Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 13.04.2006, 18:28   #1
Riif-Sa
 
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 253


Standard WeGeSchichten

Wie wir mal Besuch bekamen

Eines Mittags stand ich in der Küche und hatte meine Hände zwecks einer lange überfälligen Reinigung des Geschirrs in das schmutzige Spülwasser eingetaucht. Detlev kam mit hypnoti¬siertem Blick in die Küche geschleift, erstarrte jedoch sofort, als er sah, was ich da tat.
„Was tust du da?“ fragte er.
Wahrheitsgemäß antwortete ich: „Abwaschen.“
„Warum?“ fragte er entgeistert.
Er hatte mich durchschaut. Wenn ich in diesem Moment behauptet hätte, ich würde das tun, weil es getan werden müsste, wäre das ungefähr genau so glaubhaft gewesen, als wenn ein Politiker verspricht, sich um die Probleme der Bürger zu kümmern. Der Abwasch und die Probleme der Bürger nehmen hier eine gleichwertige Position ein: Man weiß, dass es da ist, aber man hat weder Lust noch Zeit, sich darum zu kümmern.
Es nützte nichts, ich musste mit der Wahrheit rausrücken.
„Naja, ich will nur, dass die Küche ein bisschen ordentlich aussieht, wenn mein Besuch da ist.“
Detlev war augenblicklich hellwach. „Besuch?“
„Ja, Besuch.“
Für einen Moment hielt er inne und bewegte sich kein Stück vom Fleck. Sein Körper war wie eingefroren, als würde seine Zeit stehen bleiben. Das hätte direkt cool ausgesehen, hätte er schwarze, verstaubte Klamotten und einen schweren, langen Ledermantel angehabt anstatt hellgrauen Shorts und einem Unterhemd mit eingetrockneten Bierflecken.
Oberflächlich war es mucksmäuschenstill, aber über die Distanz von zwei Metern konnte ich sein Hirn arbeiten hören. ‚Beh – Such.’ Es schien, als würde er seinen kompletten Datensatz nach diesem Begriff durchsuchen, eine Suche, die nicht ganz unberechtigt war. Ich konnte mich auch nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal Besuch bekommen hatte, wenn man mal von GEZ – Mann, der Postbotin und den Zeugen Jehovas absah. Da kam in mir das Bedürfnis auf, Detlev zu bedauern. Das passiert nur etwa zwei Mal im Jahr, trotzdem beließ ich es bei dem Bedürfnis, denn ich wollte ihn nicht beim Nachdenken stören.
Während er arbeitete, versuchte ich, ein paar angebrannte Nudeln aus meinem Lieblingstopf zu entfernen. Sie waren sehr hartnäckig. Es waren einmal Fertignudeln gewesen, das konnte ich erkennen, ungefähr sieben Millimeter breit, einen Millimeter dick, leicht gebogen und mit einer für Nudeln untypischen Blässe. Ich war mir sicher, dass es die waren, die in der Tüte immer mit Käsesauce zu finden sind (so etwas baut mich immer unheimlich auf. Gil Grissom kennt sich mit Insekten aus, Horatio Caine mit Bomben und ich eben mit Fertignudeln. Wenn ich damit nicht mindestens einen Fall beim CSI lösen kann, dann weiß ich auch nicht). Sie sind furchtbar und sie sind frech. Nachdem ich mir einen Wolf geschrubbt hatte, schien es, als würden sie mich angrinsen und mir zurufen: „Du wirst uns nicht aufessen! Du nicht!