Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 15.11.2018, 19:27   #1
männlich Lovepoet 1984
 
Benutzerbild von Lovepoet 1984
 
Dabei seit: 02/2018
Ort: In einer wundervollen Kleinstadt in Niedersachsen
Alter: 40
Beiträge: 51


Standard Das Märchen vom Lied des Todes

Vor langer Zeit, da lebte mitten in einem Wald eine Frau mittleren Alters mit ihrer Tochter. Die Frau war ‚Jägerin von Beruf‘, wie sie immer sagte, denn sie liebte das Zusammensein mit den Tieren und den Umgang mit der Natur. Oft unternahm sie gemeinsam mit ihrer Tochter stundenlange Spaziergänge, um dem Kind die ganzen Wunder ihrer Umgebung beizubringen. Manchmal lagen sie sogar nachts einfach auf einer Lichtung, die groß genug war, dass man ein ganzes Stück vom Himmel sehen konnte und schauten dem Mond und den Sternen zu. Und wenn zufällig eine Sternschnuppe am Himmelszelt entlang strich, da sagte sie zu dem Mädchen: „Mein Schatz, du darfst dir etwas wünschen.“

Die beiden wohnten in einem alten Holzhaus, das von stabil gebaut war, aber angenehm urig und ansprechend aussah. Wäre jemand vorbeige-kommen, dann wäre es ihm oder ihr nicht schwergefallen zu glauben, dass dort jemand lebte. Das Haus war verhältnismäßig groß. Es hatte mehrere Räume wie Ess-, Schlaf- und Badezimmer, ein paar Stauräume und ein Arbeitszimmer, wo die Mutter einen Großteil ihrer Jagdutensilien aufbewahrte. Mittendrin stand ein großer, edler Schreibtisch aus Mahagoniholz, wo sie ihre Ausflüge plante und niederschrieb. Denn irgendwann, so sagte sie immer, wollte sie ein Buch veröffentlichen. Und zwar nicht irgendeines, sondern eines, wo sie alle Tier- und Pflanzenarten, die jemals existiert hatten, darstellen und für die Nachwelt festhalten konnte. Das war ihr großes Ziel.

Und dann gab es da noch einen Raum, der anders war als die Anderen, da er sehr düster und verlassen wirkte. Und solange das Kind denken konnte, war er verschlossen. Es fragte zwar oft neugierig: „Mama, was ist mit dem Raum? Warum ist er immer verschlossen? Und warum sieht er so düster aus?“ Aber die Mutter sah das Kind dann immer nur streng an und ermahnte es eindringlich: „Meine Tochter, liebstes Kind, mach dass das Böse nie gewinnt“, drehte sich um und ging wieder ihrem Alltag nach.

Die Mutter sah selbst beim Jagen immer sehr elegant aus in ihren oft grünen, selbstgestrickten Wollpullovern, die ihre schlanke Figur noch unterstrichen. Und die blonden, meist offen getragenen, schulterlangen Haare ergänzten das für ihr Alter sehr jugendhafte Äußere. Während das Kind immer lange, schlichte weiße Kleider trug, die zu ihren ebenfalls langen, dunkelblonden Haaren passten.

Irgendwann, als das Kind ein wenig älter war, dachte es, dass es bereits den ganzen Wald kennen würde. Doch eines Tages kamen sie an eine Stelle, die sie noch nicht kannte. Auf einmal standen sie an einer Lichtung, von der aus nur ein sehr alter und düsterer Pfad weiterführte. Plötzlich wurde die Mutter unruhig, was das Kind erst nicht registrierte. Es stand auch ein Wegweiser da, der sehr alt und instabil aussah. Das Kind ging darauf zu und versuchte die Aufschrift zu lesen.
„Was steht da, Mami?“ fragte sie neugierig und musste die Augen zusammenkneifen, um gegen die blendenden Sonnenstrahlen etwas sehen zu können.
„Liebes, bitte komm sofort da weg.“
Aber das Kind ging näher heran und musste sich bemühen, die bereits vergilbte Aufschrift zu entziffern.

„MUSIKPARADIES - EINTRITT NUR FÜR KINDER“

stand dort in einer alten Runenschrift, die das Kind noch nie gesehen hatte. Und darunter etwas kleiner:

„Nur wenn du triffst den Ton, den rechten, bist du eine von den Echten.“

Die Tochter fing aufgeregt an zu betteln: „Ein Musikparadies. Oh, wie toll. Mami, wollen wir da hin? Von so etwas habe ich schon immer geträumt.“ „Nein!“ sagte die Mutter eindringlich. „Das ist nichts für Dich. Wir drehen jetzt um und gehen nach Hause.
„Ach, bitte, Mami. Ich würde so gerne mal richtig musizieren.“ „Nein, mein Kind. Wir drehen jetzt um und gehen wieder nach Hause! Hast du mich verstanden?“
„Aber Mami, ich …“
„NEIN HABE ICH GESAGT!!!!“ schrie die Mutter streng, packte das Kind am Arm und sie gingen schnellen Schrittes nach Hause. Doch als das Mädchen abends im Bett lag und nicht schlafen konnte, schaute es nachdenklich aus dem Fenster. Und als sie eine Sternschnuppe vorbeiziehen sah, dachte sie bei sich: ‚Ein Musikparadies. Nur für Kinder. Da möchte ich irgendwann unbedingt mal hin. Das habe ich mir schon immer gewünscht.‘ Dann wurde sie müde und sank in einen tiefen Schlaf.


