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Alt 30.09.2011, 19:46   #1
im9today
 
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Beiträge: 3


Standard samt

„Wie fühlt sich Samt an?“

Hier saß sie also, den kirschroten Samt zwischen den Fingern und sah mich unschuldig an. Mein Verständnis für ihre Fragen war schon längst verwirkt.
An fast jeden ihrer Sätze reihte sich ein Fragezeichen; sie wollte die Welt fühlen und erleben und schaffte sich dies mit Sprache.

„Normal.“

Sie schloss die Augen.

„Achso, verstehe.“

Nein, sie verstand nicht. Wie sollte sie auch? ‚Normal’ hatte sie nie kennengelernt.

„Wie ist es, im Gras zu rollen?“

Ich weinte.
Ich hasste sie dafür.

"Warum bist du denn so traurig?"
(Ein weiteres Fragezeichen, gegossen aus ihrer triefenden Unschuld.)

Ich ertrage es nicht mehr.
Weiße Augen, Kalte Hände und kein einziges Mal ihr Zimmer verlassen. Meine Schwester ist schon lange tot.

Schweigen. Stille. Einzigst gestört durch mein leises Schluchzen.

„Bitte, spielst du mir ein Lied auf deiner Geige vor?“
Ton war das einzige das sie noch hatte; sie konnte nicht riechen, nicht spüren, nicht fühlen – psychisch, sowie physisch ermattet, saß sie regungslos in ihrem Rollstuhl.

Pause.

„Was mach ich, wenn auch dein Gesicht gelähmt ist und du nicht mehr Fragen stellen kannst?“ Ich fragte sie dies leise, kaum hörbar.

Sie lächelte.

„Ach, was stellst du denn für fragen? Ich würde viel lieber wissen, wie sich Samt anfühlt.“
Ihr wirrer Blick verlor sich während sie sprach. Sie konnte mich nicht ansehen, ihr Augenlicht war bereits erloschen.

„Du wirst sterben, wenn nicht heute, dann morgen.“ Ich konnte ihre kindliche Naivität nicht ertragen, mit der sie ihre letzten Stunden verbrachte.

Schweigen.

Sie liebte das Geräusch, wenn jemand über Samt strich. Es legte sich wie eine zärtliche Hand auf ihre abgestorbene Haut und ließ sie fühlen.

Ich hatte ihre Zimmer vollkommen mit Samt ausgelegt. Die Wände, der Boden und auch ihre Kleidung.

Ich wollte, dass sie glücklich ist.

„Samt fühlt sich angenehm an, ein bisschen weich.“ Antwortete ich ihr. „Doch noch viel lieber mag ich das Geräusch, welches man macht, wenn man darüberstreicht.“ Ich streichelte sie vorsichtig. Auch wenn sie es nicht spüren konnte, so hörte sie diesen vertrauten Ton.

Samt.

In diesem Moment lächelte sie ein letztes Mal. Ein letztes Mal für heute. Ein letztes Mal für immer.

Gute Nacht, Bruder. Gute Nacht, Schwester.
im9today ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.10.2011, 14:09   #2
männlich Ex-Jack
abgemeldet
 
Dabei seit: 05/2011
Beiträge: 954


Hallo im9today,

ich hangel mich mal ein wenig durch Deine Kurzgeschichte:

Zitat:
„Wie fühlt sich Samt an?“

Hier saß sie also, den kirschroten Samt zwischen den Fingern
An späterer Stelle wird gesagt "wenn auch dein Gesicht gelähmt ist", dementsprechend ist also die Schwester gelähmt.
An dieser Stelle hört es sich aber so an, als würde der Samt mit den Fingern befühlt werden und verwirrt ein wenig.
Du könntest es lösen indem Du schriebst: "Hier saß sie also, mit dem kirschroten Samt, den ich ihr zwischen die Finger gelegt hatte..."
oder:
"Hier saß sie also, den kirschroten Samt locker zwischen den Fingern liegen..."
wenn Du es nicht ganz so offensichtlich haben möchtest.