“ Nun kann man sich ja denken, dass Nudeln von Natur aus doof sind, deswegen stellte ich mir vor, wie ich ihnen schelmisch vorgaukelte, dass ihnen nichts passieren würde. Sie müssten das nur verstehen, der Topf würde ja schließlich noch gebraucht. Doch dann, nachdem sie freiwillig ihren angestammten Platz verlassen hätten, würde ich sie einfach packen und mit hämischem Lachen in den Mülleimer werfen.
Dann fiel mir aber auf, dass das ja äußerst grausam wäre und überhaupt würde es sehr dämlich aussehen, wenn ich mit den angebrannten Nudeln im Topf unterhalten hätte.
„Wie, Besuch?“
Ich zuckte zusammen. Detlev stand noch immer in der Tür. Es sah wohl ganz so aus, als sei er zu keinem zufrieden stellenden Ergebnis gekommen. Irgendwie hatte ich das auch nicht erwartet.
„Eine Frau kommt uns besuchen.“ Sagte ich hinzufügend, um ihn wieder für ein paar Augenblicke zu beschäftigen.
Es klappte. Sofort begann es neben mir wieder zu Rattern. ‚Frau…’
Die Wahrscheinlichkeit, dass er dieses Mal zu einem Ergebnis kommen würde, schätzte ich ebenfalls nicht viel höher. Doch dann fiel mir auf, dass er nicht ganz so starr blieb wie eben. Sein Gesichtsausdruck verriet mir ganz deutlich, dass er mindestens einen Querverweis zu diesem Begriff in seinem Hirn abgespeichert hatte. ‚Brüs – Teh.’
Es schien, als hätte er sogar ein Bild dazu abgespeichert. Ein sehr altes, wie ich vermutete, doch anscheinend gefiel es ihm.
Einen kleinen Anreiz gab ich ihm noch: „Naja, sie ist zwar nur 1,60 groß, aber ihr Körper kann Meisterleistungen vollbringen. Sie hat blondes Haar und umwerfend schöne Augen.“
Jetzt ging das Gerattere und Gerumpel in seinem Hirn erst wirklich los. So wie in unserer Küche in diesem Moment, so muss es in Inneren des Big Ben klingen. Nun ja, ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie es da klingt, aber ich hatte als Kind mal Basel, den großen Mäusedetektiv gesehen, da lieferten sich Basel und Professor Rattenzahn am Ende einen erbitterten Kampf im Inneren des Big Ben und so wie in dieser Szene, so muss es in diesem Moment in Detlevs Kopf ausgesehen haben.
Es passierte erstmal nichts. Ich wollte mich grade wieder den Nudeln widmen, da produzierten Detlevs Ausgabegeräte schon die ersten Ergebnisse seiner Kombinationsfähigkeit.
„Mhh…“ sagte er. „Eigenlich könnte ich ja das Bad mal sauber machen, das ist ja auch schon lange nicht mehr gemacht wurden.“
Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass wir das Bad schon irgendwann einmal sauber gemacht hätten.
Ich nickte. „Okay.“
