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Alt 23.06.2023, 17:12   #1
männlich Eziotar
 
Dabei seit: 11/2022
Beiträge: 36


Standard Auf den Straßen Odessas

An einem ungewöhnlich heißen Frühlingstag des Jahres 1905 verließ Iwan Sokolow gegen Nachmittag die Universität. Wie gewöhnlich lief er zu Fuß durch die friedlichen Straßen Odessas nach Hause. Immer wieder musste er den Hut abnehmen, um Bekannte zu grüßen. Wie sonst auch nach getaner Arbeit fühlte er sich höchst befriedigt. Er war Professor für Physik an der hiesigen Universität und bei seinen Studenten sehr beliebt. Seine eigentliche Leidenschaft galt aber der Politik. Obwohl er sehr begütert aufgewachsen war und der oberen Mittelschicht der Stadt angehörte, war er für seine progressiven, ja radikalen Ansichten bekannt. Mit bewegter Stimme und vor Enthusiasmus nervös zuckenden Augen versuchte er seinen Studenten die Diktatur der Proletariats und die ideale, klassenlose Gesellschaft schmackhaft zu machen. Mit einigem Erfolg, denn wer selbst für eine Sache brennt, entfacht unweigerlich auch in anderen ein Feuer.

Zuhause angekommen, öffnete er die mit aufwendigen Schnörkeln geschmückte Holztür seiner erst kürzlich im Jugendstil erbauten Villa, legte Hut und Mantel ab und begab sich ins elegant eingerichtete Wohnzimmer, wo er sich in einen geschmackvollen Sessel niederließ und sich mit Behagen eine Zigarre entzündete. Während er in Gedanken noch bei der Vorlesung waren, stürmte sein elfjähriger Sohn Petja ins Zimmer, um ihn zu begrüßen.
"Papa, darf ich nach den Hausarbeiten mit David an der Strand gehen?"
Iwan betrachtete ihn streng. Petja hatte für einen Jungen relativ lange, blonde Haare und war klein und zart gebaut. Sein Gesicht war ausgesprochen hübsch, wenn es vielleicht auch etwas zu zart, fast ein wenig kränklich aussah. Der Junge bereitete seinem Vater einige Sorgen. Er kam so gar nicht nach ihm. So bildete er sich durchaus etwas auf das hohe Ansehen und den Reichtum seiner Familie ein und legte großen Wert darauf, "vornehm" zu sein. Im Umgang mit dem "einfachen" Volke ließ er es zuweilen an dem nötigen Respekt fehlen. Oft war er frech und vorlaut, im vollen Bewusstsein der hohen sozialen Stellung seines Vaters. Dazu kam, dass er einigermaßen wählerisch im Aussuchen seiner Freundschaften war. Sein bester Freund David war der einzige Spross einer reichen jüdischen Kaufmannsfamilie. Beinahe jeden Nachmittag sah man die beiden in ihren Matrosenanzügen mit hoch erhobenem Kopf durch die Straßen Odessas stolzieren, hier und da einen lässigen Gruß austauschend.
"Willst du dich nicht zur Abwechslung mal mit jemand anderem als mit David treffen?", fragte der Vater ihn ungehalten. "Was ist denn aus Juri geworden?", fügte er hinzu.
Petja legte die Stirn in Falten. "Juri ist so furchtbar ungebildet und überhaupt nicht vornehm", sagte er mit einem schelmischen Grinsen, denn er wusste genau, dass er seinen Vater mit einer solchen Antwort wütend machte. Iwan entzündete sich eine neue Zigarre und erwiderte scharf. "Du hast gar keinen Grund, so eingebildet zu sein. Noch hast du in deinem Leben nichts geleistet, und dass du aus guter Familie kommst, ist nicht dein Verdienst. Wenn du in meinem Alter bist, wird sich niemand mehr um die Herkunft eines Mitmenschen kümmern, sondern allein sein Herz, seinen Intellekt und seine Tüchtigkeit in Betracht ziehen". Petja, der mit einem solchen Vortrag gerechnet hatte, rollte die Augen. "Ich habe verstanden", sagte er, nicht ohne Stolz und verließ das Zimmer.

