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Alt 26.07.2012, 23:34   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Standard Radieschen und Gurken

Carsten und Julia hatten seit einiger Zeit eine offene Beziehung. Sie sagten einander, es sei wichtig, neue Möglichkeiten zu entdecken, sich zu entfalten. Doch manchmal dachten sie, sie täten es, um Schlimmeres zu verhindern. Und manchmal überkam sie der Gedanke, dass Schlimmeres vielleicht besser für beide sei. Jedoch getraute sich keiner, diesen Gedanken vor dem Anderen auszusprechen, aus Angst, dieses "Vielleicht" könne zu einer untrüglichen Gewissheit mutieren, mit der man sehr viel unbequemer lebt als in der Trägheit eines nicht zu hinterfragenden Beziehungserhalts.

Vielleicht war es auch so, dass der frische Wind, den diese offene Beziehungsgestaltung mit sich brachte für einige Ablenkung sorgte, so dass diese Zweifel leicht übergangen werden konnten. Schnell fanden sie großen Gefallen an der Ablenkung, die der Sex außerhalb einer Beziehung ihnen bot. Sie hatten Spaß - viel Spaß - und vor allem hatten sie zum ersten Mal seit langem wieder das Gefühl, ihre Beziehung sei mehr als nur ein routinierter Tagesablauf zweier Menschen, die sich aneinander gewöhnt haben. Zum ersten Mal überhaupt hatten sie gemeinsame Freunde. Vom ersten Treffen an wurden Pete und Melanie ihre besten Sex-Freunde. Das lag zum einen an den außergewöhnlichen und sinnlichen erotischen Erfahrungen, die sie mit ihnen machten, zum anderen daran, dass sie einige gemeinsame Interessen und Gesprächsthemen hatten. Des Öfteren verabredeten sich die Pärchen zu einem Film- oder Pizzaabend. An einem Freitagabend trafen sich die vier in der Sauna.

Als sie nackt aber nichts verlangend nebeneinander auf der heißen Bank saßen, kamen ein junger Mann und eine ebenso junge Frau durch die Tür, schauten sich kurz nach einem freien Platz um und schließlich in Richtung der vier, die ihrerseits sehr interessiert auf die schönen Körpern der beiden blickten, in einem einladenden Ausdruck, der dem Pärchen (denn als solches wurde es selbstverständlich betrachtet) die Entscheidung beinahe abnahm. Sie setzte sich direkt neben Julia und er daneben ganz an den Rand der Bank. So verbrachten sie einige Minuten in stiller Eintracht, bis sie einander schließlich zur Bar einluden. Die zwei stellten sich dort als Michael und Lena vor und gaben schnell ihre Neugier zu erkennen: "Ganz normal seid ihr nicht, oder?", fragte Lena sehr direkt, aber auch ein wenig schüchtern.

Sie war eine attraktive, fast bis zur Perfektion gepflegte, junge Frau, deren großes Tattoo quer über den Rücken und die freizügige Attitüde, mit der sie fremden Männern begegnete für Viele - sehr Viele - weniger mit ihrem Lehramtsstudium (Französisch und evangelische Theologie) als mit ihrer Nebentätigkeit in Einklang zu bringen war. Sie war eine Escort-Dame, wie sie den anderen mit den einleitenden Worten erläuterte: "Ist nicht so schlimm. Ich bin ja auch nicht ganz normal. Was ist denn schon normal?", nachdem diese einander noch immer suchend ansahen.

Als Escort-Dame verbrachte sie viele Stunden mit den unterschiedlichsten, aber stets ausgesprochen wohlhabenden Männern. Einige wollten in erster Linie mit ihr schlafen, andere legten zudem Wert auf eine gehobene Konversation und manche wollten einfach nur in den Arm genommen werden und das Gefühl des Verstanden-Seins erleben. Je ausgiebiger und differenzierter ihr Erfahrungsreichtum im Umgang mit Männern wurde, und dieser war, wie man sich denken kann sehr beachtlich, desto mehr gelangte sie zu der Gewissheit, dass alle Männer im Grunde gleich seien - einsame, unverstandene und der Artikulation kaum fähige Neurotiker, die so sehr drauf bedacht waren, ihre Fassade des starken, mächtigen Alpha-Männchens aufrecht zu erhalten, dass sie an der kleinsten Unsicherheit zerbrechen würden. Gut, einige Männer verstanden sich wohl auf das Reden (sie lernte viele hochrangige Politiker, Manager und angesehene Professoren kennen), aber keiner, so fand sie, vermochte sich wirklich auszudrücken, vermutlich aus Angst, er könne auf eine solche Unsicherheit stoßen, die ihm den Boden unter seinen starken Beinen wegziehen könnte. Sie fand, dass ihre Arbeit nicht wenig mit der einer Psychotherapeutin gemein hatte, denn nur sie sah die Männer, wie sie wirklich sind und sie bildete sich ein, dem ein oder anderen über seine Midlife-Crisis hinweg geholfen zu haben. Vielleicht, so dachte sie, habe sie ja sogar schon den ein oder anderen Selbstmord verhindert.

