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Alt 11.01.2007, 04:59   #1
spaceman
 
Dabei seit: 12/2006
Beiträge: 2


Standard Der Zauberlehrling

Eines Tages rief der große Magus Ayvaschim, was soviel heisst wie "Die Gestalt des Windes", den besten seiner Lehrlinge in sein Zelt und sprach:

"Yin! Komm' näher und sitz' an meiner Seite, hier an dieser Feuerstelle. Heute sollst du ein letztes Mal meinen Worten lauschen, denn nachdem die Sonne dieses Tages ihren Weg vollendet hat, wirst du mich niemals wiedersehen. Wir werden tot füreinander sein, denn in der Welt von Morgen ist nicht genug Platz für uns zwei.

Dein Auge ist frohen Mutes, auch wenn ich darin eine Frage vorbeihuschen sah, die Frage "Schickt mich nun der Meister fort? Was tat ich, dass ich ihm missfalle?" Und doch, der Mut in deinem Blicke sagt, dass keine Antwort dich erschüttern, nichts das Ziel verändern kann, auf dass sich deine strahlenden Augen richten. So wisse denn, dass ich dich nicht verstosse, sondern entlasse in die Welt, da von allen Dingen die ich weiß nur noch eines bleibt, dass ich dich lehren kann.

Ich weihte dich ein in die Philosophie, die Sternenkunde und die Alchemie; in den Ritualen der Vorfahren kennst du dich bestens aus. Du hast deinen Geist bezwungen und schliesslich auch den Körper, und bist auf dem Weg des Wissens weiter vorangeschritten als alle anderen meiner Schüler. Du hast mit offenen Augen die Welten deiner Träume durchschritten und bist auf den Grund deiner Seele getaucht. Dort fandest du in der tiefsten Dunkelheit einen Edelstein, der nun das strahlendste Licht deines Herzens ist.

Du bist mir ähnlich, als ich jung war, darum sage ich dir, was ich weiß und gewiss wird keiner der anderen dies je aus meinem Munde erfahren. Alles hast du gelernt, was ich dir zu bieten habe, darum, als letzte deiner Lektionen, lösch' dieses Wissen jetzt aus. Es ist bedeutungslos."


Mit diesen Worten nahm der alte Zauberer eine Schale mit Wasser und goss sie mit einer leichten Handbewegung über der kleinen Feuerstelle aus, die sich in der Mitte des Zeltes befand. Nur von zwei kleinen Öllampen beleuchtet, waren der Meister und sein Schüler nun in eine düstere, aber friedliche Atmosphäre gehüllt.

"Gewiss...", fuhr der Alte fort, "du warst nicht mehr als ein Bauer als ich dich in meine Dienste nahm und nun bist du ein wahrer Mann, ein Zauberer. Die Welt biegt sich auf deinen Willen hin und die unglaublichsten Dinge sind deine leichtesten Übungen. Aber wisse und verstehe, dass auch dieser Weg, der dich bis jetzt noch hin zur Freiheit führte, in Wahrheit nur ein einziger ist: es ist mein Weg.

Ich wählte dich, mich zu begleiten - ich teilte mich mit dir und mich dir mit - doch ist es an der Zeit für Yin diesen Pfad zu verlassen und seinen eigenen zu beginnen.

Vergiss deine Freunde, sie sind meine Sklaven! Sie leben für das Wort aus meinem Mund und wenn sie sterben, halten sie es noch in den verblassenden Gedanken. Du aber geh' und finde, erfinde deine eigene Sprache. Jeder weitere Schritt neben mir wird auch für dich die Sklaverei bedeuten.

Sitze nicht in überfüllten Wirtshäusern und sprich nicht zu den einfachen Leuten, auf dass du sie mit deiner Kunst und deinem Wissen erfreuest. Verwese nicht in staubigen Bibliotheken und zähl' nicht auf, was du gelesen, als Zeugnis dass du in der Wahrheit wohlbewandert bist. Überlasse diese Narretei all den anderen Schülern; Zauberer wollten sie werden und Zauberer werde ich aus ihnen machen. Kunststücke werde ich sie lehren und wie sie diese Welt überwinden. Du aber bist wie ich, und deshalb musst du frei sein, du musst dich auch noch selbst überwinden.