Zitat:
und sah mich unschuldig an. Mein Verständnis für ihre Fragen war schon längst verwirkt.
Der Ausdruck "Verständnis verwirkt" holpert in meinen Ohren. Ich vermute Du wolltest einen besonderen Ausdruck finden "Verständnis erloschen" finden.
Dazu gebe ich Dir den Rat, wäge ab zwischen Verständlichkeit und besonderem Ausdruck. Wähle bei "normalen" Formulierungen lieber den üblichen Ausdruck. Deine Geschichte ist inhaltlich so kraftvoll, dass Du eher den Spannungsbogen störst, wenn Du die Aufmerksamkeit auf ungewohnte Abwandlungen lenkst.

Zitat:
An fast jeden ihrer Sätze reihte sich ein Fragezeichen; sie wollte die Welt fühlen und erleben und schaffte sich dies mit Sprache.

„Normal.“

Sie schloss die Augen.

„Achso, verstehe.“

Nein, sie verstand nicht. Wie sollte sie auch? ‚Normal’ hatte sie nie kennengelernt.

„Wie ist es, im Gras zu rollen?“

Ich weinte.
Ich hasste sie dafür.

"Warum bist du denn so traurig?"
(Ein weiteres Fragezeichen, gegossen aus ihrer triefenden Unschuld.)
Zitat:
gegossen aus ihrer triefenden Unschuld
ist zu viel und zieht, siehe oben, zu stark die Aufmerksamkeit auf sich.
Versuche eine einfachere Formulierung, die leichter fließt.


Zitat:
Ich ertrage es nicht mehr.
Weiße Augen, Kalte Hände und kein einziges Mal ihr Zimmer verlassen. Meine Schwester ist schon lange tot.
Bin etwas verwirrt... ein Zimmer oder mehrere Zimmer?
siehe: "Ich hatte ihre Zimmer vollkommen mit Samt ausgelegt. "


Zitat:
Schweigen. Stille. Einzigst gestört durch mein leises Schluchzen.
Einzig, einziger, am Einzigsten?

Zitat:
„Bitte, spielst du mir ein Lied auf deiner Geige vor?“
Ton war das einzige das sie noch hatte;
Nein:
Zitat:
sie wollte die Welt fühlen und erleben und schaffte sich dies mit Sprache.
Zitat:
sie konnte nicht riechen, nicht spüren, nicht fühlen – psychisch, sowie physisch ermattet, saß sie regungslos in ihrem Rollstuhl.
Zur psychischen Ermattung: Kannst Du das irgendwie differenzieren? Aus dem Grund, weil sie ja doch noch sehr, sehr neugierig auf ihre Umwelt ist und doch noch versucht am Leben teilzuhaben...ist das psychische Mattheit? Bin nicht sicher...


Zitat:
Pause.

„Was mach ich, wenn auch dein Gesicht gelähmt ist und du nicht mehr Fragen stellen kannst?“ Ich fragte sie dies leise, kaum hörbar.
Eine der schönsten und intensivsten Stellen Deiner Geschichte. Hier betonst Du die Abhängigkeit des Erzählers von den Fragen, für die er kein Verständnis mehr hat (Ist das wirklich so? Oder ist er eher genervt? Ist es vielleicht nicht eher die Hilflosigkeit seiner Schwester gegenüber, zu versuchen, ihr die Welt mit Worten nahe bringen zu wollen, die er nicht mehr fühlen möchte?)

Zitat:
Sie lächelte.

„Ach, was stellst du denn für fragen? Ich würde viel lieber wissen, wie sich Samt anfühlt.“
Fragen groß geschrieben, sind nämlich auch große Fragen...
Zudem hier eine Antwort mit ein wenig Humor (wenn auch tragischem): Klasse! Denn genauso läuft so etwas und zudem macht es den Druck beim Leser etwas erträglicher, bringt ihm aber dadurch das schmerzliche daran näher, denn ein solcher Humor ist immer auch sympathisch.
Der Humor spricht aber auch gegen die psychische Mattheit.