Am nächsten Morgen erwachte das Kind und trotz, dass es noch ein wenig müde war, stand es auf und ging in die Küche. Die Mutter war schon früh aus dem Haus gegangen, um Fleisch für das Abendessen zu holen und ein paar leckere Kräuter zu sammeln. Es hatte Durst und schenkte sich erstmal einen kräftigen Apfelsaft ein, den ihre Mutter vor einiger Zeit aus selbstherangezogenen Äpfeln hergestellt hatte. Und da die Nacht sehr warm gewesen war, genoss sie es, wie der kalte Saft ihr angenehm wohlig die Kehle herunterlief. Nachdem sie etwas gegessen hatte, fiel ihr auf einmal das Erlebnis vom Abend vorher wieder ein.
„Ein Musikparadies. Nur für Kinder“ erinnerte sie sich an die Aufschrift auf dem Wegweiser. „Ach, wie gerne würde ich da hingehen. Und sei es nur, um mal etwas anderes zu erleben, als immer nur zu jagen und Kräuter zu sammeln. Aber Mami lässt mich bestimmt nicht, geschweige denn, dass sie mit mir dahin geht.“ Und da kam ihr ein wundervoller Gedanke: ‚Was wäre denn, wenn ich einfach alleine dorthin gehen würde? Mami ist ja gerade nicht da. Ich weiß zwar den Weg nur bis zu der Lichtung, aber den Rest werde ich schon finden‘ sagte sie, zog sich ihre alten, leicht abgewetzten Schuhe an und marschierte los.

Sie lief und lief und kam dabei immer wieder an Ecken vorbei, wo sie schon oft gewesen war. Sie hatte zwar ein wenig Mühe, den genauen Weg vom Tag zuvor wiederzufinden, aber schließlich, nach einer Ewigkeit, kam sie an der Lichtung an. Sie ging zu dem Wegweiser und begutachtete ihn nochmal sehr genau und gründlich. Jetzt, da sie alleine hier war, wirkte er noch interessanter und das Kind spürte, wie eine unbändige Neugier und Freude in ihr aufstieg. Ihr Herz schlug schneller und in ihrem Bauch begann es mächtig zu kribbeln. Dann fasste sie sich ein Herz und schlug den dunklen, aber faszierenden Pfad ein.

Je länger sie marschierte, desto düsterer wurde es. Aber das Mädchen hatte nur ein Ziel: Sie wollte unbedingt dieses Paradies sehen. Es war fast so, als würde sie von irgendetwas magnetisch angezogen werden. Und so fiel ihr die zunehmende Dunkelheit nicht weiter auf. Und auch nicht, dass, je tiefer sie in den Wald ging, die Bäume immer kahler wurden und auch die Tiere immer weniger. Selbst das Vogelgezwitscher, von dem der Rest des Waldes sonst so erfüllt war, verstummte mit der Zeit. Doch dann hatte sie es geschafft. Nach schier endlosen Stunden des Umherirrens sah sie auf einmal Licht zwischen den Bäumen. Und als sie näher kam, da sah sie etwas: Mitten auf einer Lichtung stand ein uraltes Haus. Es wirkte sehr heruntergekommen und unheimlich, wie die alten Hexenhäuser aus den Geschichten und Liedern, die sie von ihrer Mutter früher oft vor dem Schlafen gehen zu hören bekommen hatte. Und als das Kind näher kam und ein wenig um das Haus herumging, fiel ihr etwas auf: Das Haus hatte die Form einer riesigen, alten Kirchenorgel. Unten war es breit und die Wände aus braunem Holz. Nach oben hin waren große Orgelpfeifen angebracht, die so aufgebaut waren, dass das Dach spitz zulief. Der untere Rand des Daches war von allen Seiten abwechselnd schwarz und weiß wie übergroße Tasten, mit denen man dieses Instrument normalerweise spielt. Der Rest der unteren Wände bestand aus altem Mahagoniholz. Fasziniert ging das Kind um das Haus herum und sah, dass sich dahinter ein riesiger Garten befand, wo tausende Musikinstrumente von ganz unterschiedlicher Art verstreut umhertollten. Da gab es Blasinstrumente und Glocken, die von selbst spielten, Schlagzeugzubehör, das bereits zertrommelt war, Bassgitarren, die Töne in einer Tiefe spielten, wie sie das Kind noch nie gehört hatte. Ja, sogar eine Harfe, so wie man sie von Engeln her kennt, gab es da, die wie von Geisterhand gezupft schien. Auf einmal fiel dem Mädchen auf, das alle Instrumente dieselbe wunderschöne Melodie spielten.
„Ach, wie wundervoll“ dachte das Kind bei sich „ so viele verschiedene Instrumente. Ich wollte schon immer mal eines spielen“ dachte sie. Und als sie sich genauer umsah, entdeckte sie etwas, was sie besonders faszinierte: eine alte, silbern schimmernde Akustikgitarre.
„Oh, ist die schön! So etwas habe ich ja noch nie gesehen“ sagte sie entzückt. Und da es das einzige Instrument war, das unbenutzt war, kletterte sie über den alten Holzzaun in den Garten, nahm die Gitarre und spielte einfach drauflos. Sie hatte Spaß daran und fing an, zu ihren Klängen zu tanzen und zu singen:



„Ei, ei, ei, so komm herbei,
der, dem gehört diese Orgelei.
Du kriegst mich nicht, denn ich als Kind,
Bin noch geschwinder als der Wind.
Hi, hi, hi und ha, ha, ha,
Das Leben ist so wunderbar.
Ach, wenn ich könnt, sollt es so sein,
Dass dieses Haus hier wäre mein.“