Sei frei, wie die Gestalt des Windes, denn sie ist da und ist doch nicht da, der Wind hat einen Leib und doch niemals den gleichen. Niemand greift den Wind und doch: Der Wind greift dich und schleudert dich wohin er will. Du warst ein Zauberer und bist die Wege der Zauberei gegangen - mit Erfolg. Nun werde ein Gott und schaff' selbst den Weg, auf dem du gehst.

Du zögerst? Ja, ich sehe es in deinem Körper, der sich fragend noch in meine Richtung krümmt. Dir fehlt ein kleines Stück. Du hast dich beinah' selbst erkannt, aber musst du noch die anderen verstehen, auf dass du in ihrem Spiegelbild deine wahre Natur begreifen lernst, den Punkt, in dem du dich von ihnen unterscheidest.

Das Wesen, mein lieber Yin, dass wir Mensch nennen, ist immer gleich und alle Menschen leben in derselben Welt, einer Welt der Verwirrung, des schieren Chaos. Die Menschen ähneln sich in ihrer eigentlichen Form bis aufs Haar. Sie alle lachen und weinen, glauben und zweifeln, lieben und hassen. Das übersehen sie und richten ihre Aufmerksamkeit auf die kleinen Unterschiede, und weil sie sich in keiner Sache jemals völlig einigen können, fangen sie an zu denken, dass sie voneinander grundverschieden seien. Ihren Geschmack verwechseln sie mit ihrer Seele, ihre Phantasie oder Belesenheit mit ihrer Intelligenz. Sie sind unfähig sich selbst und die Welt zu verstehen, weil sie über einander und im Bezug auf das Leben die unterschiedlichsten Ansichten vertreten. "Wer hat Recht?" ist ihre Frage und insgeheim hoffen sie, dass die Wahl auf sie fallen wird. Diese Narren... Sie begreifen nicht, dass sie in ihren endlosen Diskussionen nur ihre Ideen gegeneinander aufwiegen, und keine dieser Phantasien hat je den Kern der wahren Welt berührt. In ihren Gedanken über die Natur der Welt übersehen sie jene einfache Wahrheit, die sich ihnen offenbaren würde, wenn sie statt die Welt zu denken, die Welt fühlen könnten: dass es eine Welt der Verwirrung ist, des schieren Chaos. Man kann sie nicht einfach beschreiben oder ihr durch nichtssagende Worte auch nur nahe kommen. Die Menschen aber glauben, dass sie irgendwann das Leben verstehen, eine Tabelle daraus machen und sich zurücklehnen werden. Und wenn sie es selbst nicht tun, warten sie einfach auf einen klügeren Kopf.

Du weisst es besser, Yin, denn ich lehrte dich die Magie der Alten. Lange schon kümmert es dich nicht mehr, ob du die Welt in deinen Gedanken ordnen kannst, solange sich die Welt nur nach deinen Gedanken richtet. Was nützt es, etwas zu verstehen, wenn man es nicht beherrschen kann? Es wäre nicht nur unnütz, sondern ist sogar unmöglich. Denn die Bauern fragen sich in ihren Hütten, was der Herr in seinem Hause macht, doch das weiß nur der Herr. Was du verstehen willst, darüber denkst du nicht mehr nach, nein, was du verstehen willst, das willst du sein und was du bist, das kennst du. Das ist der Weg der Zauberer und die Menschen täten gut daran, wenn sie alle mehr wie die Zauberer wären...doch wie ich schon sagte, ist auch dies letztendlich nur ein Weg in die Sklaverei.

Du wirst bald erkennen, Yin, wenn ich dich in die Welt entlassen habe, dass deine Kräfte dir jeden Weg eröffnen, den du dir vorstellen kannst. Doch wohin wirst du gehen? Zweifellos werden dir die Menschen wie Insekten vorkommen. Manche der anderen Zauberer wird es erfreuen dieses Geschmeiss zu zerquetschen, andere spielen sich zu Heiligen auf, um sich in der Freude der einfachen Leute zu baden. Schliesslich geben sie sich mit ihrer Überlegenheit zufrieden, doch alle werden sie voneinander abhängig sein, sich aneinanderklammern wie die Affen bei der Kälte, nur jeder auf seine eigne Art. Deshalb sage ich dir, dass es gut für dich war, das bloße Menschsein hinter dir zu lassen, den Zauberer in dir jedoch wirf ebenso hinfort, denn die Macht, die er dir am Anfang schenkt wird dich am Ende in eine Sackgasse führen, wenn du dich dank ihr zu wichtig fühlst.

