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Alt 19.12.2006, 15:11   #1
Hassi
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Standard Weihnachten in der Kastanienallee 22

Weihnachten in der Kastanienallee 22

Erdgeschoss:
Familie Erwin und Mathilda Kranz sitzen zusammen mit ihren 7 Kindern, 33 Enkeln und 12 Urenkeln vereint um den Gabentisch. Ein lustiges Geschnatter zwischen Kartoffelsalat, Würstchen und Aquavit prägt das Bild. Irgendwann, schätzungsweise bei 2,8 Promille, erhebt sich Erwin und prostet symbolisch mit seinem 14. Aquavit in die Runde:
“Bescheeerung, ihr Lieben”.
Ungefähr 40-50 Personen stürmen daraufhin gen Weihnachtsbaum; fast so als gäbe es wieder Rabattwochen bei Worthwool. Wenigstens muss man sich im Kreis seiner Lieben nicht mit den Kaufhausausländern herumschlagen, die einem immer alles vor der Nase wegkaufen. Mathilda sitzt lächelnd und mit glasigen Augen in ihrem Sessel, während Erwin sie zusammen mit dem 16. Aquavit umarmt und ihr den Geruch von Anis und Torega Cabs auf die Lippen haucht. Während es draussen zu schneien beginnt, rinnen und rieseln in der guten Stube Wachs, Tannennadeln und Lametta auf Groß und Klein. Die Nordmanntanne von OBO schwankt fast so bedenklich wie Erwin, der sich auf den Weg in die Keller macht, um Getränkenachschub zu holen. Kurz nachdem hinter ihm die Tür ins Schloss fällt, öffnet auch der kleine Ferdi sein Weihnachtspaket.

1. Stock:
Es klingelt bei Jeanette und Nico Hinkers. Der Feinkostservice, der das Weihnachtsmenu bringt. Beide sind erfolgreiche Diplomidioten, die sich in täglichen Überstunden auf übertariflichen Jobs sonnen. Jeanette, wie immer im strengen Kostüm, jedoch heute mit offenen Haaren, nimmt das Essen in Empfang, gibt wie üblich kein Trinkgeld und begibt sich in die hygienische, nahezu keimfreie und ca. 30 Quadratmeter große Küche. An den Wänden hängen Kompanien unbenutzer Kupfertöpfe und -pfannen. Während Jeanette in der Küche mit aller Vorsicht, um sich nicht die perfekt manikürten Nägel einzureissen, die Speisen entblättert und auf vorgewärmte Billeroy & Voch Teller drapiert, sitzt Nico im Wohnzimmer auf der weissen Ledercouch von Bolf Renz. Die übrigens aus beruflichen Gründen sterilisierte Jeanette platziert derweil die angerichteten Speisen auf dem Tablett und macht sich auf ins Wohnzimmer um es anzurichten. Nico lamentiert derweil lautstark, dass da unten wohl wieder die ganze Rammlergesellschaft zu Gast ist und stellt den Lautstärkeregler an der Karman Hardon Anlage etwas höher und mit einem Knips den elektrischen Kamin an.
“Hmm wie das duftet, meine Liebe”, reagiert er als Jeanette das Wohnzimmer betritt und kurz darauf auf den Stilettos, die sie nur an Festtagen trägt, umknickt.