Auf einmal ertönte ein ohrenbetäubender Lärm. Mit einem lauten Knall flog die Haustür auf und eine furchteinflößende Gestalt mit einer riesigen Hakennase, unzähligen Falten und Narben im Gesicht und einem stechenden, von Hass erfülltem Blick, eingehüllt in einen pechschwarzen Mantel kam heraus und schrie mit krächzender Stimme:
„BAH, WAS IST DAS FÜR EIN ENTSETZLICHER LÄRM? DIE GITARRE IST VÖLLIG VERSTIMMT!! UND SINGEN KANNST DU AUCH NICHT!!! SCHER DICH FORT, DU UNVERSCHÄMTES BALG UND KOMM ERST WIEDER, WENN DU VERNÜNFTIG SPIELEN KANNST!!!“
Plötzlich verstummten die Intrumente. Das Mädchen erschrak so heftig, dass es die Gitarre fallen ließ, sich rasch umdrehte, über den Zaun sprang und panisch anfing, zu rennen. So etwas Entsetzliches hatte sie noch nie erlebt. Voller Angst lief sie durch den Wald zurück zu ihrem Haus, wo die Mutter verärgert mit dem Essen wartete. Dann aßen sie gemeinsam zu Abend und das Kind ging unruhig zu Bett. Zu diesem Haus, das schwor sie sich, würde sie nie, nie wieder gehen. Dann schlief sie irgendwann tief in der Nacht ein.

Als die beiden am nächsten Morgen gemeinsam am Frühstückstisch saßen, überlegte das Mädchen, ob es ihrer Mutter von ihrem Erlebnis erzählen sollte.
‚Sie scheint etwas zu ahnen‘, dachte es bei sich, denn ihre Mutter wirkte nachdenklicher als sonst und nach wie vor verärgert. Aber sie schwieg. ‚Ach, was soll ich ihr auch davon erzählen. Ich werde ja eh nicht mehr dahingehen‘, dachte das Kind und aß in Ruhe seinen leckeren Obstsalat, den ihre Mutter ihr aus frisch geernteten Früchten zusammengestellt hatte. Als sie fertig waren, stand die Mutter rasch auf.
„Liebling, bist du so nett und räumst heute den Tisch ab? Ich habe nämlich wieder wichtige, sehr spannende Entdeckungen gemacht. Die muss ich festhalten“ sagte sie und auf einmal fing sie an zu strahlen. „Wusstest du, dass es neuerdings sogenannte Insektenhotels gibt? Die kann man sich in den Garten stellen, damit die Insekten dadrin ihre Eier ablegen, so dass die Larven im Winter geschützt schlüpfen können. Und im Frühling die Pflanzen bestäuben. Das muss ich unbedingt in meinem Buch festhalten. Mal schauen, vielleicht baue ich uns auch mal eines“ sagte sie begeistert. „Was soll ich uns denn heute zu Essen machen? Vielleicht mal wieder einen leckeren Kaninchenbraten? Mit selbstgemachter Soße und Kartoffelklößen?“
„Au ja,“ sagte das Mädchen. „Und zum Nachtisch meine Leibspeise, Schokoladenpudding mit Sahne und Vanillesoße.“
„Alles klar. Bis später dann“ lächelte sie, drehte sich um und verschwand in ihrem Arbeitszimmer.
Nein, das mit den Insektenhotels hatte das Mädchen noch nie gehört, fand es aber auch nicht sonderlich spannend. „Manchmal hat Mama wirklich einen Tick,“ dachte sie, deckte den Tisch ab und ging nach draußen, um ein wenig zu spielen. Aber irgendetwas war anders heute. Sie fühlte innerlich eine gewisse Unruhe. Sie war aufgekratzt und lief ständig ziellos im Garten hin und her. Sie wusste überhaupt nicht, was los war. Und dann kam ihr ein Gedanke:
‚Vielleicht liegt es ja an dem Haus von gestern. Ob ich da nicht einfach doch noch mal hingehen sollte?‘ überlegte sie und blieb kurz stehen. ‚Ach nein. Was soll ich da in dieser komischen Gegend? Vor allem bei dieser merkwürdigen Frau? Nachher brüllt die mich nur wieder so komisch an. Nein, ich bleibe lieber hier bei Mama‘ dachte sie und spielte weiter.
Aber der Gedanke an das Haus ließ sie nicht los. Und schließlich, am frühen Nachmittag, als die Sonne heiß am Himmel schien, fasste sie sich ein Herz und dachte:
‚Ach, was ist schon dabei? Warum sollte ich nicht noch mal dahin gehen? Was soll mir schon passieren? Hier ist ja eh nichts los. Und Mama ist nur am Arbeiten. Solange ich vor dem Abendessen wieder da bin, fällt der das eh nicht auf‘, zog sich ihr altes, kurzes Sommerkleid an und marschierte los. „Mal schauen, was diesmal passiert.“

