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Alt 31.03.2008, 16:22   #1
lichtelbin
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 626


Standard Schafsmädchen

Es war dieser komische Laut, wenn Porzellan zerbricht, eine Mischung aus Knöchelknacken und Tonglöckchen, ein unguter Laut, vor allem, wenn er kläglich seufzend von einer zerschellenden Lieblingsschüssel stammte. Katherina stierte beleidigt den Scherbenhaufen an, während ihr Schaf, ein kleines, schwarzes, flauschiges Schaf dastand, mit der schönen Nase zuckte und den neu entstandenen, winzigen Schüsselchen beim Wippen und über den Boden Tanzen zusah. Dann ließ sich das Mädchen mit den wirren dunklen Haaren auf die Knie auf den Boden nieder und sammelte die Scherben ein, stumm betrachtet von dem schwarzen Lämmchen. „Die dritte Lieblingsschüssel diese Woche“, sagte sie und holte eine neue aus dem Karton unter der Spüle. Ihr war nicht ganz klar, warum sie ausgerechnet ihre hübschen Lieblingsschüsseln zerschlug. Es waren alles Frühstücksschüsseln mit einem Smiley auf dem Boden, so dass man angelächelt wurde, wenn man den Rest Milch von Müsli austrank. Kleine Selbstlügen waren es, vermutlich gingen sie darum so häufig kaputt. Katherina schlürfte in ihr Zimmer, das Schaf trottete hinter ihr her. Das Mädchen wunderte sich kaum, dass niemand von ihrer Familie auf dem Gang war. Sie wichen ihr aus, gaben ihr, was sie wollte, so als ob sie das glücklich machen würde, wo doch alle dachten, sie sei verrückt. Wegen des Schafes. Es hieß Emil und Katherina hatte es, so lange sie denken konnte. Anfangs war es ein angeblicher Phantasiefreund, inzwischen, da sie mittlerweile 15 Jahre alt geworden, war er der Grund, warum sie von Psychologe zu Psychologe geschickt worden war, keiner glaubte ihr das Schaf. Vom letzten Psychologen hatte sie sich „kurieren“ lassen, ihn so lange konsequent angelogen, bis er meinte, sie sei so weit wie möglich geheilt. Aber Emil blieb und Katherina war diesen kleinen schwarzen Schatten von Kindesbeinen an gewohnt. Sie hielt zu ihm, weil er ihr Schaf war, sie hätte nicht gewußt, wer sie ohne ihn war. In der Schule war ihr Schaf natürlich mehr als häufig Klassenthema, ein Mädchen mit einem fiktiven Haustier war eine Sensation, die man ausnutzen konnte. Katherina war ein Name, der in aller Munde lag, es war ja kein außergewöhnlicher Name, man sollte ja meinen, so ein Mädchen würde Traumfee oder Walburga heißen oder so etwas, man mußte ihr einen eigenen Namen geben. So kreativ, wie boshafte Schüler eben sind, nannte man sie einfach nur „Schafmädchen“. Auf den Fluren machte man ihr respektvoll Platz. Sie zu veralbern war ein Ulk, der sich durch die Generationen weitervererbte, in ihrer Jahrgangsstufe war es inzwischen schick geworden, Mitleid mit ihr zu haben, was sie mindestens genauso nervte. Aber nicht berührte, denn Emil mochte es nicht, wenn sie traurig war. Er hatte ihr begreiflich gemacht, dass sie etwas besonderes war und als es für sie daran ging, sich zu entscheiden, wer nun verrückt war, sie oder die anderen, hatte sie sich für die anderen entschieden. Sogar manche respektlosen Lehrer machten sich über sie lustig. An diesem speziellen Tag aber kam eine neue Schülerin in die Klasse. Katherina saß auf ihrem Platz, vorne links, isoliert an ihrer Bank, Emil döste zwischen ihren Füßen auf dem Boden, denn die Sonne schien auf seine schwarzen Kopflöckchen und wärmte seinen Schädel. Das neue Mädchen hieß Petra und trug im Unterricht eine Mütze, ohne dass sich ein Lehrer irgend etwas zu sagen traute. Sie hatte Vogelaugen und ein Lächeln, dass aussah, als ob sie es verschluckt hätte und jetzt Sodbrennen davon hatte. Der Lehrer sagte Petra, sie solle sich in die dritte Reihe setzen. Petra hingegen setzte sich neben unser Schafmädchen und zwinkerte ihr zu. Katherina blinzelte irritiert zurück, als plötzlich Emil aufsprang und zur Türe taumelte, Anlauf nahm und sein kleines, weiches Köpfchen gegen die Türe schlug. Vier, fünf mal, es gab einen hölzernen Klang. „Herein?