2. Stock:
Ganz und gar nicht sterilisiert, sondern eher das Gegenteil, sitzt Petra Pauli, die 39jährige Einzelhandelskauffrau von Adli, vor ihrem 50cm hohen, unechten Miniweihnachtsbaum. Darunter hat sie die Glückwunschkarte von ihrer besten Freundin Sabine aus Australien, die total dezent verpackte Sendung von Orion und einen Teller mit Dominosteinen und Pfeffernüssen aufgestellt. Murmelnd wünscht sie sich selbst eine schöne Weihnacht und stochert etwas melancholisch in der Weihnachtspasta, die Rentier- und andere weihnachtliche Motive hat, herum. Als das Handy piept, springt sie von ihren Nudeln auf, findet allerdings nur eine SMS ihres Provider wieder
“Frohe Weihnachten wünscht Ihnen ihr Fodavone Team”.
Zum Essen hat sie sich den teuersten Rotwein aus dem Ladensortiment gegönnt, kann aber keinen wirklichen Unterschied zum roten 3€-Wein erschmecken, allerdings darf es ruhig an Weihnachten mal etwas besseres sein. Sie beschliesst noch schnell den PC anzuschalten, der im Schlafzimmer steht, findet aber außer diversen Spam-Mails und einem flüchtigen Glückwunsch von Jochen, einer Chatbekanntschaft, verheiratet, 2 Kinder, mit dem sie auch 3-4 mal im Bett war, nichts vor und schaltet den Computer wieder aus. Wenig später liegt unter dem Weihnachtsbaum nur noch die Verpackung der Orion Sendung. Völlig dunkel ist ihr Schlafzimmer und außer einem, zu ihrem leichten Stöhnen summenden Jingle Bells, einem fortwährenden “Hohoho” und etwas bizarr blinkendem, was von einer Hand geführt wird, kann man nichts erkennen oder vernehmen.

3. Stock (Dachgeschoss):
Detlef und Peter, die im Haus nur die “beiden Turteltauben” genannt werden, befördern gerade gemeintschaftlich die Gans aus dem Ofenrohr, die sie vor einigen Stunden mit viel Hingabe mit vielen Leckereien armtief gestopft haben.
“Wie herrlich das duftet” äußerst Peter beim Anblick der gut gebräunten Gans.
“Wir haben sie ja auch mit viel Liebe zubereitet”, kontert Detlef leicht nasal zurück.
Eigentlich ist Detlef die Frau im Haus, aber an Festtagen wie diesem, bindet sich auch Peter eine Schürze um und es wird gemeinschaftlich gekocht und geschmurgelt. Drinnen ist inzwischen der Weihnachtsbaum beleuchtet, der den nahestehenden Esstisch in ein weiches Lichtermeer aus rosa und silber taucht. Grazil wie auf dem Laufsteg wird die Speise unmittelbar in das Wohnzimmer verfrachtet und sich mit einem Gläschen Rosé zugeprostet.
“Lass es dir schmecken, Schatz” klingt es einvernehmlich und außer ein paar gelegentlichen und gegenseitigen Augenaufschlägen, ein paar gehauchten Küsschen und vielen, lieben Gesten, wechseln beide kein Wort. Als auch die Nachspeise, eine vorzüglich cremige Zabaione, verputzt ist, räuspert sich Peter kurz und bittet Detlef für eine kleine Überraschung nach nebenan und öffnet die Tür zum Schlafgemach.

(achja) Tiefparterre:
Die Wohnungstür von Rico Schmitt steht einen Spalt offen. Ein paar Meter weiter sieht man den arbeitslosen Hartz IV Empfänger mit einem Schraubenzieher am Hauptsicherungskasten ein paar Kabel vertauschen. Nur kurze Zeit später dringt durch den Türspalt Licht und mit einem unrasierten Lächeln stapft er in die Wohnung zurück. Es riecht nach irgendetwas Undefinierbarem, nach 3 Tage alten Socken und billigem Fusel. Rico hat eine Lichterkette an der Jukka Palme, übrigens die einzige Pflanze in der ganzen Wohnung, befestigt. Auf RTL prollt laut das Weihnachtsprogramm aus dem Fernseher. Mit einem tiefen Teller dampfendem Essen, was in etwa aussieht wie eine Mischung aus Ravioli, Milchreis und Sauerkraut, sowie einem Sixpack Tuborg, setzt sich Rico auf die Couch mit den Brandlöchern, allerdings nicht ohne sich vorher noch das schwere Gemächt zurecht zu rücken und den vollen Aschenbecher beiseite zu schieben. Während des Essens, was in etwa an die Fütterung von freilebenden sibirischen Warzenschweinen erinnert, die man vorher 4 Monate ausgehungert hat, prostet er lautstark Lauke Frudowig auf der Mattscheibe zu. Unmittelbar nach der Werbepause geht auf einmal sämtlicher Strom in seiner Bude aus.
“Scheisse” flucht er lautstark und tastet zur Wohnungstür.