Als sie bei dem alten Haus ankam, sah sie die alte Frau. Sie stand lachend und singend im Garten vor dem Haus und schwang die Hände seltsam in der Luft. Die Instrumente vor ihr musizierten und es klang, als würden sie nach ihren Handbewegungen spielen. Und auf einmal wurde es dem Mädchen klar: Die Frau dirigierte die Instrumente. Langsam näherte es sich dem Garten und als es vor dem Zaun stand, räusperte es sich vorsichtig und sprach: „Ach, wie klingt das schön, Madam. Darf ich auch mitmachen?“
Auf einmal verstummten die Instrumente und fielen zu Boden. Die Frau erschrak und schaute wild um sich. Als sie das Mädchen erblickte, runzelte sie die Stirn und kam langsam auf sie zu. Dann stand sie vor ihr und musterte sie argwöhnisch. Ein paar Sekunden geschah nichts. Dann sprach die Frau mit krächzender Stimme:
„Du. Hmm. Merkwürdig. Ich habe dich noch nicht erwartet.“
„Sie haben mich erwartet, Madam?“
„Nun, ich sagte doch bereits, noch nicht. Seltsam, sehr seltsam. Du kommst zu früh. Ich kann dich noch nicht gebrauchen.“
„Sie können mich gebrauchen?“ fragte das Mädchen aufgeregt.
„BAH, noch nicht, sagte ich doch. Also, scher dich fort. Und komme dann wieder, wenn deine Note dran ist,“ sagte die Frau, wandte sich ab und ging wieder zurück zum Haus.
„Madam, was meinen sie damit? Wann kommt denn meine Note?“ wollte das Mädchen wissen, stieg über den Zaun und ging der Frau hinterher. „NOCH NICHT! Wie oft soll ich es dir noch sagen?“ krächzte sie, drehte sich zu ihr um und starrte ihr mürrisch ins Gesicht. „Und jetzt verschwinde. Du kannst nicht spielen und bist garantiert sowieso völlig unmusikalisch. Aus dir wird nie etwas. Also geh!“
„Aber ich würde so gerne einmal ein Instrument spielen. Und singen kann ich. Zumindest ein bisschen. Bitte bringen sie mir doch etwas bei. Ich tue dafür gerne auch etwas für sie.“
Die alte Frau drehte sich um und sah sie an. „Ohohoh. Hmm. Abgemacht, kleines Mädchen. Wenn du dich an dein Versprechen hältst, dann werde ich dir etwas beibringen. Also, komm ruhig mit mir in mein wundervolles Heim“ sagte sie schleimig zischend. „Und du wirst dich an dein Versprechen halten,“ keifte die Frau zu sich selbst, wobei sich ein kaltes Lächeln auf ihrem Gesicht bildete, „Wenn deine Note kommt“, schloss die Tür auf und sie gingen hinein.

Als sie drinnen standen und das Mädchen das Innere des Hauses sah, staunte sie nicht schlecht. Dort schien alles viel größer und imposanter, als sie gedacht hatte. Und in den unterschiedlichsten Farben, wie sie es noch nie gesehen hatte. Und so durcheinander. Überall lag etwas herum. Über ihren Köpfen schwebten hunderte, ja tausende verschiedene Instrumente, die sich selbst spielten, zum Teil auch solche, die sie noch nicht kannte. Dabei folgte jedes ein und derselben, düsteren Melodie, welche das Kind aber noch nie gehört hatte. Beeindruckt folgte das Mädchen der Frau durch die Räume. Ihre Augen quollen regelrecht über vor Begeisterung. Sie gingen weiter und weiter, es schien gar kein Ende zu nehmen. ‚Fast ein wenig wie verhext‘, dachte das Kind bei sich. An den Wänden hingen wunderschöne Gemälde von Menschen, die aussahen wie klassische Komponisten. Vorsichtig näherte sie sich dem ihr am nächsten hängenden Bild.
„Das sind ein paar der genialsten Komponisten aller Zeiten. Sie haben Meisterwerke geschrieben, die die Menschheit schwer beeinflusst haben. So wie kaum etwas anderes. Wie dumm nur, dass sie alle nicht mehr leben. Ich könnte sie gut gebrauchen“ fügte die Frau mit einem Seufzer hinzu und schaute die Bilder nachdenklich an.
„Sie könnten sie gebrauchen? Wofür denn?“
„BAH, stell nicht so dumme Fragen. Dafür bist du nicht hier“ blaffte sie das Mädchen an, wandte sich ab und ging in die Küche. Das Mädchen folgte ihr. Auch dieser Raum war größer, als sie gedacht hatte. „Entschuldigen sie, Madam, aber eines wundert mich. Warum ist hier drinnen alles so viel größer als draußen? Und warum geben die Instrumente Töne von sich, obwohl sie niemand spielt? Das kann doch gar nicht sein.“
„STELL NICHT SO DUMME FRAGEN, HABE ICH GESAGT!!!“ schrie die Frau, drehte sich zu ihr um und starrte ihr wütend ins Gesicht. „Du wirst es erfahren. Wenn deine Note erklingt“ keifte sie das Kind an und wandte sich wieder ab. „Jetzt mache ich uns erstmal was Leckeres zu Essen. Was ist deine Leibspeise? Schokoladenpudding mit Sahne und Vanillesoße?“
„Das stimmt. Madam, woher wissen sie ...?“
„SEI STILL, DU UNDANKBARES DING! Du isst jetzt, was auf den Tisch kommt.“
„Nun“, sagte das Mädchen etwas verunsichert, „Ich denke, es ist besser, wenn ich wieder nach Hause gehe. Meine Mutter wartet sicher schon mit dem Abendessen auf mich. Also, es war schön, sie kennengelernt zu haben. Einen guten Tag noch und auf Wiedersehen, Madam“ sagte sie und wollte schon zur Tür gehen, da packte die Frau sie am Arm und zog sie an sich. „Deine Mutter“ zischte sie leise „hat sicher noch eine ganze Menge Arbeit. Es wird sie garantiert nicht stören, wenn ihr kleines, undankbares Kind noch ein Weilchen hierbleibt. Ich bereite dir auch den leckersten Schokopudding zu, den du je gegessen hast. Und dann werde ich dir beibringen, zu musizieren. Und zwar ein ganz besonderes Instrument. Bitte bleib doch noch ein wenig.“
„Na gut“ willigte das Mädchen ein wenig unsicher ein und setzte sich an den im Gegensatz zum Rest der Einrichtung für ihre Größe passenden Esstisch. Und so verging die Zeit.

