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Alt 08.08.2013, 12:03   #1
Alive93
 
Dabei seit: 08/2009
Alter: 31
Beiträge: 32


Standard Einfache Fahrt

Hallo alle zusammen!

Hier folgt der Anfang von etwas längerem, an dem ich gerade bastele. Kommentaren jeglicher Art bin ich natürlich nicht abgeneigt!


Eine Frau mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck betrat das Sozialamt. An ihren beiden Händen hielt sie liebevoll ihre beiden Kinder. Wenn es nicht wegen ihnen wäre, wäre mir alles egal, dachtet sie und sagte kurz darauf zu ihren kleinen Schätzen:“ Nur nicht aufgeben, hört ihr beiden, nur nicht aufgeben. Vielleicht haben wir diesmal ja mehr Glück!“. Sie gingen zum Fahrstuhl und die Mutter schaute auf die Tafel neben den Fahrstuhltüren. Anträge für Sozialleistungen, 3.OG.. Die Frau drückte auf die Fahrstuhltür und während sie warteten lächelte sie ihren Kindern den Mut zu, den sie selber nicht mehr besaß. Sie sollen Hoffnung haben, dachte sie, wenn ich sie schon nicht mehr habe. Sie sollen sie nicht auch noch verlieren, nur weil ich sie schon verloren habe. Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich. In ihm befanden sich zwei jüngere Herren mit Aktenkoffern und gegelten Haaren, die auf ihr Handy guckten. Die Frau betrat mit ihren Kindern den Fahrstuhl und die Tür schloss sich hinter ihnen. Sie drückte auf die drei und die zwei jüngeren Männer blickten von ihrem Handy auf und grinsten die Mutter höhnisch an, als ob Blicke töten könnten. Die Männer stellten sich vor die Tür und die Frau mit ihren Kindern gingen weiter nach hinten. Im dritten Stock angekommen musste sie die Männer fragen, ob sie freundlicherweise Platz machen könnten, denn sie müsste raus. Sie musste die Männer fragen. Sie musste die Männer ansprechen. Die Worte blieben ihr fast im Hals stecken und als sie sprach, wollte sie ihre Stimme nicht hören. Sie wollte sich nicht hören, wie sie jemanden schon wieder um irgendetwas bat, auch wenn es selbstverständliche Dinge waren. Am liebsten würde sie nicht mehr bitten müssen, fragen müssen, am liebsten würde sie gar nichts mehr müssen, aber immer wenn sie so dachte, dann kamen ihr wieder ihre Kinder in den Sinn und sie machte weiter, für sie. Die Männer grinsten erneut, nachdem sie sie mit zitternder Stimme gefragt hatte, ob sie Platz machen könnten und taten es. „Selbstverständich“, sagten sie, aber der Ton passte nicht zu dem Wort. Die Mutter ging mit ihren Kindern den Flur entlang. Da waren sie wieder einmal, finanziell am Ende, ohne eine Idee, wie es mit ihnen weiter gehen soll. Sie klopfte an die Tür zu dem Büro, in das sie schon so oft gegangen war, selten mit Erfolg. Es gab nur einen Beamten, der ihr immer Unterstützung zugesagt hatte, obwohl es, wie er immer betonte, nicht rechtens gewesen wäre. Die Tür wurde geöffnet, sie trat ins Büro und nahm auf dem einen Stuhl vor dem Schreibtisch eines Beamten Platz. Ihr eines Kind setzte sich auf den zweiten Stuhl und für das zweite Kind holte der Beamte noch einen weiteren Stuhl heran. Er muss ja nett bleiben, dachte die Frau, es gehört zu seinem Job, genauso wie das Verkünden der Tragödien. Er muss nett bleiben, er muss kalt bleiben. Er muss mich wie einen Menschen behandeln, aber es darf ihm nichts ausmachen, mich an den Rand der Verzweiflung bringen zu müssen. Er kann sich ja sicher sein, auf der richtigen Seite zu stehen und vor allem am längeren Hebel. Die Frau versuchte die aufsteigende Wut zu unterdrücken und sich zu beruhigen. Der Beamte hatte noch gar nichts gesagt und doch war sie schon fertig. Sie nahm die Hand ihres einen Kindes rechts neben ihr, drückte sie und streichelte sie mit ihrem Daumen. Der Beamte fing an, die Papiere hervorzukramen und begann, sie von den Ergebnissen der Untersuchung ihrer Lage in Kenntnis zu setzen. „Es tut uns sehr Leid, aber wir können nichts für sie machen. Wir haben alles durchgerechnet. Sie kommen nicht über den Mindestbetrag an Ausgaben, den sie erreichen müssten, um bei ihrem Einkommen eine zusätzliche Unterstützung zu erhalten. Es tut uns Leid!“. Er lächelte den Kindern zu und gab ihnen ein paar Bonbons aus seiner Schublade. „So, es tut ihnen also Leid! Gar nichts tut ihnen Leid! Und ihre Freundlichkeit können sie sich auch sparen, denn sie ändert auch nichts an der Situation. Sie interessieren sich nicht für die Menschen, deren Fälle sie bearbeiten. Es geht ihnen nicht um uns, die hier vor ihnen sitzen. Sie denken doch nur an ihre Aufgabe. Sie rechnen und bearbeiten alles nach Vorgaben, sie sehen die Zahlen, die zu unserem Namen gehören, aber sie sehen nicht die Gesichter, die zu unseren Namen gehören. Für sie besteht die Tragödie darin, dass wir keine Fünzig Euro mehr bekommen, für uns ist die Tragödie, dass wir nicht wissen, wie wir weiterleben sollen.“. Sie weinte kurz und drückte dabei wieder die Hand ihres einen Kindes, dann riss sie sich zusammen. „Wann ist eigentlich ihr Kollege immer hier?“, fragte sie leise. „Welchen Kollegen meinen sie denn?“, erwiederte der Beamte erstaunt. „Alexander, der sonst auch immer hier gearbeitet hat. Ich habe ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr hier gesehen.“ Dem Beamten verzog sich sein Gesicht, drehte es von der Frau weg und wurde für einen Moment sehr nachdenklich. „Ich….weiß es nicht. Er war einer unserer besten Mitarbeiter, aber er….ist…. . Nach seinem Urlaub ist er nicht mehr bei uns aufgetaucht. Wir haben versucht, was wir konnten, aber wir haben kein Zeichen mehr von ihm erhalten. Vielleicht ist er… . Ich weiß es nicht.“ Der Beamte schaute die Frau nicht an, während er mit ihr sprach, sondern auf eine kleine Tasse mit einem Herzen drauf auf dem anderen Schreibtisch gegenüber, die mittlerweile einen anderen Besitzer hatte. In Erinnerungen versunken bemerkte der Beamte nicht, dass die Frau mit ihren Kindern gegangen war.