Er zog ab und für ein paar Minuten war es wieder still. Ich befürchtete schon, er hätte das einfach nur so dahin gesagt, aber ich habe Detlev als einen Menschen kennen gelernt, der nichts einfach so dahin sagt. Höchstens vor sich hin, aber ich glaube, er würde das selbst als „lautes Nachdenken“ bezeichnen. Jedenfalls hielt die Ruhe nicht lange an.
Mit einem Mal drang ein lautes und unerträgliches Brüllen durch die Wohnung. Detlev machte Ernst, er machte sich daran, das Badezimmer zu reinigen und er begann mit dem Staubsaugen. Seitdem ich hier wohnte, hatte ich mich gefragt, warum dieser gelbe Mülleimer mit dem Schlauch da im Vorraum des Bades steht. In diesem Moment wusste ich: Das ist kein Mülleimer, das ist ein Staubsauger. Ein Kärcher aus dem Jahre 1995. Wahnsinn. Ich widmete mich wieder dem Abwasch.
Böse Nudeln. Ganz böse Nudeln. Am Topf festkleben, damit dem Koch auch nichts nützen, weil man sie nicht essen kann und dann auch noch beim Schrubben kleben bleiben wollen. Das haben wir gerne. Ganz spontan verlor ich die Lust am Abwaschen, ließ alles im Wasser liegen und trat in den Flur hinaus. Im selben Moment ging die Tür gegenüber auf und Yves trat hervor.
„Was ist denn das für ein Krach?“ konnte ich ihn durch den Herbststurm rufen hören, den der 95’er Kärcher verursachte. Detlev betätigte den überdimensionalen Schalter, der oben auf dem Ding angebracht war und brachte es damit zum Schweigen.
„Ich dachte, ich mach mal sauber.“ Sagte er.
„Aha.“ Sagte Yves völlig begeisterungslos.
„Ja, wir kriegen nämlich Besuch.“ Fügte Detlev freudig hinzu.
„Aha, Besuch also.“ Antwortete Yves mit spürbar wachsendem Interesse.
„Genau,“ nichte Detlev mit einem enthusiastischem Grinsen, „von einer Frau.“
„Soso, ein Frau.“ Gab Yves seinen berechtigten Bedenken Ausdruck.
„Ja, eine Frau.“ Sagte Detlev und machte eine bedeutungsschwangere Geste.
Yves blickte mich an. „Du wäschst grade ab?“ fragte er.
Ich sah über meine Schulter in die Küche zurück. Leise, ganz leise konnte ich die Nudeln kichern hören. „Uns nicht!“ Ohne Zögern lächelte ich verlegen und nickte.
„Ich wollte grade anfangen und auch die Küche generell, die sieht ja nun wirklich nicht mehr…“
„Ich mach das.“ Fiel er mir ins Wort. Dann schob er sich an mir vorbei, nahm den Schwamm und fing sofort begeistert an, gegen die Nudeln zu kämpfen. Nun schaltete auch Detlev sein Saugmonster wieder ein und machte sich an die Arbeit. Da stand ich nun und wusste nicht, was ich von den letzten Minuten halten sollte, doch ich wollte nicht darüber nachdenken. Warum auch? Seit ich die Bourne Identität gesehen habe weiß ich, wenn dir jemand einen Haufen Kohle gibt, damit du ihn nach Paris fährst, dann frag nicht wieso, sondern tu es einfach!
Philipp steckte seinen Kopf in den Flur und schaute ein wenig verdutzt. Ich ging auf ihn zu und betrat sein Zimmer. Ich erklärte ihm alles in Ruhe, wir tranken Cappuccino und aßen Haribo forever fun (ohne Fett, aber dafür mit 11 Vitaminen, Calcium und Magnesium).