"Und du hast keine Probleme damit?", fragte Melanie Michael, der kurz zögerte und dann ein wenig verlegen meinte:
"Wir sind nicht zusammen."
"Aber wir wohnen seit zwei Jahren zusammen und schlafen miteinander", ergänzte Lena frech. Ein wenig irritiert wollte Carsten wissen:
"Aber wenn ihr zusammen wohnt, miteinander schlaft und auch sonst miteinander umspringt wie ein altes Ehepaar - Verzeihung, wenn ich euch zu nahe trete, aber ich denke, wir sind alle ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass ihr ein Paar seid - woran scheitert es denn, wenn ich fragen darf?"
"Wisst ihr, wir haben es versucht, aber ich bin ein Mensch, der seine sexuellen Freiheiten braucht", erklärte Lena
"Und ich bin für so etwas nicht wirklich gemacht. Damit kann ich einfach nicht umgehen", fügte Michael hinzu, dem das ganze Gespräch wohl ein wenig unangenehm war.
"Aber du kannst doch auch wild durch die Gegend vögeln, wie du es mir zum Vorwurf machst."
"Wir sind ja auch nicht zusammen."

Durch Carstens Kopf rauschten tausende Gedanken. Er brauchte immer eine feste Ordnung, selbst in der offenen Art und Weise, wie er seine Beziehung zu Julia gestaltete. So sehr er sich auch Mühe gab, er konnte es kaum nachvollziehen, dass zwei Menschen, die einander so nahe sind und dieses fast schon ehetypische Streitgespräch führen, sich nicht imstande fühlen, eine Beziehung miteinander einzugehen. Es erschien ihm, als können die beiden nur glücklich werden, wenn sie so tun, als hätten sie keine Beziehung. Vorsichtig versuchte er diese Erkenntnis im Zusammenhang mit seinem Leben zu betrachten: Und was, wenn er und Julia sich nur vor einem drohenden jeweils individuellen Unglück beschützen wollten, indem sie so taten, als hätten sie eine Beziehung, die doch in Wirklichkeit schon längst dahingesiecht sei? Der Gedanke erschrak ihn so sehr, dass er die Aufmerksamkeit wieder auf Lena und Michael lenkte, die einander weiter neckten:

"Aber ihr seid schon sicher, dass ihr nicht zusammen seid?", scherzte er, seine Überlegungen zusammenfassend. Lena lachte und wechselte das Thema:
"Jetzt mal zu euch (und zurück zu meiner Frage): Ihr seid auch nicht ganz normal, oder? Ich meine, man merkt doch, dass zwischen euch mehr ist als nur Freundschaft."

Die vier Freunde erklärten ihr das eigentümliche Wesen ihrer Beziehung und wie sie einander kennenlernten, worauf Lena sagte:

"Das hört sich toll an! Siehst du, Michi, so etwas habe ich mir vorgestellt. Und wieso macht ihr das so?"
"In dieser Freiheit haben wir einfach noch vielmehr zueinander gefunden", antwortete Julia.

Sie bemerkte aber ihre Zweifel an der eigenen Antwort. Denn von Anfang an hatte sie das Gefühl, dass sie es mehr wollte als ihr Freund, der doch immer so viel Wert auf Vernunft und feste Regeln legte. Gewiss, auch in der offenen Beziehung galten feste Regeln. Wenn sie es recht bedachte, vielleicht sogar noch stärker, denn gerade in dieser sensiblen Situation mit einem solch unsicheren Charakter an ihrer Seite war die strenge und genaue Einhaltung der Grenzen umso wichtiger. Man musste sich vielmehr miteinander abstimmen. War das wirklich die Freiheit, die sie suchte? Vielleicht suchte sie ja auch keine Freiheit, sondern Geborgenheit, die Carsten ihr wohlmöglich gar nicht geben konnte. Zu ihrer Erleichterung schlug Pete die Hand auf den Tisch: "So, genug gelabert! Lasst uns ins Schmuddelbecken gehen!"

Im Whirlpool, auch liebevoll "Schmuddelbecken" genannt, fanden sich die jungen Menschen nebeneinander ein. Carsten setzte sich zielbewusst neben Lena und Julia suchte direkt Michaels Nähe den beiden gegenüber. Durch die sprudelnde Wasseroberfläche konnten die anderen Saunagäste nicht sehen, was sich unter dem Wasser abspielte. Carsten fuhr mit seiner Hand sanft Lenas Oberschenkel hinauf bis zum "Point of no return", die seine Bewegung dankbar annahm und in gleichem Geiste erwiderte. Die fremden Menschen, die sich ebenfalls in dem warmen Becken befanden konnten erkennen, wie Lenas Oberkörper schließlich heftig in dem wilden Rhythmus der Wasserwirbel zitterte. Im Augenwinkel sah Carsten, dass sich zwischen seiner Freundin und Michael Ähnliches abgespielt haben musste. Nach einer Weile verließen Melanie und Pete genervt das Becken. Sie hatten sich von dem Abend mehr erhofft und, auch wenn sie es niemals zugegeben hätten - sie waren eifersüchtig auf ihre Freunde und sprachen seither kaum mehr ein Wort mit ihnen, suchten bei drohenden Verabredungen immer eine Ausrede, um ihnen aus dem Weg zu gehen.