Zitat:
Ihr wirrer Blick verlor sich während sie sprach. Sie konnte mich nicht ansehen, ihr Augenlicht war bereits erloschen.

„Du wirst sterben, wenn nicht heute, dann morgen.“ Ich konnte ihre kindliche Naivität nicht ertragen, mit der sie ihre letzten Stunden verbrachte.

Schweigen.

Sie liebte das Geräusch, wenn jemand über Samt strich. Es legte sich wie eine zärtliche Hand auf ihre abgestorbene Haut und ließ sie fühlen.
Ich weiß, was Du mit dem letzten Satz sagen willst, finde es aber problematisch, die "abgestorbene Haut" fühlen zu lassen.
Ja, genau diesen Kontrast willst Du haben, aber was abgestorben ist, fühlt nicht, also erwecke die abgestorbene Haut mit dem Geräusch erst zum Leben und lasse sie dann fühlen...

Zitat:
Ich hatte ihre Zimmer vollkommen mit Samt ausgelegt. Die Wände, der Boden und auch ihre Kleidung.
"den Boden" oder bei mehreren Zimmern "die Böden".
Dass mit der Kleidung, finde ich eine tolle Idee, würde aber den Ausdruck verbessern und schreiben "und selbst ihre Kleidung mit Samt gefüttert" oder so ähnlich.

Zitat:
Ich wollte, dass sie glücklich ist.

„Samt fühlt sich angenehm an, ein bisschen weich.“ Antwortete ich ihr.
" , antwortete ich ihr."


Zitat:
„Doch noch viel lieber mag ich das Geräusch, welches man macht, wenn man darüberstreicht.“ Ich streichelte sie vorsichtig. Auch wenn sie es nicht spüren konnte, so hörte sie diesen vertrauten Ton.
Verwirrung:
Ist die Kleidung mit Samt ausgelegt oder wurde der Samt auf die Kleidung gelegt? Das Geräusch, dass "man" macht, wenn man gestreichelt wird oder das Samt macht, wenn man ihn streichelt? Wer/Was wird gestreichelt?

Zitat:
Samt.

In diesem Moment lächelte sie ein letztes Mal. Ein letztes Mal für heute. Ein letztes Mal für immer.

Gute Nacht, Bruder. Gute Nacht, Schwester.
Ein toller, runder und ergreifender Schluss!
Erst hier wird klar, dass ein Bruder diese Geschichte erzählt und dass, durch die Nacht, auf einer bestimmten Ebene das "Bruder sein" für den Bruder endet, weil er keine Schwester mehr hat. Er bleibt natürlich ewig Bruder, denn für ihn wird es seine Schwester ja immer geben. Aber die Andeutung gefällt mir.
Hier im Forum, war ich jetzt am Ende einigermaßen überrascht, dass es sich offenbar um einen männlichen Erzähler handelt, denn wenn zu Beginn das Geschlecht des Erzählers nicht deutlich gemacht wird, gebe ich der Erzählstimme automatisch das Geschlecht der Autorin/ des Autors.
Vielleicht lieber schon zu Beginn einarbeiten.

Liebe im9today,

die Beschäftigung mit Deiner Kurzgeschichte hat mir Spaß gemacht und auch wenn ich viele Anmerkungen gemacht habe, hätte ich mich nicht damit auseinandergesetzt, wenn ich die Geschichte nicht mögen würde.
Ich finde, Du hast durchaus erzählerisches Potential und ein gutes Gespür für dramatischen Aufbau.
Ich hoffe, Dir hilft das ein wenig weiter und Du fühlst Dich jetzt nicht "zerlegt".

Liebe Grüße,
Jack
Ex-Jack ist offline   Mit Zitat antworten
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