Als sie mit dem Essen fertig waren, stand die Frau auf und stellte ihr Geschirr weg. „Du kannst deines gerne noch stehen lassen. Ich räume es später für dich weg,“ sagte sie mit ruhiger Stimme. „Wir wollen ja keine Zeit verlieren. Du sollst ja schließlich auch noch was lernen. Komm und folge mir.“
Das Mädchen stand auf und ging der Frau hinterher. Schließlich kamen sie an einen Raum, dessen Tür noch älter zu sein schien als der Rest der Einrichtung. ‚Von außen sieht er genauso aus wie der alte Raum in unserem Haus, fiel es dem Mädchen gleich auf. „Merkwürdig, sehr merkwürdig“ murmelte sie leise vor sich hin. Dann holte die Frau einen alten, verrosteten Schlüssel hervor und öffnete die Tür mit einem lauten, schweren Knarzen. Als die beiden eintraten, bemerkte das Mädchen, dass der Raum so gut wie leer war. Tatsächlich gab es weder Möbel, Dekoration noch sonst irgendwelche Gegenstände. Das Einzige, was sich darin befand, war ein altes, verstaubtes Klavier, das direkt in der Mitte stand. Und weiter hinten an der Wand hing ein einzelnes, mit einem großen, dunklen Tuch abgedecktes Gemälde.
„Madam, wieso ist dieses Bild abgedeckt?“ wollte das Mädchen wissen. „Was ist darauf zu sehen?“
„Langsam nerven mich deine dämlichen Fragen. Kannst du nicht einmal die Klappe halten?“ sagte die Frau hörbar gereizt. „Du erfährst alles zu seiner Zeit. Nein, zu deiner Zeit“, fügte sie hinzu. „Aber jetzt wollen wir mal sehen, wie gut du spielen kannst“ sagte die Dame, setzte sich vor das Klavier und deutete dem Mädchen an, sich neben ihr zu setzen.
„Nun, ehrlich gesagt, Madam, habe ich noch nie Klavier oder sonst ein Instrument gespielt“ meinte das Kind unsicher.
„HA, Ich werde dir schon zeigen, wie gut du spielen kannst. Lege einfach deine Hände auf die Tasten und spiele mir nach“ sagte sie, klappte den alten Deckel, an dem die Farbe bereits abblätterte, hoch und fing langsam an. Vorsichtig legte das Mädchen ihre Finger auf die Tasten und versuchte, die Handbewegungen der Frau nachzuspielen. Erst fiel es ihr schwer. Aber nach und nach wurde es leichter. Irgendwann schienen die Finger nur so über die Tasten zu schweben. So saßen die beiden da, Minute um Minute, Stunde um Stunde. Und es erklang eine Melodie nach der Anderen, immer harmonischer und perfekter. Erst als es draußen schon dunkel war, fiel dem Mädchen ihre Mutter wieder ein.
„Entschuldigen sie, Madam, aber ich muss jetzt gehen. Meine Mutter wartet auf mich. Sie wird bestimmt schon sauer sein, da ich viel zu spät nach Hause komme“ sagte sie und wollte aufhören zu spielen. Aber es gelang ihr nicht. Erst jetzt merkte sie, dass sie ihre Hände nicht mehr heben konnte und keine Kontrolle mehr über ihre Finger hatte. Sie sah sich um und bemerkte, dass die Frau sich von ihrem Platz erhoben hatte und gehässig lächelnd in der Ecke des Raumes stand.
„Madam, was ist das? Ich kann nicht mehr auf hören, zu spielen“ sagte das Mädchen und bekam Angst. Das Lächeln auf dem Gesicht der Frau wurde immer breiter.
„Wie? Du willst schon aufhören, und schaffst es nicht? Nun, dann werde ich dir helfen. Mal sehen, was sich machen lässt“, sagte die Frau gespielt unschuldig. „Lass mich mal nachdenken. HA, ich hab’s. Versuche einfach, an etwas zu denken, was du wirklich von ganzem Herzen hasst. Du fragst dich wahrscheinlich, was das sein könnte. Ach, du und dein großes, reines Herz. Du liebst einfach alles und jeden. Also, mal überlegen, was könntest du hassen?“ sagte sie ruhig und gespielt nachdenklich, während das Kind immer panischer wurde. „Hmm, mal sehen. Oh, wie wäre es mit deiner Mutter? Die dir ach so viel angeblich sinnvolles Zeug beigebracht hat. Das Wissen über Kräuter und Pflanzen, die nicht schmecken und für dich keinen Nutzen haben. Das Abknallen und Ermorden von unschuldigen Tieren. Ja, das hat sie dir beigebracht. Aus der eigenen Tochter eine Mörderin gemacht. Aber hat sie dir auch so etwas Schönes wie Musik beigebracht? Gefühle rauslassen durch musizieren? Jahaha, denke einfach mal scharf nach,“ heuchelte sie und fing dabei an, laut und höhnisch zu lachen. Dem Kind rann vor lauter Panik der Angstschweiß von der Stirn. Was meint die Frau bloß damit? Und woher weiß sie das alles? fragte sie sich und dachte dabei an ihre Mutter. Auf einmal überkam sie ein Gefühl von Hass und Wut, etwas, dass sie so noch nie gespürt hatte. Mit der Aufwendung aller ihrer Kräfte riss sie die Hände von den Tasten und rannte hinaus. „Mach dir keine Sorgen“ rief die Frau ihr nach. „Du wirst schon bald wiederkommen“ und schickte ihr ein schallendes Lachen hinterher. Aber das Mädchen war bereits fort.