„Noch zwei Wochen, dann bin ich weg!“, freute sich Alexander, dabei betrat er gerade erst sein Büro, um seinen Arbeitstag zu beginnen. „Guten Morgen, alle zusammen.!“ Immer, wenn er sich in den letzten Tagen seinen Urlaub ausgemahlt hatte, stieg seine Laune schlagartig ins Unermessliche und er begann dann auch nicht selten mal euphorisch dummes Zeug zu reden, wie auch an diesem Morgen, als er, nachdem er sich an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, gleich über das Telefon bei der Sekretärin einen Kaffee bestellte und blöd sang „ Aber bitte mit Sahne! Kennen Sie das Lied nicht, dieses uralte Lied von diesem uralten Udo Jürgens. Aber bitte mit Sahne! Kommen Sie schon, entweder Sie singen kurz mit, oder sie bringen mir den Kaffee gleich rüber, aber bitte mit Sahne!“. Als die Sekretärin mit dem Kaffee kam, fragte sie, wo sie ihn abstellen sollte. „Stellen Sie ihn da hinten auf meinen Sekretär!“. Seine Arbeitskollegen lachten und obwohl die Sekretärin den Scherz am Telefon vorher gar nicht so lustig fand, konnte sie sich jetzt auch kein Lachen mehr verkneifen. Der Durchbruch war geschafft, dachte er sich, obwohl das an einem Montag gar nicht so einfach ist. Wie Bob Geldof früher immer gesungen hat „ I don’t like Mondays, I wanna shoot, oohoohoohoohooh, the whole day down!“. Es war typisch für ihn, dass er sich immer wieder an Musik aus seiner goldenen Zeit- wie er sie immer nannte- erinnerte und bei passenden Gelegenheiten anfing zu singen oder Textzeilen zu zitieren. Tja, die goldene Zeit war schon etwas länger her. Manchmal überkam ihm eine tiefe Traurigkeit, wenn er sich vor Augen führte, was für ein Leben er führte, aber von dieser bekam keiner etwas mit. Alle kannten ihn als den Vogel, der Montag morgens ins Büro kam und Scherze mit der Sekretärin machte. Sprach man ihn allerdings auf sein Wochenende an, ging man meistens ohne eine klare Antwort aus, denn an den Wochenenden tat sich bei ihm so gut wie nichts, naja, nichts trifft es noch besser. Jedes Mal, wenn er Freitag nachmittags nach Hause ging und dort ankam, fiel er in ein tiefes Loch, denn es wartete dort weder eine Frau, noch sonst irgendwer auf ihn und überhaupt traf er sich an Wochenenden nur selten mit Freunden. Alle wussten es, dass es so war, aber außer dass sie ihn hin und wieder ironisch nach den Wochenenden fragten, mischten sie sich nicht weiter in sein Privatleben ein. Sie wussten, es ging sie nichts an und er freute sich darüber, dass sie wussten, dass es sie nichts anging und sie ihn in Ruhe ließen. Auch über seinen Urlaub fragten sie ihn nicht weiter aus. Sie gaben sich mit dem zufrieden, was er ihnen erzählte und das war nur, dass er sich ungeheuer freute. Mit wem er fahren würde, erwähnte er nicht. Wahrscheinlich allein, dachten sie, das würde zu ihm passen. Und sie hatten Recht! Obwohl sie ihn in dieser Hinsicht merkwürdig fanden, hielten sie ihn für einen netten Kerl und einen sehr guten Arbeitskollegen, der gerade in letzter Zeit immer etwas Stimmung in die Bude brachte.

