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Alt 16.01.2007, 15:14   #1
Traumwächterin
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 112


Standard Das Muschelkind

Das Muschelkind
*



Es war einmal vor langer Zeit ein Muschelkind namens Ilera. Es lebte an einem Strand, der von einer Bucht aus Ruhe und Meeresglanz umrahmt wurde, in ihrem lieb gewonnenen Muschelzuhause mit ihren Muscheleltern. Ihre Züge und ihr Leben hatten sich um ein strahlend wärmendes Lächeln gebildet, in dem andere sich nur zu gerne sonnen mochten.
Doch wohl jedes Weltenelement war der Veränderung unterworfen. Für Ilera waren es insgesamt zwei Fluten, die alles Alt bekannte überschwemmten, begruben und schließlich mit sich in salzige Vergessensweiten zogen.
Die erste Flut kam an dem Morgen ihres zehnten Geburtstages. Sie wachte auf unter prasselndem Toben, einem ertränkten Schrei und der Erkenntnis, dass die Wassermassen ihr Muschelzuhause vereinnahmt hatten. Ilera erinnerte sich noch genau an die Schwärze, die Besitz von ihren Gedanken genommen hatte. Zuerst war sie kalt und erpressend, bald aber beruhigend und warm. Darin erhaschte sie ein traumleerer Schlaf.
Nach langer Zeit, die ebenso eine Unendlichkeit gewesen sein könnte, wachte sie wieder auf. Ein fremder Wind wehte ihr entgegen. Der Sand war von ungewohnt grober Kälte. Das Meer, das am Strand leckte, wirkte wie waberndes Metall.
Das war nicht ihr zu Hause, nicht ihr Strand, nicht ihre Heimat. Und ihre Muscheleltern und Muschelmitmenschen waren aus ihrem Leben gespült worden.
Was sollte sie jetzt machen? Sie war vermutlich sehr weit von dem bekannten, heimatlichen Strand entfernt und die Wellen verschleierten auch noch jeden Weg, der sie dorthin geführt hätte. Nein, sie konnte nicht zurück; aber wohin dann?
Kurz entschlossen machte sie sich mit einem Ziel im Kopf auf: Ich werde mir ein neues Muschelzuhause suchen. So zogen ihre Schritte über den unnachgiebigen Sand und die Jahre an ihr vorbei. Der fremde Wind, der sie immer weniger auf Vertrautes oder etwas, das vertraut werden könnte, hoffen ließ, verwischte ihr sonniges Lächeln. Bald lag es hinter ihr zusammen mit einem verwirrten Weg.
Eines Tages aber überraschte sie die zweite Flut. Sie hoffte in stiller Verzweiflung sie würde sie mitnehmen - wie die erste. Aber das tat sie nicht.
Enttäuscht sah Ilera zu, wie die Flut zurück ins Meer kroch. Seufzend hockte sie sich in den Sand, der ihr mit kaltem Widerstand begegnete. Einen langen Moment, glaubte sie, musste sie wohl aufgehört haben zu leben.
Aber da sprang ihr ein leises Perlmuttleuchten in die Augen. Eine Muschel, die so groß war wie ihr kleiner Finger lag um Leben ringend und keuchend neben ihr. Ihre Schale war von einem Riss durchbrochen.
Da hob das Muschelkind sie auf und pflegte sie, damit sie wieder gesund würde. Zuerst reparierte sie die Schale mit selbst angemischtem Algenkleber (ein Geheimrezept, das ihre Muscheleltern ihr gezeigt hatten). Dann gab sie ihr zu essen, damit sie sich stärken konnte und ließ sie jeden Tag ein wenig länger im Meer baden. Nachts schlief die kleine Patientin in der Kleidtasche des Muschelkinds.
Langsam kam sie zu Kräften und wurde munterer. Ilera erfuhr, dass sie Eni hieß und ihr Muschelriff von Menschen zerstört worden war. Sie hatte sich gerade so noch retten können, als die Flut sie ergriffen und davon gespült hatte. Da sagte Ilera: „Bald kannst du wieder gehen und nach deinem zu Hause suchen, vielleicht ist davon ja noch etwas übrig. Oder du findest deine Eltern.“
„Nein, mein zu Hause gibt es nicht mehr ...“, erklärte Eni traurig. „Aber ich habe doch schon ein neues zu Hause gefunden - bei dir.“
„Wie meinst du das? Ich bin dein zu Hause?“ Ilera schaute verdutzt; das kam ihr doch etwas komisch vor. „Klar“, meinte Eni wie selbstverständlich. „Oder nicht?“
Mit einem Mal strahlte in Ileras Gesicht wieder das Lächeln, das von Sonnenschein begleitet zu werden schien. Ja, sie hatte Eni ein Heim bei sich gegeben - und fühlte sich plötzlich selbst wie zu Hause.
Traumwächterin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.01.2007, 18:06   #2
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Ein nettes kleines Märchen. Finde ich gut. Die Sprache ist passend und sehr schön. Die Aussage ist zwar nicht neu, aber schön umgesetzt.

Altbekanntes

mit sich in salzige Vergessensweiten zogen.
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.01.2007, 13:45   #3
Traumwächterin
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 112


vielen dank für deinen kommentar und schön, dass dir die geschichte gefällt :-)
das mit dem salzig hab ich schon geändert ...


hmmm, die aussage ist nicht neu? ist irgendwie auch schwierig, glaub ich ... was mich interessieren würde - was an der aussage findest du denn altbekannt?

lg traumi
Traumwächterin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.01.2007, 15:59   #4
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Ja, es ist schwierig und bei Märchen auch gar nicht nötig, eine völlig neue Aussage zu beschreiben. Das war nun nicht so als Kritik gemeint.
Dieses Ende, dass man sich auch Zuhause fühlen kann, wenn man füreinander da ist, ist jedenfalls nicht neu und wird in allen möglichen Variationen beschrieben (falls Du Beispiele willst: Das Buch "Zusammen ist man weniger allein").
Deine Geschichte selbst ist es aber - von Muschelmädchen habe ich noch nie etwas gehört.
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
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