(immer noch) Tiefparterre:
Im Licht der Taschenlampe, wieder mit einem Schraubenzieher bewaffnet, entdeckt Rico Schmitt Erwin Kranz. Der ehemalige Elektroinstallateurmeister und sowas wie die gute, deutsche Grundlichkeit im Haus, schwankt im Lichtkegel. Bewaffnet mit 2 Flaschen Aquavit und einem Sturmgewehr, das eiserne Kreuz am Revers, das sich Erwin damals unter Rommel, dem Wüstenfuchs verdient hatte, knipst er das Licht im Treppenhaus der Tiefpaterre an und steht Rico gegenüber.
“Ich werd dir helfen, du Rabauke, hier Strom zu klauen. Geh arbeiten Junge!”, verkündet Erwin mit dem Sturmgewehr im Anschlag, der Rico bereits mehrfach ertappen konnte.
Rico, inzwischen mit ähnlichem Pegel wie Erwin gesegnet und geil auf die RTL Reportage “Sündiges Weihnachten auf Ibiza”, schubst Erwin fast beachtungslos beseite. Nicht nur die Sicherung für Ricos Wohnung in der Tiefparterre brennt kurz daraufhin durch, sondern auch die von Erwin, der sich inzwischen wieder vom Boden aufgerappelt hat.
“Sie sind beschulligt des Angriffs auf mich, 2 Flaschen Aquavit und den Hausstrom, Anneklagter. Kraft meines Amtes und für das deutsche Reich werde ich diesen Misstand sofort beseitigen”, lallt Erwin und drückt mehrfach ab.
Ricos Kopf spritzt wie eine reife Melone gegen den Sicherungskasten. Erwin, immer noch den Finger ab Abzug, salutiert mit einem lauten “Heil Erwin” und hätte besser darauf verzichtet noch eine symbolische Salve abzufeuern. Der letzte Schuss, der als Kohrkrepierer endet, lässt Erwin in einer Mischung aus Aquavit und Blut vor dem Sicherungskasten verenden. Fast unglaublich, dass niemand im Haus die Schüsse wahrgenommen hat denn unterdessen im

Erdgeschoss:
“Ich will kein Playmobil”, kreischt Ferdi und übertönt dabei alles, was ebenfalls keine Socken oder das Jahreslos vom Platz an der Sonne wollte.
Im wilden Getummel von besänftigen Worten, aufgebrachten Enkeln und Urenkeln sowie der noch immer lächelnden Mathilda, hat niemand Zeit sich Gedanken darum zu machen, warum Erwin noch nicht aus dem Keller zurückgekehrt ist. Mittlerweile, sind auch Katinka und Sybille in heftige Heulkrämpfe ausgebrochen, weil Ferdi, der Arme hat autistisch-masochistische Neigungen, sich an den Geschenken seiner kleinere Kusinen vergangen hat. Mittlerweile, da besänftigende Worte kaum noch helfen wollen und Ferdi und andere Kinder mit Geschenkpapier um sich werfen, hat auch die übermäßig große Nordmanntanne dank dem Papierbewurf Feuer gefangen und brennt in kürzester Zeit lichterloh. Mathilda lächelt und schweigt. Während die Flammen langsam auf die Nebenräume überschlagen, einige versuchen, den Brand mit Aquavit Resten zu löschen oder mit Kartoffelsalat zu erschlagen, hat sich nun auch Mathilda langsam erhoben und schiebt sich wie eine Fackel auf ihrem Gehwägelchen durch die Flammen. Derweil im