Alexander war nun 30 Jahre alt und schon 6 Jahre im Sozialamt tätig. An und für sich machte ihm seine Arbeit Spaß. Naja, was heißt Spaß, sie gefiel ihm ganz gut. Naja, was heißt sie gefiel ihm ganz gut, sagen wir mal sie störte ihn nicht, obwohl, naja… . Er machte sich keinen Kopf darüber, ob es ihm gefiel oder nicht, es lief alles von alleine. Er steuerte sein Leben wie auf Autopilot. Wenn man ihm das sagte, antwortete er meist mit „Ist doch nicht schlecht, dann kommt es immerhin nicht zu einer Bruchlandung!“. So kannten sie ihn! Es schien ihm nichts auszumachen, wenn er die Arbeit erledigte und sich danach in seine leere Wohnung zurückzog und es machte ihm auch kaum was aus. Naja, was heißt, es machte ihm nichts aus, es störte ihn nicht. Naja, was heißt es störte ihn nicht, er war nicht traurig deswegen, obwohl, naja. Wie gesagt, manchmal überfiel ihn eine tiefe Traurigkeit, wenn er sein Leben betrachtete. Aber eben nur manchmal. Wenn er sein Leben betrachtete. Er hatte im Laufe der Jahre das Gefühl dafür verloren, was sich wirklich in ihm abspielte. Er wusste es nicht so richtig. Es funktionierte ja alles ganz gut und seine Laune war gut und seinen Humor verlor er nie, aber… . Es war dieses „aber“, was ihn doch seit einigen Monaten jetzt schon nicht mehr losließ. Nichts war schlecht, aber es war auch nichts so wirklich gut. Alexander war nun 30 Jahre alt und schon 6 Jahre im Sozialamt tätig, und eigentlich, wenn er ganz ehrlich zu sich war, hatte er den Eindruck, als er wäre an dem Punkt angekommen, ab dem sich alles nur noch wiederholt, als wäre er am Ende angekommen, das sich noch Jahrzehntelang hinziehen würde. Wann aber war er schon mal ganz ehrlich zu sich?

Nicht nur seine Arbeitskollegen mochten ihn, sondern auch die Leute, die zu ihm mit ihren Fällen kamen, weil er sie so persönlich und mitfühlend bearbeitete. Wenn es eine Sache gab, die ihm an seiner Arbeit wirklich zu schaffen machte, dann waren es die tragischen Geschichten der Menschen, die zu ihm kamen. Im Gegensatz zu seinen Kollegen konnte er in manchen Fällen nicht genug Distanz aufbauen und fühlte sich bei einigen schuldig für ihre Lage. Seine Kollegen wussten das und deswegen schenkten sie ihm an seinem Geburtstag auch eine Tasse mit einem Herzen drauf, die er nie mit nach Hause nahm, sondern sie im Büro behielt und seinen Kaffee aus ihr trank. Dieser stand nun für ihn auf dem Sekretär und somit konnte die Arbeit beginnen. Die Zeit würde immerhin schneller vergehen, wenn er etwas zu tun hatte, dachte er sich. Zwei Wochen noch!

