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Rollenspiele und Bühnenstücke Eigene Bühnenstücke, Rollenspiele und Dialoge.

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Alt 06.05.2015, 22:09   #1
männlich Schmuddelkind
 
Benutzerbild von Schmuddelkind
 
Dabei seit: 12/2010
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Beiträge: 4.798

Standard Die Sitzung

Er: Wie geht es Ihnen heute?
Ich: Der Floskel entsprechend.
Er: Ich würde gerne mehr über Ihr Leben erfahren... über Ihr Leben vor den Ereignissen, die Sie zu mir geführt haben. Erzählen Sie mir doch von einem ganz normalen Tag!
Ich: Es gibt keine normalen Tage.
Er: Dann dürfen Sie auch gerne von irgendeinen Tag berichten, der Ihnen in den Sinn kommt.
Ich: Nennen Sie ein Datum!
Er: 18. Februar 2012.
Ich: Das war ein Samstag. Da bin ich mit einem Alptraum aufgewacht: Ich befand mich in einem seltsamen Hotel am Fuß der Berge. Ich spürte schon von Anfang an so eine subtil düstere Grundstimmung - ohne dass ich benennen könnte, woran es lag. Und dann, als man mir mein Essen serviert hat... Ich musste einen menschlichen Foetus essen... musste, weil ich, wie sich in dem Moment herausstellte, ein Kind war - hatte mich schon gewundert, warum alles so groß war und meine Mutter meinte nur: "Du isst, was auf den Teller kommt!"
Er: Das ist interessant, weil Sie zum ersten Mal Ihre Mutter erwähnen. Sprechen wir doch über Ihre Mutter!
Ich: Möchten Sie wirklich etwas über Ihre Mutter wissen oder hoffen Sie, dabei etwas über Ihre Mutter zu erfahren?
Er: Mir geht es dabei um Sie. Aber es ist nur ein Angebot. Wenn Sie möchten, können Sie auch weiter über Ihren beliebigen Tag sprechen.
Ich: Es gibt keine beliebigen Tage. Alle Tage sind zunächst Zukunft, bevor sie Gegenwart und schließlich Vergangenheit werden. Daran ist nichts Beliebiges.
Er: Ganz wie Sie möchten.
Ich: Ich bin dafür, dass werdende Mütter eine Art Führerscheinprüfung für die Mutterschaft ablegen müssen, wenn die Befähigungskriterien sinnvoll gewählt sind. Ansonsten müssen sie abtreiben. Niemand darf ein Auto halten, der nicht nachgewiesen hat, dass er in der Lage ist, damit umzugehen, ohne jemanden zu gefährden. Aber einen Menschen darf sich jeder Trottel halten.
Er: Glauben Sie, dass Ihre Mutter eine solche Prüfung bestanden hätte?
Ich: Ganz sicher nicht. Sie wäre schon in der Theorie-Prüfung durchgefallen - von der Praxis ganz zu schweigen.
Er: Das ist interessant, denn letztendlich plädieren Sie für ihre eigene Abtreibung, nicht wahr?
Ich: Ja, das ist interessant.
Er: Demnach ist Ihr Vertrauen in Ihre Mutter nicht sehr ausgeprägt. Sehe ich das richtig? Was für ein Mensch war sie?
Ich: Ich rede von meiner Mutter lieber in Beispielen. Sie als ein Individuum zu sehen, fällt mir schwer.
Er: Möchten Sie mich an einem dieser Beispiele teilhaben lassen?
Ich: Als ich ihr eröffnete, dass der Mann, der mir die Beichte abnahm, mich hinterher in den Arsch fickte, meinte sie erschrocken: "So redet man nicht über einen Mann Gottes!" Und sie zwang mich weiter Tag für Tag zum Kommunionsunterricht zu gehen. Eines Tages also hängte ich das Kruzifix über ihrem Bett verkehrt herum auf. Als sie es sah, brach sie in Tränen aus, aber ich hatte noch nicht Genugtuung erfahren.
Er: Und was ist dann passiert?
Ich: Ich habe mich im Bad fertig gemacht und musste die ganze Zeit über an meinen Alptraum denken. Jedenfalls bin ich in den nächsten Bus gestiegen. Auf dem Schoß meines Sitznachbarn sah ich zufällig die Titelseite der Zeitung: "Wissenschaftler warnen: Sex macht impotent."
Er: Was haben Sie dabei gedacht?
Ich: Mir kam sofort eine Analogie in den Sinn: "Vorsicht! Das Leben gefährdet Ihre Gesundheit." Mir wurde wieder bewusst, warum ich keine Zeitungen lese: was die Welt für das hält, worum sie sich dreht, ist in Wahrheit nur ein Furz in den Wind. Bedeutungen liegen nicht auf der Straße, sondern nur in einem selbst.
Er: Glauben Sie also, dass die Werte in der Welt da draußen bedeutungslos sind?
Ich: Ich glaube, dass die Werte darauf warten, dass ihre Bedeutung für das eigene Leben entdeckt wird.
Er: Das ist ein interessanter Standpunkt.
Ich: In der Tat. Jedenfalls kam ich bald im Krankenhaus an, ging in das Zimmer meiner Mutter. Sie war überrascht, dass ich gekommen war und erklärte, dass sie zum Sterben nicht bereit war, wenn ich ihr nicht verzeihe. In diesem Moment erkannte ich, welche Bedeutung ich, wenn auch spät, der ganzen Sinnlosigkeit meines Lebens verleihen könnte.
Er: Sie haben ihr verziehen?
Ich: Ich nahm ihren Teller, habe darauf geschissen und ihn ihr auf die Brust gelegt - sie konnte sich ja nicht bewegen. Dann führte ich Löffel um Löffel zu ihrem Mund. Das Meiste ging daneben, da sie versuchte, auszuweichen. Also sagte ich: "Du isst, was auf den Teller kommt!"
Er: Das ist eine interessante Wendung in Ihrer Rolle als Sohn. Glauben Sie, dass dies ein Schritt hin zu den Umständen war, die uns miteinander ins Gespräch brachten.
Ich: Das müssen Sie letztendlich entscheiden. Ich weiß nur, dass es sich gut angefühlt hat, dass es mich befreit hat.
Er: Das kann ich verstehen - von ihrem Standpunkt aus - und ich würde nun gerne noch weiter über dieses Thema reden. Aber unsere Sitzungszeit ist leider vorüber.
Ich: Schon? Das ging schneller als sonst.
Er: Sie haben sich heute auch sehr rege beteiligt; das ist ein Fortschritt.
Ich: Na denn, auf Wiedersehen.
Er: Auf Wiedersehen.
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