1. Stock:
Samt Hauptgang und einer Karaffe bestem Rotwein stürzt Jeanette Nico entgegen.
“Meine Schuhe!”
“Meine Couch!”
“Mein Anzug!”
“Mein Teppich!”
“Meine Nägel!”, klingt es hinter den verschlossenen Türen des 1. Stocks.
Nico beginnt derweil äußerst persönlich auf Jeanette einzuschreien.
“Wenn du blöde Kuh etwas sorgfältiger wärst, dann hättest du auch neulich nicht die G+V Rechnung für die Firma Hankel bei der Wirtschaftprüfung versaut. Du bist wirklich das Allerletzte.”
Jeanette, am Boden mit einem seltsam entstelltem Fußgelenk brüllt zurück
” …. und wenn du mir mal geholfen hättest und nicht so faul rumsitzen würdest, wäre das vielleicht alles nicht passiert und würdest auch vielleicht auf der Arbeit deine Aufgaben mal termingerecht schaffen.”
“Ich bin nur deshalb länger im Büro, weil ich möglichst wenig Zeit mit so einer unkompetenten Schlampe wie dir verbringen will und außerdem bekomme ich jede Mittagspause von meiner Sekretärin einen geblasen denn nicht mal das kannst du ja richtig, du dumme Kuh”, schreit Nico in Rage, wenngleich auch gelogen.
Jeanette, bisher von einem Heulkrampf gezeichnet, kriecht unter Schmerzen durch Porzellan, Feinkostdinner und Rotwein. Mit einer großen Scherbe der Rotweinkaraffe beginnt sie die Couch, die laut Ehevertrag zu Nico gehört, zu zerschlitzen. Selbst als Nico sie an den langen Haaren zurückzieht, bekommt er Jeanette nicht unter Kontrolle. Tief gekränkt, mit schmerzverzerrtem Gesicht und aufgestauter Wut wälzen sich Nico und Jeanette wie Furien in einer Lache aus Rotwein und Blumenwasser von der Vase, die auch unfreiwillig vom Couchtisch fiel. Irgendwann, als im Gerangel die elektrische Heizplatte vom Tisch fällt, macht ein effizienter Stromschlag dem jungen Unglück ein Ende. Währenddessen im

2. Stock:
Petra ist schon lange nicht mehr mit wirklicher Wahrnehmung gesegnet. Irgendwo im Dunkeln, unter fast maschinellen Bewegungen eines leuchtenden Etwas, taucht Petra in das wolllüstige Reich von jungen, muskulösen und äußerst potenten Liebhabern. Zu dem monotonen “Hohoho” hat sich inzwischen ein wesentlich lauteres “Ooh oh oh” gesellt, das von einem gleichermaßen lautstarken und ebenso abruptem “Aaaah” und unter Funkenflug beendet wird. Mit einer Mischung aus einem schmerzverzerrtem und bis über beide Ohren grinsendem Gesicht, sieht man Petra im Schein der Nachttischleuchte in eindeutiger Pose. Eine ihrer Hände ist noch immer fest in ihren Schritt gepresst. Die Lust und der Schmerz sind inzwischen einem klassischen Schock gewichen, der sie völlig aufnahmeunfähig in dieser Position verharren lässt. Übrigens darüber im

3. Stock:
Detlef erblickt auf dem gemeinsamen Bett einen mit rosa Herzen ausgelegten Heiratsantrag.
“Ja, Peter, und wie ich will”, haucht er benommen und glücklich an der Schwelle zum Schlafzimmer.
Alles, was daraufhin folgt bis die Feuerwehr vor Ort eintrifft und die Flammen bereits auf das ganze Haus übergegriffen haben, kann nur vermutet werden.

Vor dem Haus tummeln sich unterdessen sämtliche Bewohner der Kastanienallee, sowie diverse Einsatzwagen vom Rettungsdienst, der Feuerwehr und der Polizei. Und während im Rettungswagen die ersten Versuche unternommen werden, einen Mann aus dem dritten Stock von einem Gummiknüppel zu befreien, sowie eine unbekleidete Frau mit bizarrem Gesichtsausdruck zu vernehmen, zieht die Einsatzleitung erste Bilanz, die sich auf 3 Überlebende beschränkt. Erste Erkenntnisse wieviele Personen zur Zeit der Brandes im Haus waren, liegen derzeit noch nicht vor.

“Wenn ich mal groß bin, will ich auch Feuerwehrmann werden”, erzählt derweil ein kleiner Junge mit etwas angekokeltem Playmobil in der Hand, der noch die ganze Nacht mit der Feuerwehr das Haus zu löschen versucht.

Frohe Weihnachten, Kastanienallee 22.

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(c) Hassi
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