Der Montag war zu Ende. Für Alexander waren heute nicht so harte Fälle zu bearbeiten gewesen, bis auf einen. Es handelte sich um eine Frau mit zwei Kindern, die sehr mitgenommen ausgesehen hatten und die wirklich gar nicht mehr weiter wussten. Er konnte nicht anders, als bei ihnen eine Ausnahme zu machen, die er gar nicht machen hätte dürfen. Er gab falsche Zahlen in den Computer ein, um ihnen eine Zahlungsleistung zu ermöglichen. Die Frau mit den Kindern hatte gar nicht gewusst, wie sie ihm danken sollte, also hatte sie es einfach mehrmals getan. Nun aber war Feierabend und Alexander verabschiedete sich von seinen Kollegen. Er war müde, aber immer wenn er müde aus dem Amt ging und eigentlich keine große Lust mehr hatte, irgendwas besonderes zu machen, redete er sich zu, dass andere noch müder als er nach Hause gehen würden. Auf dem Weg zur U-Bahn kam er noch beim Bäcker vorbei. Er ging rein und sagte der Bedienung: „ Ich hätte gerne ein Schwarzbrot! Aber ohne Körner wenn es geht!“. Die Bedienung fieberte auch schon ihrem Feierabend entgegen und reagierte etwas patzig. Dann fragte sie, ob er es denn gerne geschnitten hätte. „Nein, ich hätte es gerne gegessen. Das bekomme ich aber allein hin!“. Die Verkäuferin gab sich Mühe, freundlich zu bleiben. Warum musste man immer freundlich bleiben, selbst wenn es einem gegen den seelischen Strich ging? Überall mussten die Menschen höflich und nett sein. Wie sollte man da jemals herausfinden, was sie ehrlich über einen dachten? Das Schwarzbrot wurde eingepackt und um der Verkäuferin einen Gefallen zu tun, zahlte Alexander auf den Cent genau passend. Diese Geste kam ihr sehr entgegen und sie bedankte sich. „Sie ist zur Zeit sicherlich gereizter als ich“, ging ihm durch den Kopf. Angekommen bei der U-Bahn begab er sich in das Getümmel. Er hasste große Menschenmengen. Man hörte immer ein Durcheinander an Stimmen, jeder musste etwas erzählen. Alexander verstand nicht, was es immer alles zu erzählen gab. Er hatte nie etwas zu erzählen und zweifelte in seltenen Fällen, ob das normal wäre, nichts zu erzählen zu haben. Die U-Bahn kam, er stieg ein und blieb gleich bei der Tür stehen, denn sie war brechend voll. Immer wenn die Bahn bremste stieß er mit anderen zusammen und es gab schöneres für ihn, als mit anderen Menschen auf engem Raum zusammenzustehen und mit ihnen zusammenzustoßen, vor allem wenn sie alle schwitzten wie an diesem Tag. Endlich war er an seiner Station angekommen, stieg aus und ging schnellen Schrittes zu seiner Wohnung. Er wohnte im fünften Stock, es gab keinen Fahrstuhl und als er oben ankam lief auch ihm wie den Menschen in der U-Bahn der Schweiß von der Stirn und er atmete schwer. Er schloss die Tür auf und…..keiner erwartete ihn. Keiner, der ihm gleich ein kühles Getränk zur Erfrischung bringen könnte, keiner der ihn umarmte, keiner der wusste, dass er einen anstrengenden Tag hinter sich hatte und darauf eingehen könnte, keiner, dem er jemals hätte Leid tun können. Also tat er sich auch selber nicht Leid, denn das macht nur Spaß, wenn jemand anderes darauf reagieren könnte. „Wieso auch Leid tun?“, sagte er in sich hinein. Er zog seine Klamotten aus und ging ins Bad um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu schmeißen. Er hatte wieder einen Tag geschafft und eigentlich ging es ihm ganz gut. Was will man denn mehr? Im Wohnzimmer legte sich Alexander mit freiem Oberkörper aufs Sofa. Es fühlte sich gut an, sich von den Klamotten gelöst zu haben, vor allem von diesen langärmligen Hemden, die er jeden Tag tragen musste, auch jetzt im Sommer. Stille beherrschte die Wohnung, keine Menschenmassen mehr, keine schlechtgelaunten Verkäuferinnen, keine Arbeitskollegen mehr, einfach nur Ruhe. Alexander atmete tief. Er lag einfach nur da, musste nichts sagen, nichts arbeiten und sich mit keinem anderen auseinandersetzen. Das war der schönste Moment seiner Tage, die vollkommene Abwesenheit von allem kurz nachdem er nach Hause gekommen war. Aber gerade diese Abwesenheit, das zu sich kommen, was er genießen konnte, schlug im Laufe eines jeden abends um in das Gefühl von Einsamkeit, gerade wenn es draußen dunkel wurde. Er hatte sich angewöhnt, früh ins Bett zu gehen, um der Einsamkeit nicht zu lange ausgeliefert zu sein und so war er auch am nächsten Morgen wieder umso fitter für den Tag im Amt. Noch zwei Wochen, dann würde er für eine Weile in den Urlaub fliegen. Darauf freute er sich ungemein, obwohl er nicht genau wusste, woher diese Freude rührte. „Wahrscheinlich freue ich mich auf die Abwechslung“, dachte er sich, als er kurz vorm Einschlafen so im Bett lag. „Obwohl, ich brauche doch nicht unbedingt Abwechslung, oder?“. Er wusste es nicht. Alexander strich sich mit seiner Hand über seine Brust und legte sich quer ins Bett, mit den Beinen auf die andere Bettseite. „Ich könnte mir mein Leben gar nicht anders vorstellen als so“, dachte er und schlief dabei ein.


Drei Wochen vorher:

Es wurde langsam Sommer in der Stadt. Die Kinder spielten wieder bis spät in den Abend draußen, es roch nach Grillkohle, die Insekten schwirrten wieder durch die Luft und einem um den Kopf und die Tage wurden länger. Was? Die Tage werden doch nicht länger!? Alexander hatte diesen Spruch schon immer dämlich gefunden, denn ein Tag war seiner Meinung nach im Sommer auch nicht länger als im Winter, denn er war in beiden 24 Stunden lang und aus unerfindlichen Gründen kam es ihm so vor, als würde das tatsächlich stimmen. Sommer. Viele verbinden das doch immer nur mit Liegestühlen, Sand, Strohhalmen und Sonnenbrand am Strand. Alexander verstand nicht, wieso es so viele jedes Jahr in der Hochsaison wie die Zugvögel im Winter in den Süden trieb. Hochsaison! Bei diesem Wort sah er vor seinem inneren Auge immer überfüllte Strände auf Mallorca, wo der Platz für Liegestühle nicht mehr reicht und sie sich mit ihren Handtüchern gleich ins Meer legen. Dann brauchen sie wenigstens nicht mehr aufzustehen, wenn sie ins Wasser gehen wollen. Alexander war in seinen Urlaubsvorstellungen sehr eigen. Die letzten Jahre hatte er es „nur bis in den Schwarzwald geschafft“, wie seine Arbeitskollegen ihn immer neckten. Sie flogen allesamt immer auf solche Inseln wie Kreta ( „Morgen ist hier Schluss, dann heißt es Hannover-Heraklion, dann könnt ihr mir mal an den Füßen runterrutschen“ ) oder Lanzarote ( „Ich schicke dir dann etwas Feuer per Postkarte in deinen Schwarzwald „ ) und obwohl sie sich die größte Mühe gaben, ihn neidisch zu machen, sie schafften es nicht.

