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Alt 12.07.2019, 16:26   #1
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Standard Britta im Dornröschenland

Wie jeden Abend, wenn Britta zu Bett gebracht wurde, blieb ihre Mutter auf dem Bettrand sitzen und sang mit ihr noch ein Lied. Brittas Favoriten waren „Die Vogelhochzeit“ und „Ein Männchen steht im Walde“.

Doch heute war Britta nicht ganz bei der Sache. Sie sah ihre Mutter aus großen Augen an, bis diese fragte: „Was hast du, mein Schatz?“

„Mama,“ sprudelte es aus Britta heraus, „im Kindergarten hat uns die Anne aus einem Buch das Märchen vom Dornröschen vorgelesen. Ich will auch so ein Buch haben.“

„Aber du kannst noch nicht lesen. Erst musst du zur Schule gehen, damit du es lernst.“

„Aber du kannst mir die Geschichten doch vorlesen. Wie die Anne.“

„Du weißt, dass ich dazu keine Zeit habe. Ist es nicht schön, vor dem Schlafen einfach ein Lied zu singen?“

„Ja, schon. Aber die Geschichten sind auch schön. Gestern hat die Anne vom Schneewittchen vorgelesen und …“

„In Ordnung, Schatz, ich denke darüber nach. Und jetzt schlaf gut.“

Zufrieden schmiegte sich Britta in ihr Kopfkissen und fühlte den Gutenachtkuss ihrer Mutter auf der Stirn. Sie zog sich und Mister Teddy, der neben ihr seinen Stammplatz hatte, die Bettdecke bis zum Hals, und während sie sich vorstellte, dass an ihrem nächsten Geburtstag ein dickes Märchenbuch auf ihrem Gabentisch liegen würde, schlief sie ein.

Mitten in der Nacht wurde sie wach. Im Zimmer war es taghell, obwohl niemand das Licht eingeschaltet hatte. Sie blinzelte irritert, aber die Tür zu ihrem Zimmer war geschlossen, und von ihrer Mutter war nichts zu sehen. Statt ihrer trat eine junge Frau an Brittas Bett und strich ihr über die Wange. Die Frau trug ein rosa Kleid und auf dem Haupt eine Krone aus roten Rosen. „Hab keine Furcht,“ sprach sie sanft, „ich bin gekommen, weil ich deine innersten Wünsche gehört habe.“

Britta setzte sich auf. „Wer bist du?“

Die Rosengekrönte antwortete nicht, sondern zog ihr die Bettdecke weg und erfasste ihre Hand. „Komm mit. Ich werde dich in das Land führen, das in einhundert Jahren mein Reich sein wird.“

Britta leistete keinen Widerstand, denn sie hatte keine Furcht, sondern war von Neugierde erfasst. Wer war diese junge Frau? Und wohin sollte ihr Britta folgen? Was war das für ein Land, in das sie entführt werden sollte?

Sie klemmte sich Mister Teddy unter den Arm, schlüpfte in ihre Pantöffelchen, und wandelte wie in Trance neben der Fremden her.

Auf leisen Sohlen, um Brittas Eltern nicht zu wecken, gingen sie durch das Haus und erreichten unentdeckt die Eingangstür. Doch als sie hinaustraten, war vom Vorgarten und der Straße, die Britta vertraut gewesen waren, nichts zu sehen.

Sie befand sich in einem Burghof, in dem sich nichts regte, nicht einmal ein kleiner Vogel oder eine Fliege. Die Menschen standen da wie eingefroren, die Pferde schienen im Stehen zu schlafen, und ein Hund, der eine Katze jagen wollte, hielt als Jäger genauso versteinert inne wie seine Beute.

„Ich bin im Dornröschenland!“, quiekte Britta und klatschte vor Begeisterung in die Hände. Sie sah sich um und musste lachen, weil den Menschen, die mitten in einer Tätigkeit angehalten worden waren, die komischsten Mienen im Gesicht standen.

Als sie sich sattgesehen hatte, äußerte sie die Frage, die ihr am heftigsten auf der Seele brannte: „Wo ist denn das Spinnrad?“

Die Rosengekrönte zeigte auf einen Turm. „Da oben, in der Kemenate. Mitsamt der blutigen Spindel.“

„Die will ich sehen. Wie kommt man dort hinauf?“

„Über eine Wendeltreppe. Folge mir!“

Die Rosengekrönte öffnete eine niedrige Holztür und stieg, Britta hinter sich herziehend, ausgetretene Steinstufen empor. Oben öffnete sich ihnen ein karg eingerichter Raum, an dessen Fensteröffnung ein Spinnrad und ein Schemel standen. „Hier ist es passiert,“ sagte die Rosengekrönte und zeigte auf die blutbefleckte Spindel, die noch am Spinnrad steckte.

