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Alt 07.12.2023, 20:38   #1
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.111


Standard Oma

Meine Großmutter war die gütigste Oma der Welt. Sie floss über vor Dankbarkeit, als ihre Schwiegertochter, meine Mutter, mich gebar – ein Mädchen, wie sie es sich innigst gewünscht hatte. "Endlich ist Schluss mit der Männerwirtschaft", atmete sie auf, die vier Jungen geboren hatte, von denen zwei in Kinderjahren verstorben waren. Sie war von einem Nichtsnutz geschieden, der das Geld durchgebracht hatte (sie nannte ihn "Gassenengel und Stubenteufel") und lebte dann viele Jahre mit einem Sattler zusammen, der an einem Gehirntumor verstarb. Kurz gesagt: Sie hatte von allem Männlichen, das für sie der Inbegriff des Unzuverlässigen war, die Nase gestrichen voll.

Nun war ich da, die Erfüllung ihres sehnlichsten Traums. Sie vergötterte und verwöhnte mich. Jeder ihrer Besuche begann mit dem Ritual, ihre Einkaufstasche abzustellen und die von mir erwarteten Worte zu sprechen: "Schau mal nach, was für dich drin ist." Ich sah den Gesichtern meiner Eltern an, dass sie missbilligten, die Hände in die Taschen anderer Leute zu stecken, auch wenn es Omas Tasche war. Ich schaute trotzdem nach, und meistens zog ich eine Tafel Schokolade oder eine Tüte Sahnebonbons heraus, im Sommer zuweilen einen Plastikbecher Speiseeis von Delaidotti, das die zehn Minuten Busfahrt von der Innenstadt, wo Oma wohnte, bis zu uns nach Hause einigermaßen halbfest überstanden hatte.

Wenn meine Eltern ihre Auszeit nahmen und mich für ein paar Tage bei Oma ablieferten, war ich wie von der Kette gelassen. Bei Oma durfte ich alles. Sie fragte nicht, woher ich kam und wohin ich ging. Ich durfte bis tief in die Nacht in die Glotze gucken, und wenn ich ins Kino gehen wollte, rückte sie die Kröten für das Eintrittsgeld heraus, obwohl sie mit jedem Pfennig rechnen musste, um monatlich über die Runden zu kommen. Das Beste jedoch war, dass sie mir ohne Donnerwetter die Mathearbeiten unterschrieb, unter denen traditionell die Noten fünf oder sechs standen. Oma war vom Leben bereits derart abgebrüht, dass sie dem Sinn von Mathematiknoten nichts mehr abgewinnen konnte.

Zum Mittagessen gab es Gulasch vom Rind und Makkaroni. Omas Gulasch war schwarz wie die Hölle, weil sie das Fleisch auf höchster Hitzestufe möglichst lange anbriet, so dass es schon davon wachsweich wurde. In die Soße kam reichlich Sahne, zusammen mit den Makkaroni ein teuflischer Genuss. Oma amüsierte sich köstlich darüber, wie ich die Nudelröhrchen einzeln von der Gabel in den Mund sog und die Soße, mit der sie gefüllt waren, über den Tisch spritzte. Zu Hause wäre ich dafür gescholten worden. "Mit dem Essen spielt man nicht!", lautete dort die Devise. Warum eigentlich nicht? So frage ich noch heute. Zu essen soll Spaß machen, und was ist unterhaltsamer als eine Erbse, die sich über den Teller jagen lässt und dem Aufspießen durch die Zinken einer Gabel entzieht?

Aber zurück zu Oma. Sie rettete mein junges Leben vor einem frühen Tod. Ich lag mit hohem Fieber im Krankenhaus, aber keiner der Ärzte konnte diagnostizieren, woher das Fieber kam. Irgendwann fiel ich ins Koma, und da beschloss mein Vater, mich nach Hause zu holen. Er sollte ein Papier unterschreiben, in dem geschrieben stand, dass er die volle Verantwortung für mich übernehmen wolle. Er unterschrieb und nahm mich mit. Dann vertraute er mich Oma an.

Stundenlang rieb sie mir dir Brust mit heißem Schmalz ein. Unermüdlich tat sie, was sie in dem oberbayerischen Dorf gelernt hatte, aus dem sie stammte. Wo es keinen Arzt gab, sondern jeder jedem helfen musste, und wo jeder sein Wissen jedem weitergab. Es dauerte, bis die Masern hervorbrachen und ich wieder zu Bewusstsein kam. Natürlich habe ich daran keinerlei Erinnerung, sondern weiß darüber von den Erzählungen meiner Mutter.

Oma spielte gern, am liebsten "Mensch ärgere dich nicht" oder Rommé. Meistens verlor sie. Nicht, weil sie dumm gewesen wäre - das war sie gewiss nicht, sondern belesen, beschlagen in Geschichte und auf der Höhe politischer Debatten. Verwundbar im Leben, aber hart genug, um zu überleben. Sie konnte rechnen und haushalten, denn sie wusste, wo die Decke hing, nach der sie sich zu strecken hatte. Wer sich mit ihr anlegte, verlor schnell sein Lachen, denn er bekam es mit einer Furie zu tun, die verbrannte Erde hinterließ. Legendär ist die Szene, in der sie ihren Vermieter, der ihr krumm kommen wollte, mit einem Wäschestampfer – so nannten wir damals den Knüppel, mit dem man die Wäsche im Kochkessel rührte -über den Hof jagte und dieser im Laden seines Vorderhauses Schutz suchte, indem er sich zu den erstaunten Verkäuferinnen hinter die Ladentheke gesellte. Aber wenn es ums Spielen ging, gehorchte Oma strikt den Regeln, ohne zu durchschauen, dass ich eine Strategie entwickelt hatte, mit der ich immer gewann. Während sie beim Rommé Karten abwarf, die ich zu meinem Nutzen aufnahm, behielt ich alle auf der Hand, bis ich sie kaum noch halten konnte, aber bis alle zusammenpassten und ich das volle Haus ablegen konnte.

