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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 03.11.2015, 17:29   #1
männlich schwarzenonne
 
Dabei seit: 11/2015
Beiträge: 3

Standard Ein Traum von Freiheit

Auf meinem Tisch steht ein leerer Pizzakarton, eine Tasse Kaffe, einige Papiere, einige davon Abmahnungen. Meine Finger schmerzen, die Nägel bis auf die Haut abgekaut, der Kopf schmerzt. Heute nur knapp drei Stunden geschlafen, fast die ganze Nacht gearbeitet. Fünf Espressos getrunken. Es kribbelt in meinen Fingerspitzen und in meinen Füßen. Doch ich muss bis heute Nachmittag fertig werden, sonst steht mein Job auf der Kippe. Ich halte es nicht mehr aus, ich will mich befreien. Ich weiß nicht was ich tun soll, aber ich halte es einfach nicht mehr aus. Ich möchte aus der Stadt fliehen. Egal wohin Hauptsache raus aus der Stadt. Ich möchte endlich Freiheit erlangen. Ich möchte das System töten. Ich stehe auf, meine Wirbelsäule schmerzt vom ewigen Sitzen. Ich öffne meine Schublade. Die Schublade ist leer, nichts liegt in ihr außer meine Walther P38. Ich hole sie heraus, doch ich weiß nicht was ich hier überhaupt tue. Ich öffne meine Wohnungstüre mir ströhmt nun ein anderer Geruch entgegen: ein Gemisch aus Urin, Alkohol und Kohlsuppe. Aus der Nachbarwohnung dröhnen Schreie: Familienstreit. Ich laufe die Treppe runter, der Aufzug ist in Reparatur: seit 5 Jahren. Mir kommt meine Nachbarin entgegen, sie kommt mit ihrer kleinen Rente gerade so über die Runden. In ihren Händen die schweren Taschen. Ihr Gesicht ist gerprägt, ihre Lippen trocken, ihr Gesicht erzählt Geschichten, es bildet ganze Landschaft. Man hört ihren Atem: flach. Soll ich ihr helfen: Nein, heute nicht, ich muss das System töten. Die Tür der Nachbarwohnung wird plötzlich aufgerissen. Der Familienstreit ist eskaliert. Der Geruch nach Alkohol verstärkt sich nochmal. Die Ehefrau stürmt aus der Wohnung, den Vater hört im Hintergrund brüllen und die Kinder weinen, ich verstehe kein Wort. Sie hat unter ihrem Auge ein Veilchen. Sie schreit mich an : “Bitte helfen Sie mir!!!“. Nein heute nicht: Ich muss das System töten. Ich renne die Treppen herunter: An den Wänden Hakenkreuze geschmiert. Ich renne aus dem Haus. Nun steh ich auf der Straße. In der Luft liegt ein beißender Geruch: Benzin. Das Thermometer zeigt 36° Celsius, die Luft ist trocken und staubig: Smog. An der Ecke sitzt ein Obdachloser, neben ihm steht eine Bierflasche, seine Kleidung ist abgenutzt. In seinem Hut nur ein paar Cent-Münzen. Ich laufe die Straße herunter. Die Gesichter sind erleuchtet, sie werden von ihren Apparaten in der Hand angestrahlt. Das Massenüberwachungsgerät immer mit dabei. Sie ziehen durch die Straßen wie Zombies. Ihre Gesichter zeigen es: lauter geknickte Seelen. Manche tragen Mundschutz. Meine schwitzige Hand umklammert die Walther in meiner Tasche. Plötzlich werde ich zur Seite gerempelt, an mir fahren 13 Jährige auf ihren Longboards vorbei. Der Preis: mindestens 150 €. Doch der Trend wird nur ein paar Monate anhalten. Ich laufe über die Ampel, dann reiße ich die Tür des ersten Autos an der Ampel auf und ziehe die Walther aus meiner Tasche. Ich halte sie in die Richtung des Fahrers. Seine Augen sind weit aufgerissen. Man sieht ihm die Angst ins Gesicht geschrieben. Auf der Beifahrerseite sitzt seine Frau, auf der Rückbank seine Kinder. Ich brülle ihn an: „Aussteigen!!!“. Meine Hand zittert. Ich spüre meinen Puls pochen. Mein Hals ist trocken und schmerzt: Ich habe zu laut gebrüllt. Schweißtropfen rinnen meine Stirn hinunter. Plötzlich höre ich ein kurzes brummen. Er möchte losfahren. Dann höre ich einen lauten Knall. Einen Schrei. Meine Hand schnellt plötzlich zurück. Ich blicke auf mein weißes Hemd. Auf ihm sind plötzlich rote Flecken. Habe ich es gerade wirklich getan? Das Auto rollt noch zwei Meter weiter. Die Beifahrer Tür wird aufgerissen. Die Frau stürmt voller Panik aus dem Auto raus. Sie reißt die hinteren Türen auf und holt ihre Kinder raus. Ich laufe zum Auto. Ich höre den Mann noch atmen: er lebt. Ich ziehe ihn aus dem Auto und lege ihn auf die Straße. Ich setze mich in das Auto. Ich fahre ein Stück vor, dann bremse ich: quietschende Reifen. Das Fahrzeug steht leicht schräg. Ich schalte in den Rückwärtsgang und setze ein Stück zurück. Plötzlich hebt sich das Auto leicht an und ich höre es knachsen. Im Hintergrund höre ich wieder Schreie. Ich glaube ich bin soeben über den Mann gefahren. Dann gebe ich gas. Das Fahrzeug hängt fest. Ich gebe Vollgas, die Reifen drehen durch, dann überrolle ich ihn. Ich fahre los. Die Tachonadel steigt: 20, 30, 40, 50, 60. Ich rase über die Straße und biege auf eine Landstraße ab. Ich fahre ein Stück. Dann reiße ich das Lenkrad rum und fahre in den Acker. Ich reiß meine Kleidung vom Leib und werf mich in den Acker. Ich möchte alles tun. Ich möchte mich endlich frei fühlen. Alles tun können, sich nach niemanden richten müssen, das heißt Freiheit. Dann höre ich Sirenen. Ich stehe auf die Männer kommen auf mich zugerannt. Das ohrenbetäubende Geräusch formt sich zu einem noch schrilleren Klingeln. Es ist mein Wecker. Ich liege schweißgebadet in meinem Bett. Es war alles nur ein Traum. Ein Traum von Freiheit?
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Stichworte
burn-out, depression, freiheit

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