Carsten und Julia hatten dafür kaum Verständnis. Schließlich hat man ja seine Freunde nicht ausschließlich für sich alleine. Aber viel entscheidender für ihr Leben als das langsame Entschlafen dieser Freundschaft waren den beiden andere Ereignisse, die nach besagtem Tag eintrafen: Julia traf sich mit Lena und Michael und natürlich wusste Carsten davon und er wusste auch wieso, wenngleich er ein wenig eifersüchtig war, nicht dabei sein zu können. Überhaupt sah er darin den großen Vorzug einer offenen Beziehung, dass man vielmer teilhat am Leben des Anderen, viel weniger dazu geneigt ist, Dinge zu verbergen. Aber sollte das wirklich ein erfülltes Leben sein, die Verbote so sehr zu dezimieren, dass es einem schwer fällt, zu sündigen? All seine Gedanken zu diesem Thema erübrigten sich ohnehin, als Julia sich immer öfter und regelmäßiger mit Michael traf und ihre wahren Gefühle für ihn entdeckte, die weit über eine tiefe sexuelle Sehnsucht hinausgingen, während Lena sich immer mehr aus der in Entstehung begriffenen neuen Beziehung ausgegrenzt fühlte und das Weite suchte. Darin gab sie sich, die, wie sie später beteuerte, Michael sehr liebte, als gute Verliererin.

Weniger gut konnte Carsten seine Niederlage einstecken, der, allen Seins-Zusammenhängen entrissen, dem Alkoholismus verfiel. Er konnte nie überwinden, dass die Freiheit, die er Julia zugestanden hatte, um sie glücklich zu machen, ihr die Möglichkeit gab, sich aus einer Beziehung zu befreien, die sie ohne äußeren Anlass nie hätte verlassen können. Aber auch diese schwermütige Geschichte hat Gewinner: Michael und Julia sind nun seit acht Jahren glücklich verheiratet, haben also das verflixte siebte Jahr hinter sich gebracht, leben mit ihren zwei Kindern in einem gemütlichen Haus, das sie in fünf Jahren abbezahlt haben werden in einer Zweitausend-Seelen-Gemeinde und pflanzen im Garten Radieschen und Gurken.
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Alt 26.07.2012, 23:45   #2
männlich Ex-Peace
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Beiträge: 3.449


Lieber Schmuddi,

deine Geschichte gefällt mir sehr gut.
Die Titelauswahl mit Blick auf den Schlusssatz ist genial!
"Schmuddelbecken" ist ja fast wie der Hitchcock-Auftritt in seinen Filmen!
Es geht um Moral und Moralvorstellungen.
Besonders interessant finde ich den Blick in die Zukunft.
Dieses "Was wurde eigentlich aus ..."
Ein wirklich guter Text - sozialkritsch und philosophisch.

Gerne gelesen!

Liebe Grüße
Peace
Ex-Peace ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.07.2012, 23:53   #3
männlich Schmuddelkind
 
Benutzerbild von Schmuddelkind
 
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Alter: 38
Beiträge: 4.798


Dankeschön, du Lieber!

Zitat:
"Schmuddelbecken" ist ja fast wie der Hitchcock-Auftritt in seinen Filmen!

So ähnlich war meine Absicht.

Zitat:
Es geht um Moral und Moralvorstellungen.
Ja, das glaube ich auch, auch wenn ich nicht weiß, ob und welche Moral hinter meinem Text steckt. Ich wollte mich einfach mal mit moralischen und sozialen Problemen und Tragiken in den verwirrenden modernen Beziehungsgefügen beschäftigen, ohne zu sehr zu moralisieren.

Es sollten auch Fragen angerissen, aber nicht abschließend beantwortet werden, wie:
Was ist Liebe?
Was hat Sex damit zu tun?
Was haben Gefühle damit zu tun?
Was ist Freiheit?
Wie kann man sie in einer Beziehung verwirklichen?
etc.

Freue mich sehr für deine reiche und aufmerksame Betrachtung.

Zitat:
Die Titelauswahl mit Blick auf den Schlusssatz ist genial!
Hihi, wollte damit auch eine erotische Komponente in diese trockene Geschichte bringen.

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
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polyamorie, selbsterkenntnis

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