Als sie wieder zu Hause ankam, wartete die Mutter erneut auf sie. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht mehr zu diesem Haus gehen. Was hast du dir dabei gedacht?“ schrie sie das Kind an.
„Mami, ich ...“
„Sei ruhig und komm rein“ sagte sie und deutete dem Kind, sich an den gedeckten Abendbrottisch zu setzen.
„Jetzt hör mir mal genau zu“ sagte die Mutter und klang dabei ungewöhnlich streng. „Ich meine es ernst. Dieser Ort ist gefährlich. Und zwar für uns beide.“
„Aber Mami, warum hast du mir nie etwas davon erzählt?“ fragte das Kind und sah seine Mutter irritiert an.
„Weil es besser ist, wenn du nichts davon weißt!“ erwiderte sie und wandte sich ihrem Essen zu. „Und jetzt frage bitte nicht weiter. Ich habe so schon genug Stress momentan.“
„Aber Mami, ich will doch nur wissen, wer diese Frau ist und was sie dort macht?“
Jetzt wurde die Mutter sauer. „Wenn du noch einmal dieses Haus oder diese Frau erwähnst, dann schicke ich dich ohne Abendessen ins Bett. UND JETZT SEI VERDAMMT NOCH MAL RUHIG!!! schrie sie. Das Kind erschrak und wandte sich ebenfalls seinem Essen zu, wenn auch etwas ratlos. Als sie später im Bett lag, konnte sie nicht schlafen. Ihre Gedanken kreisten in ihrem Kopf umher. ‚Was weiß Mama über dieses Haus? Und vor allem über diese Frau? Und warum hat sie mir nie etwas davon erzählt? Hat sie vor irgendetwas Angst? Oder will sie mir gar etwas verheimlichen? Merkwürdig. Wir erzählen uns doch sonst immer alles.‘ Und je länger sie darüber nachdachte, desto quälender wurden die Gedanken. Erst irgendwann tief in der Nacht glitt sie langsam in einen unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen war die Mutter anders als sonst. Sie wirkte nachdenklich und war ungewöhnlich unsicher. Das Mädchen bemerkte es und versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen. ‚Was hat sie bloß? Warum spricht sie nicht mit mir? Und warum läuft sie so unruhig hin und her? Ich verstehe das nicht‘ dachte sie. Und auf einmal stieg ein Gefühl in ihr hoch, das sie noch nie vorher gespürt hatte. ‚Was sagte die alte Frau noch mal? Warum hat mir meine Mutter nichts Sinnvolles beigebracht? Oder etwas, das einfach nur Spaß macht? Ja, so etwas wie Musik vielleicht? Ja, warum eigentlich nicht?‘ dachte sie und es kam ihr ein Gedanke, der ihr unheimlich war und sie traurig und wütend machte: ‚Vielleicht hat sie mich nicht genug lieb? Oder noch schlimmer: Sie hat mich nie geliebt. Warum sonst sollte eine ach so liebevolle Mutter ihrem Kind nur so einen Mist wie Kräuter sammeln oder Tiere abknallen beibringen? Und mich zu einer nichtswissenden Mörderin machen? JA, WARUM? WARUM HAST DU DAS GETAN?‘ dachte sie und wollte schreien, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken. Sie ging in ihr Zimmer, warf sich auf das Bett und vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen. Die Tränen rannen nur so aus ihr heraus. Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, beruhigte sie sich. Und es kam ihr ein wundervoller Gedanke: ‚Was wäre denn, wenn ich einfach nochmal zu der Frau hingehe? Ja, wenn sie mir beibringen würde zu musizieren wie versprochen? Und vielleicht noch andere schöne Dinge? Was würde das schon ausmachen? Ja, und vielleicht‘ dachte das Kind und dabei wurde ihr das Herz ganz warm, ‚vielleicht kann ich ja öfter dahingehen? Oder länger dableiben. Ja, vielleicht sogar für immer? Die alte Frau hätte bestimmt nichts dagegen,‘ dachte sie und musste dabei lächeln. ‚Ja, wäre das nicht schön?‘ Sie stand auf, schnappte sich einen großen Sack und packte ihre Sachen. Als sie aus dem Haus ging, war ihre Mutter in ihrem Arbeitszimmer verschwunden. Sie blieb noch einmal stehen und schaute sich um. Dann machte sie sich auf den Weg ins Ungewisse.

Als das Mädchen bei dem Haus ankam, ging es durch den Garten an den Instrumenten vorbei. Es war schon früher Abend und sie lagen ganz ruhig auf dem Boden verteilt, so als würden sie schlafen. Insgesamt war alles ruhiger als sonst. Das Mädchen ging zur Haustür und klopfte etwas verunsichert an. Als niemand öffnete, klopfte sie ein zweites Mal. Erst jetzt hörte sie von drinnen die alte Frau weinen.
„Madam, was ist denn los? Warum weinen sie?“
„Ach, du böses Kind. Warum hast du mich so alleine gelassen? Mich arme, hilflose Frau?“ jammerte sie laut und deutlich. „Du gemeines, ungezogenes Kind! Du hast doch versprochen, mir zu helfen! Wie konntest du einfach fortgehen?!“
„Aber Madam, ich bin doch wieder hier. Und ich werde ihnen helfen. Wobei auch immer sie wollen. Mehr noch: Ich möchte gerne hierbleiben, bei Ihnen. Wenn sie mir das Musizieren beibringen. Denn zu Hause“ und bei dem Gedanken wurde sie sehr traurig, „zu Hause braucht mich sowieso keiner mehr. Wahrscheinlich hatte ich nie ein Zuhause. Also, ich tue alles, was sie verlangen, wenn sie mir dafür diese ganzen tollen Dinge beibringen, die sie können. Und wenn sie einverstanden sind, dann bleibe ich bei Ihnen. Gerne auch für immer.“
Und urplötzlich war drinnen alles still. „Nun, wenn das so ist“, sprach die Frau mit schleimig süßlicher Stimme und schloss die Tür auf, „dann komm rein und fühl dich wie daheim. Es wird dir hier an nichts fehlen. Du bekommst alles, was du willst. Versprochen“ sagte sie und schaute das Kind mit gierigem Blick an.
„Ist das wahr? Wirklich alles?“
„Jaaa, wirklich alles. Du sollst schließlich nicht mehr so leben wie bei deiner dummen Rabenmutter. Die ist ja eh zu nichts nutze.“
„Oh, wie schön“ sprach das Kind und merkte gar nicht, wie es sich vor Begeisterung überschlug. „Also, wann fangen wir an mit dem Musik machen? Ich kann es gar nicht abwarten zu spielen.“
„Immer mit der Ruhe, Liebstes. Erstmal koche ich dir etwas. Was möchtest du haben? Wie immer? Schokoladenpudding mit Sahne und Vanillesoße? Ich mache dir den Besten, den du je gegessen hast.“
„Oh, ja. Eine Stärkung könnte ich gut gebrauchen. Denn ich habe wahnsinnigen Hunger.“
„Ja, die wirst du brauchen. Sehr sogar“ fügte die Frau leise zischend mit einem Lächeln hinzu, drehte sich um und sie gingen in die Küche.