Beim Spiel war Oma eine gute Verliererin, aber jenseits davon war mit ihr nicht gut Kirschenessen. Hatte jemand an ihrem Seelenkostüm gerissen, war er sich ihrer ewigen Feindschaft gewiss. Sie vergaß nicht und vergab nicht. Elefantinisch legte sie ihren Hass auf Eis und wartete auf den Tag, an dem sie ihn zu passender Gelegenheit auftauen konnte. Für die Betroffenen unerwartet und mit Wucht. Oma nannte es: "Zahltag. Auf Zinsen ist gespuckt."

Oma war weich wie Daunen und hart wie Stahl. Einerseits mütterlich, andererseits diktatorisch. Als geschiedene Frau musste sie arbeiten, um ihre beiden Jungs durchzubringen, die ihr mit allerhand Blödsinn zu schaffen machten und stets Gefahr liefen, ihr entrissen und in eine Jugendanstalt eingewiesen zu werden. Die in der Nachbarschaft eine Tür aushängten, sie zu Kleinholz hackten und zu Scheiten gebündelt auf dem Marktplatz verkauften. Oder die ihrer Mutter die eigenen Kartoffeln andrehten, wann immer sie zum Markt geschickt wurden, um Kartoffeln zu kaufen, ehe sie merkte, dass ihr Vorrat im Keller auffällig geschrumpft war.

Oma hatte ihren Schaff, wie man zu sagen pflegte, und da flogen zuweilen die Fetzen. Wenn sie den Schürhaken, mit dem sie die Ringe ihres Küchenherds manövrierte, zweckentfremdet über ihr Haupt erhob, war Alarmstufe rot angesagt: Alle Mann in Deckung! Auch konnte passieren, dass sie mit etwas um sich warf, das gerade in Griffnähe war, wie jener Camembert, der nicht mehr auffindbar war und erst Wochen später beim Großreinemachen verschrumpelt wieder zum Vorschein kam.

Als der ältere ihrer beiden Söhne – mein Vater – mit kaum siebzehn Jahren eingezogen und an die Front zu Russland beordert wurde, war Oma am Boden zerstört. Sie begann zu knausern, packte die Dauerwurst ein und sagte: "Die ist für den Karl, wenn er zurückkommt." Der kleine Bruder, Heinz, schaute zu. Karl überstand den Krieg und kam nach zweieinhalb Jahren Kriegsgefangenschaft heim. Mir war nie die Idee gekommen, Oma zu fragen, wie sie sich gefühlt hatte, als ihr Junge wieder vor ihr stand, unversehrt an Geist und Gliedern, oder was sie gefühlt hatte, als sein erster Brief aus der Gefangenschaft sie erreicht hatte und sie wusste: Der Bub ist in Sicherheit. Sie muss eine furchtbare Zeit durchlebt haben.

Als Oma starb, war sie erst siebzig. Nach einem harten Leben. Aber zu früh und unnötig. "Mir ist schlecht. Ich lege mich ein bisschen hin," hatte sie einer Nachbarin gesagt, nachdem sie vom Tanzabend mit ihrer Rentner-Gang nach Hause gekommen war. Heute wissen wir: Es war ein Herzinfarkt. Sie hätte sofort ins Krankenhaus gehört.

Aber sie legte sich auf die Couch und nahm ein Buch. Die Nachbarin sah am nächsten Morgen noch Licht in der Wohnung und alarmierte Heinz und Karl. Die Brüder fanden ihre Mutter auf der Couch, friedlich entschlafen, die Brille auf der Nase nach unten gerückt und das aufgeschlagene Buch auf dem Bauch. In der Küche hatte sie ihr Backwerk für das Wochenende aufgestellt, alle Zutaten für ihren traditionellen Weihnachtsstollen.

Sie starb, wie sie es gewünscht hatte: "Ich will irgendwann einschlafen und nicht mehr wach werden."

Ich brauchte zwei Jahre, bis meine Trauer sich löste und ich weinen konnte.
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
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Alt 10.02.2024, 00:48   #2
kofski
abgemeldet
 
Dabei seit: 01/2024
Beiträge: 378


Hallo.
Auf den ersten Blick eine Geschichte ohne Handlung, aber hier gibt es eine spannende Protagonistin und die Handlung ist das Leben derselben aus der Sicht der Enkelin und das Problem, nicht weinen zu können, weil der Tod der geliebten Person viel zu unfassbar ist für ein Kind.
Gelungene Charakterstudie, trotzdem hätte ich vielleicht einen kleinen Rahmen gebaut, zum Beispiel die Szene, in der das LI endlich weinen kann, an den Anfang gesetzt. Vielleicht eine unmögliche Situation - die Führerscheinprüfung - und das LI bricht in Tränen aus, dabei hat die Prüfung noch garnicht angefangen. Dann die Geschichte bis zu dem Punkt, an dem das LI feststellt, nicht weinen zu können. Möglicherweise auf der Beerdigung.
Aber gut, kann man machen, muss man nicht.
Mir gefällt der Text auch so wie er ist.
LG
kofski ist offline   Mit Zitat antworten
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