Du warst ein Mensch und du warst ein Zauberer und kennst nun beides. Das Feuer in deinen Augen sagt mir aber, dass du noch lange nicht zufrieden bist, dass du immer noch suchst und eine weitere Offenbahrung erwartest, und das gefällt mir sehr. Doch musst du verstehen, dass die letzte Wahrheit, die dir fehlt, so flüchtig und mysteriös ist, der Schatten eines Schattens, dass du sie niemals gezielt anstreben kannst. Alles in dieser Welt kannst du erreichen, doch der Sinn der Welt erreicht dich, wenn du ihr zu Gefallen bist. Und dafür musst du nun zum Gotte werden. Also wie sich die Welt nach einem Zauberer richtet, so richtet sich der Zauberer nach seiner Gier, er ist zu einer unkontrollierbaren Kraft geworden, die niemals satt sein wird. Nur ein Gott kann leicht und frei sein, unabhängig gar von seiner eigenen Schöpfung.

Ich erzähle dir dies alles, damit du verstehst, dass jeder nur ein Gefangener ist und sein eigener Wärter zugleich. Die Menschen sind gefangen in ihrer Unwissenheit: sie glauben allein was sie sehen, doch sehen sie nur, was sie glauben. Es ist ein Teufelskreis. Die Zauberer zerbrechen diesen Kreis zunächst, doch lassen sie sich versklaven von ihrer Leidenschaft und ihrem Eigendünkel. Sie handeln nach den Prinzipien ihres Willens und ihre Augen sehen in Verbindung mit ihrem Geist; der wiederum wird durchdrungen und geöffnet von ihrem Glauben an die Unendlichkeit hinter dem Endlichen. Am Ende aber sind sie trunken von ihrer Macht, verwirrt ob der schieren Fülle ihrer Möglichkeiten. Und so wie ihr Wissen von der Welt sich zu vermehren scheint, so erkaltet ihnen das Herz, bis sie sich selbst nicht mehr spüren und ihr Geist sich zum Laufburschen ihrer Leidenschaften gemacht hat. Mit anderen Worten sind die Zauberer zwar befreiter als die Menschen, denn sie erreichen, was auch immer sie sich vornehmen. Jedoch, ihr "Wille" ist nicht mehr als ihre getarnte Wollust, die sie aus den Tiefen ihres Geistes heraus zu lenken vermag. Der wahre Wille eines Wesens offenbart sich erst, wenn es versteht loszulassen. Nicht nur seinen Besitz und seine Wünsche, sondern auch jedwede Vorstellung vom Antlitz seiner eigenen Natur.

Wenn du frei sein willst, so verstehe, dass alles, was du bisher in deinem Leben erfahren hast, nichts anderes war als der Vollzug deiner Geburt. Ich habe deine Nabelschnur zerschnitten, nun liegt es an dir wieder ein Kind zu sein. Erfahre dich selbst und das Leben wie ein Neugeborenes, auch wenn der andere Teil von dir weiß, dass du bereits der weiseste unter den Blinden bist. Halte dies' Kind in dir heilig und die Welten, die sich vor deinem Auge entfalten, werden endlos sein. Und das ist ein Gott: wissend im Geiste, doch kindlich im Herzen; und darum endlos und niemals erstarrt, ewig wachsend und doch niemals erwachsen, ein Schaffender und doch niemals vollendet. Darin aber liegt die Vollendung, dass man ein ewig Suchender sei, doch mit der höchsten Freude erfüllt durch das ewige Finden."


