Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Gedichte-Forum > Lebensalltag, Natur und Universum

Lebensalltag, Natur und Universum Gedichte über den Lebensalltag, Universum, Pflanzen, Tiere und Jahreszeiten.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 30.06.2011, 23:06   #1
weiblich Rosenblüte
abgemeldet
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 2.163

Standard Blick aus dem Fenster

Wenn ich aus dem Fenster seh,
fang ich an zu träumen,
über alten Bäumen
himmelwärts Gethsemane.

Tauben, Elstern, Schwalbenkind
fingen meine Katzen
mit den Raubtiertatzen,
flögen sie nicht fort geschwind.

Bald versperrt man mir die Sicht,
will ein Haus hinbauen
für die Reichen, Schlauen.
Solche Nachbarn will ich nicht.

Wenn die Sonne untergeht
hinter Blumenkästen,
blicke ich nach Westen,
wo es nicht viel besser steht.
Rosenblüte ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.07.2011, 07:13   #2
männlich Ex-Schamanski
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2010
Beiträge: 2.884

Hallo Rosenblüte, schön, wieder etwas von Dir zu lesen.

Die Stelle mit Gethsemane verstehe ich nicht. Dort verbrachte Jesus die Nacht vor seiner Verhaftung, mit Verrat des Judas und Verleugnung durch Petrus (Lk 22, 39-65). Wie hängt das mit dem Gedicht zusammen?
Ex-Schamanski ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.07.2011, 07:42   #3
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.111

Beim Lesen des Gedichts verspüre ich Abschied und Wehmut. Der Himmel und das Sehen spielen eine große Rolle, aber was erkannt wird, läßt nichts Gutes ahnen. Der Blick geht himmelwärts, wohin Jesus aufgefahren ist nach seinem Tod. Aber ist er das wirklich? Sein Opfer hat uns auf Erden kein Paradies beschert, noch immer töten Raubtiere unachtsame Vögel, und der Himmel leert sich.

Schlimmer noch: Die Sicht auf den Himmel und auf die Natur wird verbaut, und zwar von den Reichen und Schlauen ("Wessis"?). Also schaut man nach Westen. Weshalb? Kommen die Reichen und Schlauen von dort, oder überlegt man, nach Westen zu gehen? Aber dort ist es nicht besser, so die Erkenntnis. Seit der Wiedervereinigung gibt es keine Trennung von Ost und West mehr, alle nagen an denselben Problemen.

Aus historischer Sicht könnte man den Blick nach Westen auch mit der Zeit der römischen Besatzung Palästinas in Verbindung bringen, oder auch später mit den Kreuzzügen des Mittelalters.

Mit allem mag ich falsch liegen, aber ich meine dennoch, es mit einem politischen Gedicht zu tun zu haben, das viele Interpretationsmöglichkeiten zuläßt.

Jedenfalls ist es ein ungewöhnlicher Text.

LG
Ilka-M.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.07.2011, 08:13   #4
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Hallo, Rosenblüte,

ein Ausschauen das Umzingelung feststellt. Wie in Kafkas "Kleine Fabel". Gute Umsetzung. Gethsemane verstehe ich an der Stelle auch nicht.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.07.2011, 08:17   #5
männlich Ex-Schamanski
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2010
Beiträge: 2.884

Zu Gethsemane: da schwitzte jemand Wasser und Blut und wurde verraten und verkauft. Geht es in diese Richtung?

http://www.bibel-online.net/text/lut...12/lukas/22/#1
http://www.bibel-online.net/text/lut.../matthaeus/26/
Ex-Schamanski ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.07.2011, 08:19   #6
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Halli Hallo, Rosenblüte!

Sehr schön, wieder etwas von Dir zu lesen, auch wenn es überaus wehmütig ist und traurig stimmt.

Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.07.2011, 08:25   #7
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

oder es ist die Gefangennahme im Umfeld von Verrat und unbeteiligtem, kaltherzigem Wegpennen angesichts der Not eines Menschen.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.07.2011, 09:20   #8
weiblich Rosenblüte
abgemeldet
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 2.163

Hallo ihr Lieben,

erst mal vielen Dank für die lobenden Worte. Ich sehe schon, zum Gedicht sind einige Erklärungen nötig.