Als ich meine Mutter zwei Tage später wieder zurück zum Bahnhof fuhr, wunderte sie sich, wie sauber meine WG doch sei.
„Alles Teamarbeit.“ Sagte ich.
Riif-Sa ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.04.2006, 23:58   #2
Belgarath
Gast
 
Beiträge: n/a

Standard Ich weiß sehr wohl

dass Prosatexte hier nicht gerne gelesen werden, weil das vielen zu mühsam ist. Das Internet ist eben ein schnelles Medium, und die Arbeit der Gehirnakrobatik und des aufmerksamen Lesens ist nicht jedermanns Sache.
Aber wenn man selber gerne Geschichten schreibt, dann versucht man immer wieder mal eine zu finden, die wirklich gut geschrieben ist, - meistens ohne Erfolg.
Heute und hier war das anders, auch wenn ich am Anfang noch nicht wirklich begeistert war. Das änderte sich nach nicht viel mehr als 10 Zeilen, und danach nahm mich deine wirklich gut erzählte Geschichte vollkommen gefangen. Vielleicht, weil mir die Szenerie so vertraut vorkam, auch wenn es schon einige Jahre her ist.
Und das Verblüffendste war, was ich allerdings nur am Rande wahrnahm, die Geschichte hat auch noch eine durchdachte Struktur, ist nicht so ein öder Textblock, wie viele hier und anderswo.
So war es ein ungetrübter Genuss, fast bis zum Ende.
Fast, denn hier hast Du etwas geschlampt:
>„Ich mach das.“ Fiel er mir ins Wort. Dann schob er sich an mir vorbei, nahm den Schwamm und fing sofort begeistert an, gegen die Nudeln zu kämpfen. Nun schaltete auch Detlev sein Saugmonster wieder ein und machte sich an die Arbeit. Da stand ich nun und wusste nicht, was ich von den letzten Minuten halten sollte, doch ich wollte nicht darüber nachdenken.
Warum auch? -diese Frage, so kurz sie auch ist, leitet eindeutig die Pointe der nächsten zeile ein, und sollte daher allein in einer Zeile stehen, um so mehr Gewicht zu bekommen-
Seit ich die Bourne Identität gesehen habe weiß ich, wenn dir jemand einen Haufen Kohle gibt, damit du ihn nach Paris fährst, dann frag nicht wieso, sondern tu es einfach!
Philipp steckte seinen Kopf in den Flur und schaute ein wenig verdutzt. Ich ging auf ihn zu und betrat sein Zimmer. Ich erklärte ihm alles in Ruhe, wir tranken Cappuccino und aßen Haribo forever fun (ohne Fett, aber dafür mit 11 Vitaminen, Calcium und Magnesium).<
Ist nur eine Kleinigkeit, aber nicht unwichtig...
  Mit Zitat antworten
Alt 14.04.2006, 00:43   #3
tagedieb
 
Dabei seit: 07/2005
Beiträge: 520


Ich gehöre zu den von Belgarath angesprochenen Leuten, die Prosatexte nicht gern lesen, weil es zu müsam ist. Hier war das aber gar nicht anstrengend. Huch. Und das spricht wohl für Dich, Riif-Sa. Mir hat diese lockere Sprache sehr gefallen. Es hat Spass gemacht den Text zu lesen.

Bloß war das Ende etwas absehbar. Aber eigentlich schadet das gar nicht. Passt.
tagedieb ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.02.2007, 06:54   #4
Riif-Sa
 