Hier hielt der Magus einen Moment inne und betrachtete das Gesicht seines Schülers, der auf den Boden blickte, doch keinen Hehl daraus machte zu verbergen, dass seine Gedanken eine letzte Wanderung durch die Gefilde seiner Vergangenheit unternahmen. Dann weiteten sich die Augen des Yin, er erwachte aus seiner Trance und schaute auf in das lachende Gesicht seines Meisters. Sein Blick war erfüllt mit einem Ausdruck der Ruhe und des Friedens, doch ein anderer Beobachter hätte womöglich einen Mann gesehen, der einer Raubkatze gleich war, auf seine Beute ausgerichtet und bereit zum tödlichen Sprung. Dann zerbrach die Ernsthaftigkeit seines Gesichts und es platzte einfach aus ihm heraus, die beiden Männer brüllten vor Lachen und wanden sich auf dem Boden, überflutet von den Wellen ihrer Freude. "Das ist ein seltenes Geschenk", sprach Ayvaschim, "einem Mann dabei zuzusehen, wie er die Ganzheit seiner Natur erreicht" und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

"Auch mir kommt es so vor, als könnte ich mich zum ersten Male wirklich sehen", sagte Yin. "In meinen Gedanken sah ich die Welt bisher in Farbe und mich selbst in ihr als einen Schatten, dunkel und unbestimmt. Nun ist das Bild von mir in meinem Geist so klar, wie das des alten Schelms, der lachend vor mir sitzt. Die Welt jedoch umher ist schwarz. Ich weiß nichts mehr. Nichts!"

"Dann weisst du mehr als alle anderen!" sprach Ayvaschim. "Oder genug, um damit anzufangen, tatsächlich etwas zu lernen. Öffne nur die Augen und sieh dich um. Hör' nicht auf zu sehen, denn jeder weitere Blick enthüllt dir mehr von dieser Welt - mehr von deinem Selbst."

"Mein Leben lang war ich auf der Suche nach Wahrheit und Kraft"
, sagte Yin. "Und nun verstehe ich, dass alles was ich gesehen, alles was ich getan habe, von Anfang an bereits aus dieser Kraft erschaffen war. Durch meine inneren Entscheidungen legte ich die Wahrheiten meines Lebens fest. Immer schon war ich der Schöpfer meiner Wege und schuf mir eine Welt, in der ich suchen durfte, was ich längst besaß. Mein eignes Bildnis ließ ich formen von einer Welt, die ich stets glaubte zu verstehen. Doch da ich mich nun selbst erkannt, soll sich die Welt nach meinem Bilde formen. Was bin ich nur, oh Ayvashim, wo geht die Reise hin?"

Der Alte grinste. "Die Antwort liegt da draussen... und dein Leben wird dir auch dieses Wissen schenken, wenn du es lange genug betrachtest, so wie Liebende einander betrachten. Schau liebevoll auf die Welt und du wirst auch ihr sehr lieb erscheinen. Dann wird sie dir vor die Nase setzen, was du von selbst bis jetzt nicht siehst. Du hast deine Geschichte bereits geschrieben. Lehn' dich zurück und sieh zu, wie sie sich entfaltet."

Lange noch saßen die beiden in der Dunkelheit, lachten hier und wunderten sich dort über die köstlichen Lieder, die die Nacht für sie sang. Als Ayvashim am nächsten Morgen erwachte, war Yin bereits verschwunden. Da sagte er in seinem Herzen Lebewohl und fragte sich, welches Leben die Seele des Freundes, der einst sein Schüler war, wohl für ihn zeichnen würde.

Ayvashim aber, der seiner eigenen Seele folgte, in deren Tiefen er seit jeher schon ein Lehrer war, bereitete sich auf den kommenden Abend vor und als die Sonne sich vor dem Horizont verneigte, rief er einen anderen seiner Lehrlinge zu sich, lächelte in seinem Herzen und sprach:

"Komm' herein, oh größter meiner Schüler und sitz' mit mir an dieser Feuerstelle. Heute sollst du ein letztes Mal meinen Worten lauschen, denn nachdem die Sonne dieses Tages ihren Weg vollendet hat, wirst du mich niemals wiedersehen. Wir werden tot füreinander sein, denn in der Welt von Morgen ist nicht genug Platz für uns zwei..."
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