Die Sonne stand schon tief am Himmel, als Petja und David am Stadtstrand saßen und von einem Händler gekaufte Erdbeeren aßen. Trotz der späten Stunde lag eine große Schwüle in der Luft. David war ein dunkler Typ, mit tiefschwarzen Haaren und beinahe eben so dunklen Augen. Sein Gesicht war südlich scharf und schön geschnitten. Er war ein gutes Jahr älter als Petja, besuchte aber diesselbe Klasse.
"David, glaubst du eigentlich an Gott?", fragte Petja und strich sich die Haare aus dem Gesicht. David machte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck und antwortete zögernd. "Ich weiß nicht so recht. Mama glaubt an Gott und an den Himmel und das alles, Papa sagt, das ist Unsinn"
Petja nickte zustimmend. "Mein Vater sagt, das sind alles Märchen, die die Pfaffen erfunden haben, damit das Volk nicht aufbegehrt und auf eine Belohnung im Himmel hofft. Er sagt, die Idee eines Gottes entwürdigt den Menschen"
"Ja, da ist was dran", sagte David wichtig, obwohl er nur wenig verstanden hatte.
Petja betrachtete ihn nachdenklich. Die Sonne fiel in Davids Gesicht, welcher die Augen aus Abwehr ein wenig zukniff. In diesem Moment fand Petja David so schön wie noch nie.
Ohne darüber nachzudenken oder sich selbst Rechenschaft über sein Handeln abzulegen, beugte er sich vor und versuchte, David auf den Mund zu küssen.
Dieser wich entsetzt zurück. "Du spinnst wohl!", rief er empört, mit hochrotem Gesicht. "Glaubst du, ich bin ein Mädchen?". Petja blieb stumm. Seine Augen füllten sich vor Scham mit schweren Tränen.
Jetzt lachte David grausam. "Nein, ich bin kein Mädchen, aber du bist eins. Du flennst wie ein Mädchen und willst Jungen küssen wie ein Mädchen".
"Kleines Mädchen, kleines Mädchen", sang er spöttisch. Da schlug Petjas Gefühl in Hass um. "Du bist doch nichts als ein dahergelaufener Jude. Ihr seid nur so reich, weil ihr anständige Leute betrügt. Ihr seid kein bisschen vornehm", rief Petja, während ihm eine Träne die Wage hinunterlief. Dies ließ David sich nicht gefallen. Er warf Petja eine Hand voll Sand ins Gesicht und rannte davon. Dieser blieb noch lange am Strand sitzen und weinte leise.


Es war Abend geworden, 20 Uhr war vorüber. Der Professor saß in seinem Lehnsessel und las ein kommunistisches Pamphlet. Petja saß ebenfalls still im Wohnzimmer und war in ein Buch vertieft, nämlich in "Tom Sawyer". Den Schmerz und die Scham von heute Nachmittag hatte er, robust wie seine Veranlagung war, beinahe wieder vergessen. Da läutete es an der Tür. "Petja", sagte Iwan schwerfällig. Dieser erhob sich und öffnete. Da erschrak er. Dort stand David, mit einem trotzigen Gesichtsaudruck in Begleitung seines respekteinflößenden Vaters, der eine ernste, würdige Miene machte. "Guten Abend, Pejta", sprach er leise. "Ich hätte gerne mal deinen Vater gesprochen".
Doch der Professor stand bereits in der Tür und schüttelte verbindlich Dr. Blumenkohls Hand. "Was gibt es denn, alter Freund?", fragte er ihn.
Dr. Blumenkohl räusperte sich und begann etwas verlegen zu sprechen. "Ich komme in einer unangenehmen Angelegenheit. Ich will hinzufügen, dass mein Sohn keinesfalls petzen wollte, wir mussten es regelrecht aus ihm herauspressen. Ich dachte mir aber, dass sie Bescheid wissen wollen, um berichtigend auf ihren Sohn einwirken zu können. Ich hätte von Ihnen dasselbe erwartet".
Iwan stöhnte leise und resigniert auf. "Was ist vorgefallen?", fragte er unglücklich.
Dr. Blumenkohl spielte nervös an seinem Schnurrbart herum. "Es ist also so", sagte er, "dass ihr Sohn Petja sich heute abfällig über die Herkunft seines Freundes geäußert hat, in Worten, die ich nicht gewillt bin, widerzugeben". Der Professor drehte sich wütend nach seinem Sohn um. "Rechtfertige dich!" stieß er zwischen den Zähnen hervor. Petja blieb stumm und blickte stur zu Boden. "Also gut. Da du keine Entschuldigung für dein Verhalten vorbringen kannst, kennst du deine Bestrafung". Die kannte Petja, und er war bereit die Prügel hinzunehmen. Das war ihm lieber, als sich zu entschuldigen. Dr. Blumenkohl verabschiedete sich unter Respektsbekundungen vom Professor. Als David, schon auf der Straße stehend, zurückblickte, konnte er noch sehen, wie Petja ihm frech grinsend die Zunge herausstreckte.

Die Freundschaft der beiden blieb trotz allem bis ins Erwachsenenalter bestehen und wurde erst beendet, als David Blumenkohl 1944 von den Nazis erschossen wurde.
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