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 253


Wie mal der Kühlschrank explodierte

Um manche Sachen wird sich in einer WG mit ziemliche akkurater Genauigkeit gekümmert. Zum Beispiel, dass immer Kaffee da ist und Milch, dass man seine Musik so laut stellt, damit die anderen nicht schlafen können, man aber selber grade noch so keinen Hörsturz bekommt oder dass die anderen ihre Rechnungen immer schön pünktlich bezahlen. Lebensnotwendiges eben.
Dann wiederum gibt es Dinge, die als eher nebensächlich eingestuft werden. Die Bakterienpopulation in der Küche zum Beispiel, der Zustand der Wohnung im Allgemeinen, wenn sich nicht grade Besuch ankündigt oder auch, wie viel Toilettenpapier noch da ist. Jedes Mal, wenn jemand laut nach Hilfe rufend sich daran erinnert, beschließen wir, wenigstens das zu ändern, doch der Gedanke ist und bleibt der Selbe: „Es wird schon reichen.“
Zur letzterer der beiden Kategorien gehörte im Übrigen auch diese riesige Eiswand, die sich im obersten Kühlschrank unaufhaltsam von der oberen rechten Ecke aus über den ganzen Kühlschrank auszubreiten drohte.
Ich muss dazu vielleicht erwähnen, dass wir zwei Kühlschränke besitzen, oder vielmehr besaßen, aber dazu komme ich gleich. Das ist schon so, seit ich hier eingezogen bin und ich fand es eigentlich immer ganz vernünftig, denn ein Kühlschrank ist für fünf Mann eindeutig zu wenig. Grade auch dann, wenn man das System kennt, mit dem ein Mann einen Kühlschrank einräumt. Seit je her werden bei uns die frischen Lebensmittel nach vorne gestellt, das sieht auch besser aus, wenn mal jemand den Kühlschrank aufmacht. ‚Oh!’ kann man denjenigen dann denken hören, ‚Das ist ja alles frisch hier. Sehr ordentlich’, während im hinteren Teil des Kühlschranks die natürliche Verdauung der Natur langsam aber gründlich vor sich hinarbeitet.
Mit ein Grund, warum die Bakterienpopulation in der Küche auch in die zweite Kategorie gehören. Bio-Müll? Wir brauchen keinen Bio-Müll? Wir haben doch unseren Kühlschrank. Schon oft habe ich jemanden zu Unrecht des Diebstahls bezichtigt. „Lars,“ hatte Philipp mit versichert, „ich habe mal einen Blick in den Pudding geworfen, den hätte niemand mehr geklaut.“ Er erklärte mir auch, dass durch die günstigen Bedingungen in unserem Kühlschrank sogar Plastik extrem schneller verrotten würde als in der „normalen“ Natur. Es klang irgendwie glaubwürdig und erklärte auch das Verschwinden meines Puddings
Nun ja, kommen wir zurück zum eigentlichen Thema. Um all die unangenehmen Dinge aus der Kategorie zwei wird sich eigentlich immer dann gekümmert, wenn grade mal nichts zu tun ist oder wenn man Frust hat (oder bei Bedarf, wie bei der Sache mit dem Toilettenpapier). Das macht das Ganze wesentlich erträglicher. Alle sechs bis acht Wochen hat sicherlich irgendjemand Langeweile und der Abwasch wird in einem Rutsch erledigt, was dann schon mal den ganzen Vormittag in Anspruch nehmen kann und alle sechs Monate hat im Schnitt jemand Stress mit der „Liebe seines Lebens“. Flur, Bad und Küche glänzen hinterher wieder wie neu. Doch man muss vermutlich Langeweile und Stress habe, um auf die (zugegeben grandiose) Idee zu kommen, den Kühlschrank abzutauen. Ich ging davon aus, dass das wahrscheinlich zu selten passiert, als dass ich es in meiner Amtszeit als staatlich anerkannter Mitbewohner einmal miterleben würde.
Doch eines Tages passierte es. Dann aber gleich richtig. Die genaue Abfolge der Erlebnisse kann ich persönlich (Gott sei’s gedankt) nur nacherzählen, aber es muss sich in etwa so zugetragen haben:
Es war so gegen halb elf, was man aus der Sicht eines Stundenten auch ohne schlechtes Gewissen als „die frühen Morgenstunden“ bezeichnen kann. Der gute Philipp stand noch ein wenig schlaftrunken mit Shorts und SpongeBob T-Shirt in der Küche und machte sich den ersten Kaffee des Tages. Grade, als er die Küche nach getaner Arbeit wieder verlassen wollte, lies ihn der erste Schluck des schwarzen Goldes ein wenig aufhorchen. Er drehte sich noch einmal um und ließ das Bild auf sich wirken. Das rhythmische Tropfen war anders als das, dass das Tropfen des Wasserhahns seit einigen Jahren verursachte und an das sich eigentlich jeder bisweilen gewöhnt hatte. Der obere Kühlschrank ließ ihn stutzen, denn er war geöffnet und nach eingehender Betrachtung stellte sich heraus, dass er komplett geleert und sein Inhalt auf dem Küchentisch ausgebreitet war. Philipp schaute auf den Boden und fand dort ein Meer von Tauwasser vor. Musikalisch wie er ist, erkannte er sicherlich sofort den Takt, mir dem das Wasser der Eiswand in die riesige Pfütze auf dem Boden des Kühlschrankes tropfte.
Es stellte sich heraus, dass irgendjemand auf die Idee gekommen war, den Kühlschrank abtauen zu lassen und nebenher noch einige Besorgungen zu erledigen. Eigentlich kein abwegiger Gedanke wenn man nicht weiß, dass Eis nicht einfach verschwindet, sondern zu Wasser wird und die Eigenschaft besitzt, der Schwerkraft zu folgen. Das bedeutete in unserem Fall (das ist ja hier die Erde): Nach unten. Ich weiß, hinterher klugscheißen kann jeder, aber ich weiß auch, dass derjenige sicherlich Langeweile hatte, Stress mit der Freundin, Prüfungsstress, Versagensängste, schlechte Laute, Stechen im Rücken oder, wie Funny van Dannen sagen würde, Schilddrüsenunterfunktion.
Philipp trank seinen Kaffee und überlegte. Er konnte die ganze Aktion abbrechen, was zur Folge gehabt hätte, dass das Eis irgendwann einmal sein Zimmer erreichen würde, weil es ja der Küche am nächsten lag, oder er konnte an dieser Stelle weiter machen und den Kühlschrank ein für alle mal vom Eise befreien, was… nun ja, Arbeit zur Folge gehabt hätte, was machen, sich bewegen und so. Gar keine so leichte Entscheidung, doch er gab sich einen Ruck und beschloss, die Sache zu Ende zu bringen. Er holte ein paar Handtücher, einen Lappen und Küchenrollen und begann, das Wasser aus dem Kühlschrank zu entfernen.
Das Ganze stellte sich als wesentlich komplizierter heraus, als es auf den ersten Blick aussah, denn das Wasser hatte sich bereits weit nach vorne gewagt. Auch wurde es immer wärmer und das Wasser tropfte schneller nach unten, als er es beseitigen konnte. Es dauerte nicht lange, da lief die Suppe schon über. Sie lief in immer größer werdenden Bächen nach unten und bildete am Boden um den unteren Kühlschrank herum eine Lache. Es muss ungefähr eine Stunde gedauert haben, bis Philipp den Wasserfluss stoppen konnte und alles aufgewischt hatte.
Bedauerlicherweise hatte er keine Zeit, sich im Erfolg der getanen Arbeit zu laben, denn das Wasser hatte wohl schon beträchtlichen Schaden angerichtet. Plötzlich gab es einen Funkenflug und wenn es Nacht gewesen wäre, hätte Philipp im Dunkeln gestanden. Die Küche war stromlos. Nachdem er ein paar Sekunden lang starr in der (imaginären) Dunkelheit gestanden hatte, trennte er den Kühlschrank vom Stromnetz und warf einen Blick in unseren Sicherungskasten. Dieser Kasten muss noch aus der Zeit stammen, als der junge Thomas Alva Edison stolz das Patent für seine Erfindung in der Hand hielt. Jedenfalls konnte Philipp erkennen, dass die Sicherung für die Küche herausgeflogen war, was keineswegs bildlich gesprochen war. Die Sicherung lag auf dem Boden des Kastens und man konnte sehen, dass sie einen Abdruck auf der Innenseite der Holztür des Kastens hinterlassen hatte. Er schraubte die Sicherung für das Badezimmer heraus und setzte sie in der Küche wieder ein, damit wenigstens der obere Kühlschrank weiterarbeiten konnte. Das war wohl zu viel Stress am frühen Morgen für den armen Philipp und als er dann auch noch feststellte, dass der Rest seines Kaffees kalt geworden war, hatte er überhaupt keine Lust mehr und verkroch sich auf sein Zimmer.
