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Alt 20.08.2011, 19:31   #1
weiblich FeelLetter
 
Dabei seit: 08/2010
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Standard An dich

Lieber Engel,

ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass du dich an mich erinnerst. An dieses verwirrte Mädchen in der roten Skijacke mit dem schweren Rucksack. Mit dem roten Heftchen in der Hand. Noch Jahre nach unserer Begegnung bin ich mir nicht sicher, ob wir wirklich aufeinander getroffen sind. Krampfhaft versuche ich, mich an dein Gesicht zu erinnern.
Doch ich bin dir eine Antwort schuldig. Trotz meines etwas mitgenommenen Äußeren, trotz meiner schüchternen Haltung hast du dich an jenem Januartag neben mich gesetzt und mit mir geredet. Du hast mir Fragen gestellt und mich an meine eigene Geschichte erinnert. Die ich dir nicht erzählt habe. Damals. Doch ich bin dir eine Antwort schuldig. Das weiß ich jetzt.

Kurz, bevor zu kamst, stand ich einsam vor dem Bahnhofsgebäude. Meine Finger waren eiskalt. Die Kinder und Jugendlichen waren schnell in ihre Busse und Züge gestiegen und schon bald ins Wochenende verschwunden. Familien hatten ihre Koffer die Treppe hochgeschleppt und waren ins warme Gebäude geflüchtet. Autos hatten am Fuß der Treppe gehalten und Ankömmlinge abgeholt. Ich selbst hatte auf solch ein Auto gewartet. Doch es war nicht gekommen. Ich selbst hatte mich schließlich in das Gebäude verirrt. Die kleine Eingangshalle war leer und ich konnte mich auf die Sitzbank meiner Wahl fallen lassen. Vielleicht hast du meinen erstaunten Blick erhascht, als du dich zu mir setztest, zu mir auf die einzig besetzte Sitzbank. Vielleicht hast du bemerkt, wie ich nach einigen stummen Sekunden das Heft in meinen Rucksack gleiten ließ, weil ich nicht mehr denken konnte, keine Zeile mehr lesen konnte.

An diesem Tag stellte ich keine Gegenfragen. Als du mir nach und nach mit einem Lächeln belanglose Worte aus meinem Mund locktest, war ich nicht dazu bereit, selbst Antworten zu verlangen. Doch du warst und bist mir auch keine Antwort schuldig. Ich schon.

An jenem kalten Januartag wartete ich darauf, dass meine Schwester wieder nach Hause kommen würde. Mit dem Auto wäre ich ihr entgegengefahren, hätte sie in den Wagen gezerrt und sie nie wieder losgelassen. Ich hätte sie aus dem Gebäude mit den viel zu hohen Wänden geschoben und die Tür hinter uns zufallen lassen. Doch das Auto, das mich mitgenommen hätte, war nicht gekommen.

Bevor du neben mir Platz nahmst, war ich mir nicht sicher gewesen, diesen Tag zu überleben. Ich hätte das vergangene Jahr von mir gestrichen und einfach aufgegeben. Aufgegeben, daran zu glauben, meine Schwester je aus der Klinik herauszerren zu können. Vielleicht hätte ich den Glauben daran aufgegeben, dass meine Schwester überlebt.

Als ich gehen wollte, gabst du mir die Hand. „Nice to meet you“, lächeltest du mich an, als hättest du mich mit den wenigen Worten kennen gelernt. Verstanden. Obwohl ich das Entscheidende verschwiegen hatte. Ich spürte deine warme Hand und erwiderte deinen Gruß. Schon Minuten vorher war mir abhanden gekommen, wie unsicher ich mich in der englischen Sprache bewegte.

Nach all den Jahren, die seit jenem Januartag vergangen sind, bin ich dir eine Antwort schuldig und sie lautet: Ich warte auf meine Schwester. Dass sie wiederkommt. Und das tu ich immer noch. Ich warte und hoffe, dass sich wieder jemand neben mich setzt und mich daran erinnert. Und manchmal ist der Platz neben mir schon von dir besetzt.

Ich hab dich nicht vergessen und werde es auch nicht. Ich weiß nicht, wer du bist und ob dich meine Antwort erreicht.

Im Grunde meines Herzens jedoch glaube ich, dass du schon alles weißt, dass du dir die Antwort schon an jenem Januartag genommen hast. Von dem Moment an, als du dich entschieden hast, dich neben mich zu setzen.
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