„Und wo ist Dornröschen jetzt?“, fragte Britta. Die Rosengekrönte ging zur Fensteröffnung. „Schau hinaus. Siehst du die Rosenhecke dort unten? Dahinter schläft Dornröschen, bis ein Prinz kommt, der es wachküsst.“

„Aber der kommt erst in hundert Jahren, und dann ist Dornröschen eine alte Frau.“

Die Rosengekrönte lächelte weise. „Nein. Dornröschen altert nicht. Wenn der Prinz kommt, wird Dornröschen so strahlend jung sein, wie es war, als es sich an der Spindel stach und in seinen hundertjährigen Schlaf fiel.“

„Daran war die böse Fee schuld. Zeigst du sie mir?“

Das Gesicht der Rosengekrönten verdüsterte sich. „Wieso willst du ihr begegnen? Sie bringt nur Unheil. Außerdem kommt und geht sie, wie sie will. Niemand will mit ihr zu tun haben. Wir müssen mit ihr leben, weil es sie einfach gibt, aber wir müssen sie nicht mögen und sie schon gar nicht herbeisehnen.“

„Ich hätte ja nur gerne gewusst, wie sie aussieht.“

„Das erfährst du noch früh genug.“

„Was machen wir jetzt?“

„Wir warten, bis der Prinz kommt, durch die Hecke geht und Dornröschen wachküsst.“

„Das dauert hundert Jahre. Können wir die Hecke nicht einfach jetzt schon in Stücke hauen?“

„Damit wäre nichts gewonnen. Wir können die Prinzessin nicht wachküssen. Das muss der Prinz machen.“

„Aber ich will zu ihr und ihr Gesicht sehen.“

„Sie ist wunderschön. Ihr Haar ist schwarz wie Ebenholz, ihre Haut so weiß wie Schnee, und ihre Lippen sind so rot wie Blut.“

Britta verzog das Gesicht. „So ein Quatsch! Das ist Schneewittchen. Du hast ja keine Ahnung!“

Sie rannte die Steinstufen des Turms hinunter und in Richtung Rosenhecke. Doch beim Versuch, durch das Dickicht zu kommen, holte sie sich Dutzende blutender Schrammen.

Die Rosengekrönte hatte sie eingeholt und fasste sie am Arm. „Das hat keinen Zweck, hier kommst du niemals durch. Die Hecke muss sich von selbst öffnen, aber das tut sie erst, wenn der rechte Prinz kommt.“

„Wieso?“

„Weil es immer so ist. Das wirst du, wenn du älter geworden bist, erfahren.“ Sie nahm Britta an die Hand. „Du hast genug gesehen. Es ist Zeit, dass ich dich nach Hause zurückbringe.“

Doch Britta entzog sich ihrem Griff und trat vor Ungeduld von einem Bein auf das andere. „Aber ich will hierbleiben und den Prinzen sehen. Ich will sehen, wie sich die Hecke öffnet und er das Dornröschen küsst.“

„Du musst lernen zu warten.“

„Wie lernt man zu warten?“

„Zum Beispiel, indem man sich niederlegt und schläft. Ich bringe dich jetzt zurück zu deinem Bett. Eines Tages wirst du all das sehen, wonach du dich heute sehnst. Du wirst sogar noch mehr erfahren, nämlich dass man selbst anpacken muss, um seine Wünsche zu verwirklichen. Ohne ein Spinnrad zu drehen oder in einen Brunnen zu springen werden keine Wünsche wahr.“

Britta gab auf und ließ sich willig führen. An der Seite der Rosengekrönten ging sie über den Burghof, vorbei an den schlafenden Menschen und Pferden, vorbei an der eingeforenen Hund-und-Katz-Jagd und begleitet von einer seltsamen Stille, bis sie am Haus ihrer Eltern anlangten.

„Ich verlasse dich jetzt. Du kennst den Rest des Weges. Ich muss schnellstens zurück, denn mir wird schläfrig.“

„Kommst du wieder?“

Die Rosengekrönte schüttelte ihren Kopf. „Nein. Das wird mir die böse Fee nicht noch einmal erlauben.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und war im nächsten Augenblick wie in einem Nebel verschwunden.

Britta trat ins Haus und stieg die Treppen zum oberen Stockwerk hinauf. Durch die Tür des elterlichen Schlafzimmers drang das vertraute Schnarchen ihres Vaters.

Unentdeckt erreichte sie ihr Zimmer und bettete erst Mister Teddy auf dem Kopfkissen, bevor sie ihre Pantöffelchen von den Füßen schnickte, unter die Bettdecke schlüpfte, und den Rest der Nacht in einen tiefen, traumlosen Schlaf tauchte.

Als sie am nächsten Morgen geweckt wurde und sich den Schlaf aus den Augen rieb, fiel ihr Blick auf eine rote Rosenblüte, die ihre Mutter in den Fingern hielt. „Wie kommt sie in dein Zimmer? Gestern, als ich dich zu Bett brachte, war sie noch nicht da. Und sie ist ganz frisch.“

Die ist Dornröschen aus der Krone gefallen, als es mich letzte Nacht besucht hat, wäre es Britta beinahe entfahren, aber im letzten Moment verkniff sie sich die Antwort. Verwundert schüttelte ihre Mutter den Kopf und legte die Blüte auf Brittas Nachttisch.

Dort lag sie noch, als Britta viele Monate später Geburtstag hatte und ihr Märchenbuch aus dem Geschenkpapier packte. Und sie war noch genauso frisch wie an dem Morgen, an dem ihre Mutter sie vor ihrem Bett gefunden hatte.
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