“, fragte der Lehrer, doch Katherina vergaß sich selbst und sprang auf. „Emil!“, rief sie und blickte gleichzeitig wütend zu Petra hin, die äußerst selbstgefällig dreinblickte. „Emil, laß das, du tust dir weh!“, das Schaf machte ein paar Schritte zurück und wollte mit aller Gewalt noch einmal gegen die Türe rennen, da erwische Katherina noch ein paar Haare an seinem Rücken. Sie rissen aus und das kleine Schaf sprang herum, torkelte ein Stück nach links und übergab sich. „Setz dich endlich, Katherina!“, sagte der Lehrer wütend. Das Mädchen nahm das kleine, zitternde Wollbündel auf den Schoß und setzte sich in aller Eile wieder hin. Petra rümpfte die Nase und schlug die Beine übereinander. Als Katherina am Mittag nach Hause ging, folgte Petra ihr wortlos. Die Straße hinunter, über zwei Gartenzäune, denn der Weg durch die Vorgärten der Nachbarn gefiel dem Schafmädchen besser. Petra folgte ihr sogar durch die Terrassentüre ins Haus und in die Küche, wo sie die Mutter überraschten. Sie kochte gerade das Mittagessen. „Du bist schon zu Hause?“, fragte sie ihre Tochter. „Ist… äh, Emil auch da?“ Sie blickte entschuldigend zu Petra, die mit ihren dreckigen Stiefeln über die weißen Bodenfließen schabte. Katherina wußte, dass ihre Mutter damit testen wollte, ob Petra von Emil wußte. Deswegen setzte sie sich stumm an den Tisch und Petra folgte unaufgefordert. „Ich mache Spaghetti. Du bringst doch sonst nie Freunde mit. Wie heißt sie überhaupt?“ „Petra“, antwortete das Mützenmädchen, „aber ich bin nicht ihre Freundin. Ich kann sie nicht Mal besonders leiden.“ Die Mutter lachte und stellte den beiden Mädchen das Essen hin. Dann floh sie die Treppe hinauf in ihr Nähzimmer, denn diese Petra war ihr fast noch unheimlicher als ihre eigene Tochter. „Warum hast Du das gesagt?“, fragte Katherina. Es war das erste Mal, dass sie heute mit jemandem außer Emil sprach. Dieser knabberte unwillig und mit einem strafenden Blick nach oben an ihren Schnürsenkeln, blieb ihr aber zu Füßen. „Ich weiß nicht. Hast Du nach dem Essen Zeit, ich möchte Dir etwas zeigen?“ Katherina seufzte. Sie war sich nicht sicher, ob sich die Anderen, wenn sie nach der Schule zu den Anderen gingen auch einfach so einluden, geheimnisvoll taten und zu den Eltern so unmögliche Dinge sagten. Wenn dem so war, dann konnte sie einfach nicht verstehen, warum man noch Leute zu sich nach Hause kommen ließ. “Ja“, sagte sie und stopfte sich eine riesige Gabel Nudeln in den Mund. „Gut, dann komm“ Sofort sprang das andere Mädchen auf und lief direkt wieder durch die Terrassentür fort. Auch Katherina sprang auf, Emil schrie so herzzerreißend, dass Katherina ihn auf den Arm nahm und mit dem zappelnden Bündel hinter Petra herlief. Sie waren bald schon am Rande der Kleinstadt angelangt, wo es große Einfamilienhäuser und Bauernhöfe gab. Petra stieg über ein Gartentor zu einem Hof, in dem Hühner Körner vom Boden pickten und Katherina tat es ihr nach. Emil, der die ganze Zeit wie wild gestrampelt und geschrieen hatte, wurde urplötzlich ruhig und betrachtete mit kugelrunden Augen die Hühner. Katherina ließ ihn