Am Nachmittag kam Detlev nach hause und bemerkte, dass der Kühlschrank nicht funktionierte. Er dachte, das läge daran, dass der Stecker nicht in der Steckdose steckte, was ja auch nahe liegend war. Ich meine, im Ernst, wenn der Stecker eines Gerätes nicht in der Steckdose steckt, dann kann ein Gerät nicht funktionieren, also sollte man, wenn ein Gerät nicht funktioniert, nachsehen, ob der Stecker auch in der Steckdose steckt. Detlev sah, dass das Gerät nicht funktionierte und dass der Stecker nicht in der Steckdose steckte, also steckte er den Stecker in die Steckdose.
Den Knall konnte sogar ich hören, obwohl ich Kopfhörer aufhatte, schlief und zwischen meinem Zimmer und der Küche noch das Badezimmer liegt. Nachdem ich aus meinem Bett gefallen war, rappelte ich mich auf und ging nachsehen. Detlev war wohl okay, er saß in der anderen Ecke der Küche in der imaginären Dunkelheit und hielt sich den Kopf. Er konnte mir zunächst nicht sagen, was geschehen ist, doch nachdem wir Philipp geweckt hatten (sein Zimmer liegt neben der Küche und er hatte keine Kopfhörer auf), konnte uns dieser aufklären. Schließlich kam noch Yves dazu und wir beratschlagten, was zu tun sein. Zunächst haben wir die Sicherung des Flurs rausgeschraubt und sie in der Küche eingesetzt. Detlev erklärte sich bereit, neue Sicherungen zu kaufen und zog auch sogleich los. Wir kamen zu keiner weiteren Übereinkunft und beschlossen, unser Dasein vorerst mit einem Kühlschrank zu fristen.
Spät am Abend, ich stand grade mit einer Kerze im Bad und putzte meine Zähne, kam er wieder. Ohne Umschweife setzte er die fehlenden Sicherungen wieder ein. Wie aus heiterem Himmel fing die Waschmaschine hinter mir an zu rumpeln. Bei dem Versuch, die Kerze daran zu hindern, hinunter zu fallen und mir die Haare am Hintern zu versengen verschluckte ich fast meine Zahnbürste. Ich hatte mich grade von diesem Schock erholt, da hörte ich noch, wie Detlev sagte, er wolle „das mit dem Kühlschrank noch mal ausprobieren.“ Bisher wusste ich gar nichts von seinen masochistischen Anwandlungen. Ich versuchte noch, ihn aufzuhalten, doch ich sah nur noch, wie er den Stecker in die Steckdose steckte.
Nachdem der Arzt uns versicherte, dass er keine bleibenden Schäden davontragen würde, beratschlagten wir erneut, was zu tun sei. Bedauerlicherweise hatte Detlev genau zwei Sicherungen gekauft, weswegen wir nun erneut den Flur stromlos machen mussten. Seit diesem Tag leben wir mit nur einem Kühlschrank mit vier Fächern. Ärgerlich, dass wir fünf Leute sind, was das temporäre Zusammenleben in der Küche zu einem Pulverfass macht. Yves wollte das Problem frei nach dem „divede et impera“-Prinzip Cäsars lösen. Er räumte den ganzen Kühlschrank aus, teilte ihn in verschieden große Teile im selben Verhältnis wie die Zimmergrößen zur ganzen Wohnung ein. Schlecht für mich, denn ich habe das kleinste Zimmer. Noch heute höre ich Beschwerden, wenn ein paar von meinen Weintrauben über meine Grenze hinweg in der Halbfettmagarine von Kun hängen. Noch schlimmer ist, dass man mir, ohne vorher meine Meinung einzuholen, das Fach ganz oben rechts zugewiesen hat. Nun wird mein kleines kaltes Reich in beängstigend regelmäßigen Abständen von eben jenem Eisblock verkleinert, von dem am Anfang die Rede war. Jedes Mal, wenn ich mich darüber beschwere, rät man mir freundlich, den Kühlschrank doch abzutauen. Das ist zwar ärgerlich, aber jedes Mal, wenn ich das tue, bietet es mir die einmalige Chance, mein Reich unauffällig um ein paar Millimeter zu vergrößern. Das mag zwar ungerecht erscheinen, doch ich sehe es positiv. Jetzt muss ich wenigstens keine Zettel mehr mit der Aufschrift „Meins“ an meine Lebensmittel pappen.
Riif-Sa ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für WeGeSchichten

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche



Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.