In diesem Jahr sollte aber auch Alexander etwas Neues probieren. Er hatte mehr durch Zufall so nebenbei von einer neuen Insel gehört, die erst ein paar Monate existierte und die von den Menschen, die sich auf ihr angesiedelt hatten „Fortunien“ getauft wurde. An einem ganz normalen Abend, auf dem Weg vom Einkaufen nach Hause, packte ihn das Schild eines Urlaubsangebotes des Reisebüros, an dem er tausend Mal langgegangen war, aber das erst an diesem Tag seine Aufmerksamkeit erhaschte. „Tausend Mal passiert! Tausend mal ist nichts passiert, tausend und eine Nacht, und es hat…“, sang seine innere Stimme und der Beschluss kam aus dem Nichts, aber er nahm sich vor, am nächsten Tag ins Reisebüro zu gehen und sich nach dieser neuen Insel zu erkundigen. Er war 30 Jahre alt und arbeitete nun 6 Jahre im Sozialamt und fuhr nun schon jahrelang in seinen Wald und es war die Zeit gekommen, sich mal nach etwas anderem umzusehen. „Nicht unbedingt nach was Besserem, sondern einfach mal was anderes“, dachte er sich.

Am nächsten Tag nach der Arbeit ging er nicht gleich nach Hause sondern schleppte sich noch zum Reisebüro. Richtig Lust hatte er nicht mehr, aber ihn interessierte doch diese Insel, von der immer mehr Leute sprachen. Alexander betrat das Reisebüro und die aufgehende Tür löste das Geräusch von Meeresrauschen aus. Alexander erinnerte sich an das Spiel mit der offenen Muschel, mit dem man die Kinder immer verarscht hat, von wegen sie würden in der Muschel das Meer rauschen hören. „ Bekommen Sie schon?“, fragte eine Büroangestellte und riss ihn damit wieder aus seinen Träumen, die ihn selbst kurz erstaunt hatten. „Ääh, Wie bitte? Nein, ich bekomme noch nicht!“….“Na dann nehmen Sie mal hier drüben Platz!“. Alexander setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch der jungen Frau. Jetzt saß er mal auf dieser Seite, sonst war er immer auf der anderen zu Gange. Die Frau fragte ihn, wofür er sich denn interessieren würde und er verwies auf das Angebot, welches draußen vor dem Geschäft beworben wurde. „Ach, gehören Sie also auch zu denen, die als erste Urlauber auf diese Insel fliegen wollen?“, sagte sie schmunzelnd. „Erste Urlauber? Vor mir und den anderen ist noch nie jemand dort hingeflogen?“…“Nein!“. Wahnsinn, dachte Alexander sich, wie komme ausgerechnet ich dazu, mich darauf einzulassen. Aber ich mache es, Entschuldigung Schwarzwald. „Erzählen sie mir etwas über dieses Insel!“, forderte Alexander neugierig. „Ich gebe ihnen am Besten ein paar Prospekte mit nach Hause, dann können sie sich in Ruhe anschauen, was Fortunien zu bieten hat. Ok?“. Er willigte ein und verschwand mit den Prospekten unterm Arm aus dem Reisebüro. Beim Öffnen der Tür, erklang wieder das Meeresrauschen. Alexander hielt erneut kurz inne und machte sich dann auf den Weg nach Hause.

Es wurde schon langsam dunkel draußen, als er sich mit den Broschüren im Wohnzimmer auf die Couch legte. Sie waren nicht besonders dick und die Auswahl an Hotels war nicht besonders groß, da alles sich noch im Aufbau befand, wie Alexander dem vorderen Teil des Heftes entnehmen konnte, welches die Entstehungsgeschichte der Insel beschrieb. Die Einwohner, die sich auf der Insel angesiedelt hatten, hätten sich dazu entschlossen gehabt, sie in ein Paradies auf Erden umzuwandeln, wo jeder Glück erfahren könne und wo Lebensbedingungen herrschten, die man sich in der ganzen Menschheitsgeschichte immer gewünscht, aber nie umgesetzt hatte. „ Fortunien – Wo der Mensch noch für sich lebt!“ lautete eine der Überschriften für einen Text, der zunächst die Verhältnisse auf der Welt unter die Lupe nahm und kritisierte und dann das Blaue vom Himmel versprach. Alexander glaubte, wie alle, die er kannte, nicht mehr an Heilsversprechen, an einen Ort, an dem alles besser wäre. Er war jetzt 30 Jahre alt und arbeitete seit 6 Jahren im Sozialamt, und was da so an Fällen an ihm vorbei gingen, konnte einem jeden Sinn für Jesus’ Himmel auf Erden nehmen. In ihm tauchte der Zweifel auf, ob nicht dieses ganze Angebot ein großer Schwindel wäre. Die Insel würde es sicherlich noch nicht einmal geben, dachte er. Dahinter steckte sicherlich wieder eine von den Betrügerfirmen, die schon längst Pleite waren oder die es gar nicht mehr gab und die einen letzten Trumpfversuch starteten und ihre Fallen legten. Er betrachtete das Urlaubsprospekt nach einiger Zeit des Lesens eher als eine Gute-Nacht-Geschichte anstatt einer seriösen Urlaubsmöglichkeit. Die Bildchen dazu waren ja nicht schlecht, aber da wurde bestimmt einiges daran gedreht, meinte Alexander zu wissen. Schwindel hin oder her, die Geschichte dahinter besänftigte ihn und ihn überkam diese sanfte Müdigkeit, die einen so selig macht. Er legte die Prospekte auf den Wohnzimmertisch. Beinahe hätte er sie auf den Stapel an Papiermüll gelegt, aber etwas hielt ihn zurück, es doch nicht zu tun. „Die Menschen wollen an das Gute glauben und positiv denken, auch wenn dafür eine Selbsttäuschung notwendig ist“, sagte er leise in den leeren Raum hinein, als ob er diesen Satz jemanden sagen wollte, als ob er ihn bestätigt bekommen wollte von jemanden, aber da war keiner. Draußen war es mittlerweile schwarz wie die Nacht, denn es war auch schon Nacht. Alexander stellte sich ans Fenster und blickte in den Himmel. Rote und weiße Lichter von Flugzeugen blinkten da oben, wahrscheinlich mit Menschen drinnen, die mit dem Flugzeug in den Schwarzwald fliegen, versuchte er sich selbst ein Grinsen ins Gesicht zu zaubern. Anschließend versank er in den gleichen schwebenden träumerischen Zustand, wie schon vorher im Reisebüro beim Geräusch des Meeresrauschens. Dann schlug er sich selbst leicht mit der Hand in sein Gesicht, als müsse er sich dringend zurückholen und zog die Jalousie runter. Das Blinken der Flugzeuge war nun weg und er ging schlafen.


