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Philosophisches und Nachdenkliches Philosophische Gedichte und solche, die zum Nachdenken anregen sollen.

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Alt 28.03.2012, 12:02   #1
männlich Desperado
 
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Standard Der alte Mescalero

Die Sonnenschlangen haben böse Träume mitgebracht.

Als mächtige Ungeheuer kommen sie alle unheiligen Zeiten brüllend und fauchend aus dem Bauch der Sonne gekrochen und winden sich durch die Welten der unendlichen Himmel, suchen züngelnd nach einem Loch, in das sie sich verkriechen können, wenn sie nach langer Reise schließlich die Erde erreichen, sind sie dünner geworden als ein Spindelwurm, schlängeln sich durch jedes noch so dicht geknüpfte Netz des Traumfängers und schlüpfen ins Ohr des Schlafenden, um ihm schlimme Träume zu bereiten.

Es tut gut, wieder mal beim alten Mescalero einzukehren, seine Erklärungen sind einfach und schlüssig, das beruhigt. Äußerlich hat sich der Schamane seit meinem letzten Besuch nicht verändert, und ich glaube auch nicht dass ihm das zu Lebzeiten noch gelingen wird, es gibt einfach keine Lücke mehr und keinen Fetzen Lederhaut für eine weitere Falte, das lebendige Kunstwerk des Greises ist sozusagen vollendet und von der Künstlerin Leben eigenhändig signiert.

Ich hatte einen bösen Traum und würd ich ihn erzählen, gäb ich ihm nur Raum, aber der Mescalero meint, das ginge zur Zeit vielen so und habe keine weitere Bedeutung. Die Sonnenschlangen lieben schauderhafte Schauergeschichten und grässliche Gruselmärchen und können diese so lebendig erzählen, als würde der Schläfer sie wirklich erleben, so dass er noch Tage später aufgewühlt ist von den klaren Bildern, aber ein Traum sei eben dennoch nichts weiter als ein Traum, das müsse man sich vor die Augen der beunruhigten Seele führen und sich nicht verwirren lassen von ihrem bösen Zischen.

Ich betrachte mir derweil versonnen den herrlichen Traumfänger über seinem Höhleneingang, gewebt und gesponnen wie ein großes rundes Spinnennetz, geschmückt und behangen mit Federbüscheln verschiedenster Größe, Farbe und Musterung, allerlei Knochensplittern, Schneckenhäuschen, Muscheln vielerlei Gestalt und funkelnden Steinen aller Farbe und Maserung, ein wahres Meisterwerk. Würde man die Dinger massenweise herstellen, könnte man sicher einen Haufen Dollar machen damit, ob sie freilich ohne das geheime Einweihungsritual des Schamanen gegen böse Träume helfen würden, ist mehr als fraglich.

Zur Zeit sind sie ohnehin löchrig und durchlässig, aber ihre Fangnetze sind ja nun nicht ausdrücklich für die Abwehr kosmischer Gewalten gestrickt und geeignet, es irren genug böse Träume um den Mantel der Erde, um sie rund um die Nacht zu beschäftigen. Gerne hätte ich mal die Geisterspinne zu Gesicht bekommen, die sie einwickelt und verspeist, aber die ist nun mal nur für die sehenden Augen von Schamanen und Träumern sichtbar.

Sonnenschlangenspindelwürmer gehören offenbar nicht zu ihrem Speiseplan.

Es liegt sich herrlich auf dem Felllager des Mescalero.

Der alte Indianer sägt in allen Tonlagen. Aber nicht sein Schnarchen ist es, dass mich am Einschlafen hindert. Auch keine lästigen Flöhe, denn die Höhle des Schamanen ist sauber und parasitenfrei, was mich erstaunt, aber wenn ich mir seine Kräutersammlung anschaue, dürfte auch diesbezüglich was Wirkungsvolles zu finden sein. Ich liege wach, weil ich nicht das Bedürfnis habe in Schlaf zu sinken. In wachen Nächten wie diesen ist mir alles nur noch ein großes Rätsel.

Die Menschen werden alles verlieren.

Alle Größe, alle Würde, alle Schönheit, alle Klugheit, alle Besonnenheit. Der Sinn ihres Erdendaseins wird von ihnen gewichen sein, das Denken ihren Köpfen vollständig abhanden gekommen. Sie werden sich von Sonnenaufgang bis Untergang um sich selbst drehen ohne sagen zu können warum und wofür und auch noch durch die ganze lange Nacht. Gähnend leer wird ihr Leben sein und bis zum Rand und zum Überlaufen mit nutzloser Zerstreuung und Ablenkung gefüllt.

Keine einzige Fragen werden sie mehr stellen können weil sie keine mehr finden. Reden werden sie wie ein Wasserfall ohne etwas zu sagen, singen ohne Geschichten zu erzählen, zuhören ohne zu verstehen, zustimmen ohne zu begreifen, fühlen ohne zu empfinden, essen ohne zu schmecken, trinken ohne zu dürsten, sich umwerben ohne sich zu wollen, sich umarmen ohne sich zu lieben. Schaffen werden sie und schuften ohne zu wissen für wen und weshalb, was sie geformt haben werden sie zerstören, um es aufs neue zu entwerfen, doch das Neue wird nicht besser sein als das Verworfene.

Sie werden vergebens geboren und umsonst auf Erden gewesen sein.

In schönen und prächtigen Masken werden sie umherlaufen, dahinter aber werden sie hässlicher und erschreckender sein als die Gespenster im Tal des Todes. Grausamkeit und Gewalt werden sie lieben und sich am Unglück anderer weiden. Gleichgültig werden sie vorbeigehen an der Not der Leidenden, ihre Augen abwenden vom Elend der Armen, die ihren unfassbaren Reichtum durch mühseligen und mörderischen Frondienst erzeugen und sichern werden.

Den wilden und zahmen Tieren werden sie unsäglichen Schmerz zufügen und namenlose Pein ohne einen Funken Erbarmen und Mitleid. Sie werden die guten Geister der Natur vertreiben, schmähen und mit Füßen treten, der Erde die Seele rauben, dem Wasser das Leben und dem Himmel das Licht.

Düster sind die Worte des Schamanen und schwer zu ertragen. Tief blickt er in sich hinein und weit in die ferne Zukunft, die Zeit nach den großen Kriegen, wie er sagt, die das Antlitz der Erde verwüsten werden und ein Gräberfeld hinterlassen größer als das Sternenzelt. Diese Tage werden von den Menschen Tage des Friedens und der Gerechtigkeit genannt werden, in Wahrheit aber sind sie furchterregender und entsetzlicher als alles was je zuvor gewesen und geschehen, ja was man sich vorstellen kann.

Es wird die Zeit sein, in der es keine Liebe mehr geben wird auf der Erde, eine Zeit der finstersten Nacht und tiefsten Dunkelheit, ohne dass die Menschen diese wahrnehmen können und ihre verschlingende Allmacht bemerken. Sie werden ihre Blindheit für Sehen halten und ihre Taubheit für Hören, die Nacht für den Tag, die Finsternis für Licht und das Verderben für Heil. Und niemand wird ihre Augen, Ohren und Sinne öffnen können, weil sie den Weg in den Untergang aus freien Stücken gewählt haben und mit aller Kraft und stolzgeschwellter Brust gehen wollen bis an sein Ende.

Wird es bis dahin noch Nachfahren geben von mir? Fast möchte ich sagen, ich hoffe nicht. Wer will ihnen so was wünschen?

Einen undenkbaren Albtraum, der zu Wirklichkeit geworden ist?
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