Als sie mit dem Essen fertig waren, gingen die beiden wieder in den Raum mit dem Klavier. Sie setzten sich davor und das Mädchen fing langsam an, zu spielen.
„Ja, gut, sehr gut,“ sagte die Frau und ihr Lächeln wurde immer zufriedener, während das Kind spielte und spielte und dabei immer schneller wurde. Die Harmonien flossen nur so aus ihr heraus. Bis die Frau irgendwann zufrieden aufstand und sprach: „Das ist ja so wundervoll, mein liebes Kind. Du lernst schnell. Ich bin sehr zufrieden mit dir. Ja, ich glaube, es ist soweit.“
„Was ist soweit?“ wollte das Kind wissen und merkte erst jetzt, dass es schon wieder nicht mehr aufhören konnte zu spielen.
„Jetzt, jahaha, jetzt, mein Schatz, ist es an der Zeit. Jetzt ist deine Note gekommen.“
„Und was heißt das?“
„Jetzt,“ sagte die alte Frau und ging zu dem verdeckten Gemälde in dem Raum, „Jetzt töten wir deine dumme Mutter!“ keifte sie und riss den Vorhang runter.
Das Mädchen erschrak und bekam Angst. Denn zum Vorschein kam ein Bild ihrer Mama.
„Was soll das? Warum hängt dieses Bild dort? Und woher kennen sie meine Mutter?“ fragte es und geriet in Panik.
„Ja, woher kenne ich sie?“ keifte die Frau und ging auf das Mädchen zu. „Nun, das ist eine lange Geschichte. Aber ich werde versuchen, mich kurz zufassen. Die Wahrheit ist ganz einfach. Deine Mutter und ich sind Schwestern. Vor vielen Jahren wurden wir hier im Wald, im Haus deiner Mama, geboren. Erst deine Mutter, dann, zwei Jahre später ich. Und unsere Eltern liebten deine Mutter. Viel mehr als mich. „Ach, diese wunderschöne, so talentierte und einfach nur gutherzige Erstgeborene. Wir sind ja sooo stolz auf sie.“ Oh, wie ich sie dafür gehasst habe. UND ZWAR ALLE!!! Sie brachten ihr alles bei. Jagen, Kochen, Wissenswertes über die Natur. Ja, und auch das Klavier spielen. Oh, waren meine Eltern stolz. Dabei war ich immer diejenige, die besser Musik machen konnte und es liebte. ICH!!! Doch unsere Eltern taten alles für sie. Wirklich alles. Irgendwann kam es zum Streit zwischen uns und unsere Eltern wollten mich rauswerfen. AUSGERECHNET MICH!!! Doch sie hatten mich unterschätzt. Denn du musst eines wissen: Unsere Eltern waren Zauberereltern. Ja, du hast richtig gehört: Deine Mutter ist eine Hexe, genau wie ich. Unsere Eltern brachten uns alles bei. Zaubersprüche, Flüche, alles. Und ich begann früh, mich für schwarze Magie, FÜR DIE BESSERE SEITE, zu interessieren. Und an dem Tag des Zerwürfnisses,“ sagte die Frau und sprach dabei gespielt unschuldig, „habe ich unsere armen, armen Eltern umgebracht. Ohh, wie schade. Doch als ich versuchte, deine Mutter zu töten, belegte sie mich mit einem Fluch, der mich hierher verbannt hat, in die absolute Einsamkeit. Deine Mutter ist Schuld, dass ich hier leben muss und vor lauter allein sein gealtert bin. Ja, sieh mich nur an. Was hätte bloß alles aus mir werden können, wenn deine dumme, arrogante Mutter nicht gewesen wäre? Dann würde der ganze Wald jetzt mir gehören, JA, MIR!! Aber,“ und jetzt schaute sie dem Mädchen direkt in die Augen, „Schlau wie ich bin, habe auch ich deine Mutter mit einem Fluch belegt. Und dieser besagt, dass sie eines Tages ein kleines Mädchen zur Welt bringen sollte. Und wenn dieses Mädchen im rechten Alter ist, würde es zu mir kommen. Und dann würde es auf genau diesem Klavier hier ein Lied spielen, das durch dieses Gemälde dort“ und dabei zeigte die Frau auf das Bild der Mutter, „in das Haus deiner Mama übertragen wird. Und jetzt rate mal, in welchen Raum?“ Dabei wurde dem Mädchen Angst und bange. „Genau, in den Raum, den deine Mutter dir immer verheimlicht hat. Und das aus gutem Grund. Denn dort wiederum hängt ein Bild von mir, das genau wie dieses Bild hier unsere Mutter gemalt hat. Und,“ und dabei fing die Frau vor Freude an zu quieken, „ dieser Tag, da deine Mutter stirbt, ist heute. Juhu. Denn du, mein Schatz bist hier und wirst jetzt dieses Wundervolle, von mir komponierte Lied spielen. Und wenn sie erstmal tot ist, dann werde ich dich zu meiner Tochter machen und der ganze Wald wird uns gehören. Toll, nicht wahr? Warte, ich muss nur noch kurz den Text finden, dann kann es losgehen. Ah, hier ist er,“ sagte die Frau, holte einen alten, stark zerknitterten Zettel aus ihrer Manteltasche und hielt ihn dem Kind hin. „Würdest du das Lied für mich singen? Ich bin wie gesagt stark gealtert und meine Augen sind nicht mehr so gut. Bitte, bitte singe es doch für mich.“
Dem Mädchen lief der Angstschweiß von der Stirn. Das hatte sie nicht gewollt. Voller Panik betrachtete sie den Zettel, doch er war bereits so vergilbt und unlesbar, dass es schlicht unmöglich war, die Schrift zu entziffern. Da kam ihr eine Idee: Was wäre, wenn sie einfach einen Text improvisieren würde. Ja, vielleicht wäre das die Rettung. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Und dann fing sie an und sang, so schön sie konnte:

„Ich sitze hier im Hexenhaus
und mache etwas Gutes draus.
Und spiele freudig am Klavier
ein gar nicht düsteres Liedchen Dir,
Du böses Stückchen Mensch und Weib.
Das du uns allen bleibst vom Leib.
Und diese Welt bleibt, wie sie ist.
Denn meine Mama sagte: Liebes Kind,
Mach, dass das Böse nie gewinnt.
Auf dann, du Hexe hast verloren,
Bist für die Hölle auserkoren.
So gehe weg zum Sterben,
Dass deine Bosheiten vergessen werden.
Auf das dein Leben ist vorbei,
und diese Welt von dir sei frei.“


„Nein,“ schrie die Hexe erschrocken, „was singst du da? Das steht da nicht! Das habe ich nie geschrieben! Hast du denn gar kein Mitleid mit einer armen, alten Frau?!! DU BLÖDES DRECKSBALG!!! schrie sie. Und auf einmal wurde sie immer blasser und durchsichtiger. Ihr Körper löste sich auf und verwandelte sich unter verzweifelten Schreien in Töne und Noten, eine grässlicher als die Andere. Auf einmal begannen die Wände zu beben und das ganze Haus löste sich in so düstere Harmonien auf, wie sie das Mädchen noch nice gehört hatte. Es gelang ihr, sich von dem Klavier zu lösen und rannte panisch nach draußen. Dabei sah sie, wie selbst die ganzen Gegenstände im Haus und die Gemälde zu Musik wurden. Es war ein ohrenbetäubender Lärm. Beim letzten Umdrehen sah das Mädchen noch einmal das Bild ihrer Mutter, bevor es ebenfalls verschwand.

Das Kind lief und lief. Sie spürte sogar die immer stärker werdenden Seitenstiche nicht. Erst als sie bei ihrem Haus ankam, blieb sie völlig außer Atem stehen. Ihre Mutter wartete bereits auf sie.
„Mensch, Mami,“ fiel sie ihr in die Arme und weinte. „Du glaubst nicht, was ich erlebt habe. Es tut mir so leid. Warum hast du mir bloß nie von der Frau erzählt?“
„Von welcher Frau?“
„Na, von der Frau in dem alten Haus am anderen Ende des Waldes. Bei dem Wegweiser, weißt du?“
„Ach, die meinst Du,“ sagte die Mutter ruhig. „Nun, die gibt es eigentlich gar nicht. Die existiert nur in den Liedern, die ich dir früher gesungen habe. Und somit in deiner Phantasie. Weißt Du, ich bin nämlich eine Hexe und habe die Kraft der Musik benutzt, um dir Gefühle und Gedanken beizubringen, die dir einmal zeigen sollten, wie wichtig ein gutes Zuhause ist. Und wie wichtig es ist, eine gute Mutter zu haben. Denn ich weiß, dass du irgendwann groß werden wirst. Und vielleicht wirst du irgendwann fort von hier gehen. Auf jeden Fall wirst du viele schöne, aber auch schlechte Dinge erleben. Doch eines wollte ich dir mitgeben: Egal wo du im Leben bist, vergesse nie, wo deine Heimat ist. So, und jetzt mache ich dir erstmal was Leckeres zu Essen. Du hast bestimmt Hunger. Wie wäre es mit deiner Leibspeise? Schokopudding mit Sahne und Vanillesoße? Ich mache dir den Besten, den du je gegessen hast. Und wenn du magst, bringe ich dir das Musizieren bei. Das wolltest du doch immer, oder?“
„Ach, Mami, du bist echt toll“ sagte das Kind. „Aber was es mit diesem geheimnisvollen Raum auf sich hat, möchte ich doch gerne mal wissen.“
„Raum? Welcher Raum?“ sagte die Mutter verschmitzt lächelnd, drehte sich um und sie gingen ins Haus. In ihr Zuhause.
Lovepoet 1984 ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Das Märchen vom Lied des Todes

Stichworte
familie, heimat, musik

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche


Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Die Geburt des Todes zikzak Düstere Welten und Abgründiges 0 25.04.2015 00:52
Glocken des Todes Schattenfeuer Düstere Welten und Abgründiges 0 02.11.2014 19:51
Der Todes Engel Ex-Erman Düstere Welten und Abgründiges 10 18.08.2011 22:31
Lied des Todes Anastasia Düstere Welten und Abgründiges 1 26.07.2007 21:12
Das Tal des täglichen Todes Theophil Theorie und Dichterlatein 2 13.05.2007 23:10


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.