Es war schon ungewöhnlich warm im Schlafzimmer, als Alexander am nächsten Morgen aufwachte. Kein Wunder, es war ja auch schon fast Mittag. Er hatte verschlafen. Als er nach einer Viertelstunde ganz bei Sinnen war entschied er sich zwischen den zwei Möglichkeiten, verspätet ins Büro zu fahren oder gar nicht mehr ins Büro zu fahren, für letztere. Alexander staunte, wie leicht ihm diese Entscheidung gefallen war, konnte er doch sonst nie seinem Tageskreislauf entkommen. „Ich hatte noch nie Kreislaufprobleme“, entgegnete er Bekannten, die ihn auf seinen durchstrukturierten, sich immer wiederholenden Tagesablauf ansprachen. Nun stieg er also aus dem Bett und ging in die Küche, um dort den morgentlichen Kaffee zu kochen. „Ein Muntermacher!“, wie seine Großmutter schon immer gesagt hatte, obwohl sie immer Kaffee ohne Koffein getrunken hatte. Als der Kaffee durchgelaufen war, warf Alexander einen Blick in den Kühlschrank. Er war so gut wie leer. Stimmt ja, er hatte gestern Abend noch einkaufen gehen wollen, musste aber unbedingt die Prospekte dieser Insel durchstöbern. Er schnappte sich seine Klamotten und ging ins Wohnzimmer um sich anzuziehen. Dabei sah er die Prospekte vom letzten Abend auf dem Tisch liegen und beinahe hätte er sich vom weiteren Anziehen durch sie abbringen lassen und hätte nochmals in ihnen geblättert. Schließlich ging er aber doch einkaufen. Vom Lesen von Urlaubsbroschüren wird man ja nicht satt, auch wenn auf manchen Bildern das Frühstücksbuffet eines Hotels abgebildet ist.

Im Supermarkt angekommen erkannten ihn ein paar Leute. „Sie fragen sich mit Sicherheit, was ich um diese Zeit hier mache. Ich müsste ja eigentlich im Büro sein, ich Idiot!“, hörte er sich denken. Umso schneller, getrieben von der Idee, die Leute könnten ihn weiter beobachten, ging er durch den Laden und schmiss sich hastig alle Waren aus den Regalen in seinen Wagen. Er durfte ja gar nicht hier sein, er müsste doch im Büro sein. Es ließ ihn nicht mehr los, denn so kannte er sich nicht. Man konnte sich immer auf ihn verlassen, hundertprozentig. Als er an der Kasse ankam und er bezahlen musste, merkte er plötzlich, dass er sein Portemonnaie nicht mit dabei hatte. Das auch noch, dachte er sich, heute scheint aber auch gar nichts zu funktionieren. Alexander bat um das Verständnis der Kassiererin. Er würde den Wagen vor ihr stehen lassen, schnell nach Hause gehen um das Geld zu holen und dann wiederkommen. Sie war einverstanden und so sprintete er los. So schnell war er seit Jahren nicht mehr gelaufen, denn es hatte nie einen ähnlichen Grund gegeben. Als er wieder zurück an der Kasse war, konnte seine Lunge kaum noch dem Bedürfnis seines Körpers nach Sauerstoff gerecht werden. Er zahlte und ging dann erschöpft und froh, diese Pleite hinter sich zu haben, nach Hause, wo er nun um 12 Uhr mittags frühstückte. Alexander war nun völlig aus der Bahn geworfen. „Der ganze Tag ist jetzt kaputt“, fluchte er vor sich hin.