runter, woraufhin er auf der Stelle umkippte und mit glasigen Augen liegenblieb. „Lass’ das blöde Schaf, ich wundere mich, warum Du überhaupt noch eins hast. Das hast du auch gar nicht nötig“, sagte Petra abfällig. Katherina sah sie erstaunt an „Sieh ihn Dir an, er wird sterben, wir können ihn doch nicht da liegen lassen“ „Doch können wir, komm, es ist wichtig“ „Er ist mein Freund“ „Er stirbt schon nicht, jetzt komm, ich weiß, was ich tu“ Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube verließ Katherina tatsächlich ihren besten Freund und sie folgte Petra, obwohl sie nicht wußte, warum. Emil blickte ihr hinterher und zappelte ungeduldig mit den Hufen. Petra packte sie unsanft am Arm und zerrte sie weiter. „Du blamierst mich ja, jetzt guck nicht wie’n Schaf“ Sie gingen in eine Scheune und dort eine Leiter an der Wand hinauf. Petras dünne Finger schmerzten in Katherinas Oberarm, aber sie biß sich auf die Lippen. nachdem sie oben durch eine kleine Türe geschlüpft waren, standen sie in einem Taubenschlag. Es gab viele, verschiedene Tauben, die auf Nestern oder auf dem Boden saßen, durch die kleinen runden Tore flogen, die in der gegenüberliegenden Wand waren. Aber auch viele, häßliche kleine Täubchen, die, nicht flügge, ein schreckliches Geschrei anstimmten. „Was wollen wir hier?“, fragte Katherina irritiert. „Du siehst hier die Emils… der Anderen“ „Was?“ „Sie her, ein Schaf hat niemand lange, die meisten haben schon ihre Vögel. Die stinklangweiligen Schäfchen und Vögelchen sind da, wo sie hingehören. Auf dem Bauernhof. Sie werden geschlachtet, gebraten und gegessen. Emil ist ein… besonderes Schaf, noch dazu ein hartnäckiges und ich bezweifle, dass es besonders gut für Dich war, ihn immer dabeizuhaben. Aber Du solltest Dich mit dem Gedanken an einen Vogel anfreunden…“ Plötzlich quetschte sich ein graubrauner Vogel, eindeutig keine Taube, durch eins der Tore. Noch bevor Kahterina einen spitzen Schrei ausstoßen konnte, war der Raubvogel bereits auf einem der Nester gelandet, er schlug kurz mit den Flügeln und ein langgezogener, ängstlicher Schrei hallte in dem Taubenschlag, so dass das Gurren der Tauben kurz abriß. Dann fuhren sie aber gleich fort damit, als sei nichts geschehen. Der Raubvogel zerrte genüßlich an einem roten Strang, den er aus der jungen Taube gerissen hatte und schlang ihn hinab. Im Gegensatz zu Katherina war Petra mehr als gelassen. „Von schwarzen Schaf zum Sperber. Eins muß man Emil lassen, er ist äußerst… stilvoll“ Das andere Mädchen schnappte nach Luft. „Emil?“ „Klar… irgendwann mußtest Du ihn ja freilassen“ Der Sperber richtete sich auf und schlug zufrieden mit den Flügeln auf seine gestreifte Brust. „Was hast Du gemacht?!“, schrie Katherina und wollte schon auf Petra losgehen. „Ich hab gar nichts gemacht. Das war Emil… und er hatte recht.“ Katherina beobachtete angewidert, wie der Vogel, der wohl Emil war und sein mußte, ihr Emil, die halb aufgefressene Taube hüpfend anbrachte, vor ihre Füße legte. „Muß wohl so sein“, flüsterte sie dann, bückte sich und riss ein kleines Stück blutiges Fleisch aus der Taube. Trotz des Kloßes im Hals steckte sie es sich in den Mund und schluckte es herunter. Sie unterdrückte ein Würgen und lächelte statt dessen. Das Sodbrennenlächeln. Vermutlich sollte sie den anderen nicht erzählen, dass sie jetzt einen Vogel hatte.

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glückwunsch an den, der sich durchquält hat (und ja, es ist nicht lustig, ich weiß)

engelsgruß, lichtelbin
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