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Alt 27.12.2023, 11:54   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Am Ufer der Mallüre

Vor dem Ufer der Mallüre, deren Wasser ohne Eile ihr schmales Bett entlang des Städtchens Lürhausen floss, hielt sich seit Monaten eine Gruppe Schwäne auf. Die meisten waren ältere, kapitale Schwäne, die mit gesegelten Flügeln majestätisch hin- und herschwammen, doch es gab auch einige Jungvögel, die sich bescheiden in den Rhythmus der Gruppe einordneten.

Cecil, einem dieser Jungspunde, war dieses Leben eintönig und langweilig geworden. Er hasste es, wie seine Kameraden auf die Spaziergänger zu lauern, um die alten, hartgewordenen Brotstücke von ihnen zugeworfen zu bekommen, die ihnen für sich selber nicht mehr gut genug waren. Mit der Zeit begann er, die älteren Schwäne dafür zu verachten, dass sie sich für das bisschen Bewunderung ihrer makellos weißen Federtracht für diese Almosen hergaben. Sobald vom Ufer aus Worte wie: "Schaut mal, wie prachtvoll!", oder: "Sind sie nicht schön, diese stolzen Vögel?", ertönten und jeder der Schwäne die Hälse nach den Brotbrocken streckte, um sie schneller schnappen zu können als ein anderer, wendete sich Cecil ab und streckte seinen Steiß demonstrativ dem Ufer zu.

"Ich will nicht sein wie die anderen", dachte er bei sich und überlegte, wie er das anstellen könnte. Die Leute waren entzückt über die weißen Federkleider, die offensichtlich etwas Hochherrschaftliches für sie repräsentierten. Also suchte sich Cecil eine der dreckigsten Pfützen aus, die er nach einem Regentag an Land finden konnte, und wälzte sich darin, bis seine Federn entfettet waren und der Schmutz an ihnen kleben blieb. Dann fettete er sie wieder gründlich ein und watschelte mit Genugtuung zu seiner Gruppe zurück.

Die alten Schwäne sahen ihn missbilligend an. "Was soll das, Cecil? Warum läufst du so dreckig herum? Du blamierst uns vor all den guten Leuten, die sich an uns erfreuen möchten."

"Dafür bin ich mir zu schade", müpfte Cecil auf. "Ihr könnt das ja mit euch machen lassen. Ich nicht. Jetzt bin ich kein weißer Schwan mehr, sondern ein schwarzer Schwan."

"Na ja", meinte Jonas, der älteste und erfahrenste Schwan, "eher ist es etwas zwischen grau und braun. Aber darüber will ich nicht streiten. Nur sage mir, was daran Besonderes ist, ein schwarzer Schwan zu sein."

"Es gibt nur weiße Schwäne, und deshalb bin ich jetzt etwas Besonderes."

"Ach so." Jonas hob die Brust aus dem Wasser, fächerte kurz seine Flügel auf, faltete sie wieder zusammen und sank zurück auf die Wellen. So machte er es immer, wenn er ein paar Sekunden brauchte, um seine nächsten Argumente zu überlegen. "Aber das stimmt nicht ganz, mein Sohn."

Cecil sah ihn aus großen Augen an. "Es ist nämlich so", fuhr Jonas fort, "dass es schon immer schwarze Schwäne gegeben hat. Nur eben nicht hier. Aber es gibt sie. Und die Leute wissen das."

"Dann bin ich nichts Besonderes?" Die Frage klang verzagt, und als Jonas mit dem Kopf wippte, was soviel wie ein Ja war, wandte sich Cecil beschämt ab. Marina kam herbeigerudert und zupfte Jonas am Hals, ein Zeichen ihres Protests. "War das nicht etwas zu hart für so ein Jungchen? Du nimmst ihm alle Illusionen, die so ein Küken braucht, um sich zu entwickeln." Jonas schüttelte den Kopf. "Nein, Marina. Er muss kapieren, dass es sinnlos ist, das Rad neu zu erfinden." Marina war entgeistert. "Was redest du für unverständliches Zeug? Wo hast du diesen Spruch her?" "Aufgeschnappt", erwiderte Jonas und schwamm davon, denn am Ufer hatten sich wieder Leute versammelt und ihre Brottüten geöffnet. "Er wird sich putzen, bis er wieder weiß ist, und wenn seine Zeit gekommen ist, wird er herausfinden, was seine wahre Berufung ist," rief ihr Jonas über seinen Rücken zu, bevor das erste Brotstück vor ihm aufklatschte und er es gierig aufnahm. In seinem Alter ging es nur noch um das Überleben des Rests.

"Schau mal, Mami, der eine Schwan!" Der Dreikäsehoch am Ufer deutete mit dem Zeigefinger auf Jonas. "Was ist mit dem?", fragte seine Mutter. "Der hat gegrinst, Mami", und der Junge klatschte vor Begeisterung in die Hände. "Unsinn", erwiderte die Mutter, "Schwäne können nicht grinsen. Ihr Schnabel ist so hart und unbeweglich wie das Horn eines Büffels." Der Junge ließ die Hände sinken. "Aber ich habe es gesehen. Ganz deutlich. Der hat gegrinst." Die Mutter wurde ungeduldig. "Hör auf mit dem Unsinn, mit dir geht nur wieder …"

"Liebes, lass es gut sein. Kinder haben ein Recht auf ihre Phantasie. Sie stehen noch mitten in der Welt, die wir verloren haben." Der Vater nahm das Kind an die Hand. "Heute ist Silvester. Wenn die Ballerei losgeht, hat unser Hosenmatz den Schwan ohnehin vergessen."

Doch als die Raketen hochzischten und ihre bunten Muster in den Himmel malten, war da plötzlich ein Gebilde aus weißen Sternen, das aussah wie ein Schwan. Der Dreikäsehoch schaute auf diesen Sternenregen und sagte mit standfester Stimme: "Und er hat doch gegrinst."
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Alt 27.12.2023, 16:47   #2
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Standard Hallo Ilka

... das ist ja mal ein cooler Schwenk, von den sprechenden Schwänen zum Kind, dass auf die Realität seiner Wahrnehmung besteht.

Übrigens bin ich mir nicht sicher, wie lange normale Schwäne für ihr Einfetten brauchen bzw. ob sie sich selbst entfetten können.

beaux rêves
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.12.2023, 17:25   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
Übrigens bin ich mir nicht sicher, wie lange normale Schwäne für ihr Einfetten brauchen bzw. ob sie sich selbst entfetten können.
Ich auch nicht, dunkler Traum . Einfach mal selber ausprobieren.
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