Nach dem Frühstück legte er sich ins Wohnzimmer auf die Couch und ihm wurde mit einem Mal ganz komisch zu Mute. „Es kann doch nicht sein, dass ich so schnell aus der Bahn zu werfen bin, nur weil ich einmal unentschuldigt fehle. Lasse ich mich denn wirklich so stark steuern, bin ich denn so stark abhängig von meiner Arbeit, dass ich Angst verspüre, wenn ich aus Versehen einmal drei Stunden länger geschlafen habe als sonst? Es ist, als wurde ich immer durchs Leben getragen von ihr und allen meinen Ritualen und heute, da alles nicht so läuft wie immer, komme ich mir gleich viel schwächer vor. Wahrscheinlich übertreibe ich wieder mal mit meinem Selbstmitleid, aber ich habe so ganz leicht den Eindruck, als hätte ich nicht mehr mein Leben im Griff, sondern nur noch das, was mein Leben im Griff hat und wenn ich das loslasse, stürzt alles über mir zusammen.“ Er hätte es gerne jemanden gesagt, jemanden, der irgendetwas dazu sagen hätte können. Eine Reaktion, eine Rückmeldung über ihn. Etwas, was ihm hätte zeigen können, was seine Gedanken bedeuteten, aber da war keiner. Es gab keinen, der es hätte tun können. Seine Augen wanderten erneut zu den Urlaubsbroschüren. „Fortunien. Tja, eigentlich will ich es ja schon mal erfahren, ob an dieser Insel was dran ist“, waren seine nächsten Gedanken.
Alexander schnappte sich die Hefte, blätterte sie noch mal durch, diesmal mit einem Kugelschreiber in der Hand, und markierte Hotels, die ihm gut vorkamen. Danach rechnete er die Preise durch und entschied sich für ein Hotel. „Entweder dieses oder gar keins. Wenn sie das nicht haben, dann fliege ich auch nicht“, entschloss er sich letztendlich dazu, ins Reisebüro zu gehen und zu buchen. Anders würde ihn diese Insel doch nicht mehr loslassen. Er musste der Sache jetzt nachgehen.

Alexander trat ins Reisebüro. Meeresrauschen. „Aah, da sind Sie ja wieder!“, begrüßte ihn die gleiche Frau, wie das letzte Mal. „Na, dann kommen Sie mal hier rüber!“. Er setzte sich zu der Frau und öffnete das Prospekt, das er mitgebracht hatte, an der Stelle, an der sich das Hotel befand, das er sich ausgesucht hatte. „Ich habe mich entschieden“, sagte Alexander nun sehr entschlossen und zeigte mit dem Finger auf das Hotel. „ Oh, eine gute Wahl. Viele von den anderen ersten Touristen haben sich auch schon für dieses Hotel entschieden. Wann wollen Sie denn die Reise antreten?“…“In vier Wochen bekomme ich Urlaub und dann würde ich gerne für 10 Tage buchen!“….“10 Tage? Warum nicht 14 Tage, das würde sich viel mehr rentieren. Haben Sie das auch schon in Erwägung gezogen und mal durchgerechnet?“….“Nein, habe ich noch nicht und danke, aber diese Überlegung ist nicht nötig. 10 Tage reichen vollkommen aus, gerade bei einer Insel, die noch so unbekannt ist. Man weiß ja nicht, was einen da alles erwartet!“. Die Frau gab die Daten in den Computer ein und fragte dann nach der Anzahl an reisenden Personen. „Ich fliege alleine!“…“Na das habe ich auch schon lange nicht mehr gehört. Haben Sie denn keinen gefragt, der mit ihnen kommen könnte?“. Alexander wurde rot im Gesicht und da die Frau das bemerkte, fragte Sie nicht weiter nach. „Gut, ihr Abflugflughafen wäre dann Hannover und sie müssten einmal in Frankfurt umsteigen. Das sollte alles reibungslos klappen. Streiks sind in naher Zukunft nicht auszumachen. Vom Zielflughafen werden Sie dann von einem Shuttle-Service abgeholt und in ihr Hotel gebracht. Alles weitere bekommen Sie in den nächsten Tagen mit der Post zugeschickt. Die Tickets und die Reservierung. Dann wünsche ich einen angenehmen Flug und Aufenthalt und wenn Sie wieder hier sind, kommen sie mal vorbei und erzählen mir, wie es dort so ist. Mich interessiert die Insel nämlich auch.“ Alexander bezahlte mit Karte, bedankte sich und verließ das Reisebüro. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er hatte es gebucht und sofort stieg eine gewisse Vorfreude in ihm auf. Ab diesem Tag begann er die Tage zu zählen, bis es losgehen sollte. „Die paar Wochen auf der Arbeit werde ich auch noch rumkriegen“, schoss ihm durch den Kopf und er erschreckte sich ob dieser Gedanken, denn noch nie hatte er so gedacht.

Wieder zu Hause angekommen kramte er alte Fotos und eigen geschriebene Reiseberichte von seinen letzten Urlauben im Schwarzwald wieder hervor. Er hatte schon fast alle wichtigen Touren in dem Gebiet hinter sich. Die Schwarzwaldhochstraße, sämtliche Panoramawege und alles rund um Baden-Baden hatte er befahren oder bewandert. Seinen Wanderrucksack konnte er dieses Jahr in der Ecke liegen lassen. Dieses Jahr mussten richtig Koffer gepackt werden und an die Koffer kämen Schilder, auf denen stehen würde „Hannover-Fortunien“. Es wurde Abend und wenn Alexander so den Tag Revue passieren ließ, musste er feststellen, dass er gar nicht so übel war, wie er sich ihn zu Beginn ausgemahlt hatte. Der Fehltag störte ihn schon gar nicht mehr, als er sich erneut mit den Reiseprospekten auf die Couch legte. Zu den Bildern auf den Seiten gesellten sich Bildern aus seinem Kopf und zusammen spielte sich alles wie ein Film in ihm ab. Dieser Film begleitete ihn bis in die Tiefschlafphase und so bemerkte er auch gar nicht, dass er auf der Couch liegen geblieben und nicht ins Bett gegangen war. Es war egal. Sein Kopfkino hatte neu eröffnet und gewonnen.