Ich wohne im mittlerweile hippen Viertel Prenzlauer Berg und bekomme die Gentrifizierung nun auch hautnah zu spüren. Vor meinen Augen prangt die legendäre Gethsemane-Kirche, in der sich die Oppositionellen des Neuen Forums trafen. Bald werde ich sie nicht mehr sehen können, denn der Blick wird mir durch zwei bunkerartige Wohnanlagen mit Eigentumswohnungen verbaut.

Wie die Kolonialherren besetzen westdeutsche Investoren jedes freie Fleckchen in meinem ohnehin nicht sehr grünen Kiez. Wie die römischen Legionen erobern Yuppies rücksichtslos den schönen Prenzlauer Berg. Die horrenden Mieten kann fast niemand aus der alten Einwohnerschaft mehr bezahlen. Man findet hier so gut wie keine Migranten mehr, und die paar alten Leute, die noch geblieben sind und die das alte Arbeiterviertel nach dem Krieg wieder aufgebaut haben, hausen oft in irgendwelchen Parterrewohnungen an stark befahrenen Hauptstraßen. Die alternative Künstlerszene, die den Prenzlauer Berg berühmt machte, ist nur noch rudimentär vorhanden. Ihre einstigen Treffpunkte mussten teuren Cocktailbars weichen.

Im Westen, wo die Sonne untergeht, liegt der Humboldthain, der zum Wedding gehört. Auch dort, wie überall in der Innenstadt, hat die "Aufwertung" bereits begonnen. Unter den Vertriebenen werden viele Migranten sein, die sich in den Plattenbauten am Stadtrand ansiedeln werden. Ähnlich wie in den Neubauvierteln von Paris könnten dort neue Problemquartiere entstehen.

Sicher, mit dem Leiden Jesu lässt sich das Leiden der Verdrängten nicht vergleichen. Zumal die Eroberer wissen, was sie tun. Aber schmerzlich ist es allemal mitzuerleben, wie die Berliner Mischung verloren geht.

Liebe Grüße
Rosenblüte
Rosenblüte ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.07.2011, 10:25   #9
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Jeder lernt sein eigenes Gethsemane kennen!
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.07.2011, 10:27   #10
männlich Ex-Schamanski
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2010
Beiträge: 2.884

Und keiner da, der die Händler aus dem Tempel treibt.
Ex-Schamanski ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.07.2011, 15:56   #11
weiblich Rosenblüte
abgemeldet
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 2.163

Das wird noch kommen, denke ich. Die Gentrifizierungsgegner vernetzen sich bereits überregional.

Bei den Politikern bin ich leider nicht weitergekommen. Das Baurecht gestattet den Händlern alle Freiheiten.
Rosenblüte ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.07.2011, 23:48   #12
weiblich poetra
 
Benutzerbild von poetra
 
Dabei seit: 02/2010
Ort: mittendrin
Alter: 45
Beiträge: 164

Dann ist der Text einfach doppelt traurig.
Traurig schön. ...und wieder was Neues gelernt...
Danke dir dafür

Gruß Poe
poetra ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.07.2011, 01:46   #13
weiblich Rosenblüte
abgemeldet
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 2.163

Ja, der Blick aus dem Fenster stimmt mich bereits traurig, weil die Bagger schon am Umgraben sind. Wenigstens kann mir der Blick nach Westen nicht genommen werden, wo über dem Wedding die Sonne untergeht.

Lieben Gruß
Rosenblüte
Rosenblüte ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Blick aus dem Fenster



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
am fenster scree Gefühlte Momente und Emotionen 3 10.08.2008 17:29
Blick aus dem Fenster tom.ecker Geschichten, Märchen und Legenden 2 01.11.2006 15:03
Blick aus dem Fenster HALLOman Gefühlte Momente und Emotionen 3 19.07.2006 15:00
Blick aus dem Fenster Inline Lebensalltag, Natur und Universum 1 12.07.2005 10:09


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.