich Teresa hinter mir herrufen: "No, Archim!" Als ich dennoch weiterging, wurde ihre Stimme hysterisch, und als ich mich umdrehte, stand sie mit wild winkend auf dem Weg. Ich machte seufzend kehrt. Dort sei ein barranco (Schlucht), sagte sie. Ich hätte hineinfallen können.

Winton reparierte sein Auto, und als Teresas Brüder, Roni und Dauri, auftauchen, auch das noch, in dem sie gekommen waren. Mit freiem Oberkörper war der schlanke Sechsundreißigjährige unentwegt am Klopfen, Feilen, Schrauben. Das Werkzeug war alt und wenig tauglich, die Karossen zeitweise ohne Räder auf Ziegelstapel hochgebockt, aber alle paar Minuten heulte einer der Motoren auf, und zeigte das Resultat der Arbeit.

Ich war mit meinem linken Arm beschäftigt, bog mir das Hand-, das Ellbogen- und Schultergelenk, und zwar im Takt, denn ein Autoradio machte laute Musik. Teresa massierte zwischendurch meine Narbe mit einer Eukalyptussalbe, die als Allheilmittel galt.

Wenn Teresa mit ihren Brüdern diskutierte, und das tat sie oft, merkte man, dass sie das Gespräch beherrschte. Der um zwei ältere Roni und der zehn Jahre jüngere Dauri hatten keine Schule besucht wie sie, denn Teresa war nicht bei Daniela, sondern bei deren Tante aufgewachsen. Teresa wusste, wie sie glaubte, etwas mehr von der Welt und hatte durch mich einen anderen Standard. Ihrer Mutter sagte sie, wer wagt, gewinnt, und dass sie jetzt tatsächlich bald nach Deutschland, zu Archim, ginge. Und mir erklärte sie nebenbei, dass ich mich nur noch scheiden lassen müsse, damit sie ihr Visum bekäme. Das wüsste sie inzwischen von einem Anwalt.

Geändert von gummibaum (06.01.2017 um 04:27 Uhr)
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.01.2017, 09:04   #97
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Jetzt bin ich ein wenig sprachlos .... faszinierende Geschichte.

Und natürlich schießt mir eine Frage durch den Kopf ( die du aber gar nicht beantworten sollst, weil sie ein Stück Spannung wegnehmen würde):
Warum reist der Erzähler denn in die Dominikanische Republik, um dort das alles auf sich zu nehmen, wenn Teresa sowieso zu Achim nach Deutschland kommen will?

Wahrscheinlich ist die Frage arrogant ("Hier ist doch alles besser").

Wie gesagt, bitte nicht beantworten.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.01.2017, 14:00   #98
männlich curd belesos
 
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Warum reist der Erzähler denn in die Dominikanische Republik, um dort das alles auf sich zu nehmen, wenn Teresa sowieso zu Achim nach Deutschland kommen will?
Ach, du liebe Silbermöwe,

du solltest es wissen : Der Mensch (Teresa) denkt, doch Gott lenkt.

Aber Fragen über Fragen...

Will Achim denn auch, dass sie nach Deutschland kommt ??

Wird sie vielleicht doch noch schwanger und kann dann nicht fliegen??

Ansonsten für dich und alle Leser - bleibt dran, dann werdet ihr es erfahren

Gummibaum, du faszinierst mich nicht erst seit "Prosa"

Dir liebe Silbermöwe einen fischreichen Tag, es ist schließlich Freitag

LG
CB
curd belesos ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.01.2017, 14:29   #99
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Hallo gummibaum,

Du hast deine Geschichte so lebendig und authentisch erzählt, dass man gerne an deinen Lippen bleibt.

Was ich aber unbedingt noch wissen möchte...bevor ich es wieder vergesse:

Zitat

Zitat:
Doch ein Link im Internet führte auf die Seite einer Partnervermittlung, die westlichen Männern schöne und treue Dominikanerinnen in reicher Auswahl anbot.
Hast Du mal den Link für mich?

Gruß, A.D.
AndereDimension ist offline   Mit Zitat antworten
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