Es war Tradition unter den Kollegen im Sozialamt, dass am letzten Tag vor Beginn der Ferienzeit alle zusammen essen gingen. Sie hatten ihr Stammlokal und jedes Jahr wurde Spanferkel satt bestellt, so richtig mit Sauerkraut, wie es sich gehört. Alexander stand vor dem Spiegel und zog sich an, Hemd, Stoffhose und dann noch diese blöde Kravatte. Er hasste Kravatten und überhaupt hing ihm alles unbequem am Leib. Er hasste solche formellen Anlässe. Am liebsten hätte er zu diesem Anlass sein T-Shirt und seine kurze Hose angelassen, aber nein, es muss sich ja vernünftig gekleidet werden. Nicht nur die Klamotten waren ihm ein Dorn im Auge, sondern auch sein Wissen darüber, wie solche Treffen ablaufen. Es wurde sich um Kopf und Kragen geredet ( Hoppla, der Kragen von seinem beschissenem Hemd musste ja unbedingt noch runter ) und in dem ganzen Lokal herrschte eine so große Lautstärke, gegen die man kaum anreden konnte. Man musste die ganze Zeit schreien und die anderen konnten es meist doch nicht verstehen, nickten aber blöd. Ein Blick auf die Uhr. Es war schon Viertel nach pünktlich. Jetzt auch noch hetzen….

Halb nach pünktlich traf Alexander im Lokal „Zum Hirschen“ ein. Alle anderen Kollegen waren schon da, er war der Letzte. „Ah, da hinten kommt er ja endlich. Heh, Alexander, komm rüber hier!!! Wo warst du denn so lange?“…“’N Abend. Ich musste unterwegs noch tanken und an der Tankstelle war so ein Betrieb, da wäre ich besser gleich zu Fuß gelaufen.“ Natürlich stimmte das mit der Tankstelle überhaupt nicht, aber er hätte unmöglich sagen können, dass er beinahe im letzten Moment sich noch dazu entschlossen hätte, zu Hause zu bleiben und das mit der Tankstelle, ja, so kannten sie ihn. Er gesellte sich zu den anderen und der Kellner schrie, was er denn trinken wollte. Alexander schrie zurück, er hätte gerne das erste und letzte Bier. Der Kellner guckte ganz verdattert und notierte extra auf seinem Notizblock „erstes und letztes Bier“, damit er ihn nicht noch abfüllte. Man konnte sagen, die Kollegen von Alexander waren schon angeheitert. Sie alle gehörten zu denen mit der festen Überzeugung, man könne ohne Alkohol keinen Spaß haben und der Alkohol würde ihnen dazu verhelfen, ihr Inneres nach Außen zu kehren. „Das tut er auch!“, dachte sich Alexander, „und verpackt es in passende Worte, die in jeder beliebigen Reihenfolge den gleichen Sinn hätten!“. Er konnte sich nicht helfen, aber den ganzen Abend über musste er auf die Uhr schauen. Wann kann ich frühstmöglich wieder gehen, ohne dass es unhöflich wirkt? Die Gespräche bestanden größtenteils aus Angeberei und Selbstdarstellung, als ob sie den jeweils anderen unbedingt erzählen mussten, wer sie waren, dabei kannten sie sich alle schon vorher. Und dann erzählten sie natürlich noch von ihrem Urlaub, den sie gebucht hatten. Kreta, Rhodos, Fuerteventura, Bulgarien, Mallorca….. .Alexander hätte von Fortunien erzählen können, aber wozu? Er hätte von der Entstehungsgeschichte erzählen können, davon, dass er zu den ersten Touristen gehörte, die jemals diese Insel betreten würden und das dort versucht wurde, einen Traum in die Wirklichkeit umzusetzen, aber er wusste ja noch nicht einmal, ob das überhaupt wirklich Gold war, was da glänzte. Wie hätte er ihnen denn erklären sollen, dass er das Angebot zuerst für das einer Betrügerfirma gehalten hatte und es letztendlich doch gebucht hatte. Er hätte ihnen seine Beweggründe nicht erklären können und sie hätten sie auch gar nicht wissen wollen. Es gab keinen Grund, darüber zu reden und mit vollem Mund spricht man sowieso nicht. Ach ja, das Essen gefiel Alexander übrigens gut. Es war auch das einzige, wofür er hergekommen war. Zum Schluss bei der Abrechnung bemerkte der Kellner vor der ganzen Runde bei Alexander gesondert „..und das erste und letzte Bier“ und alle lachten. Ja, so kannten sie ihn, ihren Alexander. Ihren Alexander. Zum Schluss klopften sich alle auf die Schulter und wünschten sich einen erholsamen Urlaub und das man sich in alter Frische wiedersehen würde. Es war das letzte Mal, dass sie Alexander sahen............................................. .................................................. .................................................. .................................................. .....
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