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Alt 13.08.2006, 22:14   #1
dead_poet
 
Dabei seit: 03/2006
Beiträge: 624


Standard Neues Spielzeug von Papa

Goldig sahen sie aus, diese kleinen Racker mit ihrer selbstgemachten Spielzeugwaffe - Papa hatte ihnen geholfen, seine alte Weltkriegsknarre umzubauen. Munter ballerten sie nun auf einen alten Sack, den sie mit bunten Schnüren den Weg runter in die Stadt an einen Baum gebunden hatten. Er schaute so witzig aus mit dem Apfel in seinem Mund. Max hatte das schon einmal in einem Film gesehen - Mama war damals böse geworden, er sollte „solche Filme doch nicht schauen“. Lisa schaute irgendwie komisch. Sie fand es doof und verstand auch nicht, warum dem Mann plötzlich Marmelade aus dem Mund lief. "Das ist Ketchup, du blinde Kuh. Hast mal wieder keine Ahnung!" Mädchen hatten eigentlich nie eine Ahnung, das sagte Max ständig. Wo war eigentlich Papa?

Papa saß in seinem alten Lehnsessel auf dem Balkon. Es war eigentlich der Sessel von Opa, aber der war letztes Jahr auf eine Reise gefahren, also konnte Papa ihn ja solange benutzen. Er las wieder in einer von diesen Zeitschriften, von denen Kinder noch nichts verstanden – es ging da um Politik und Wirtschaft und solche Dinge - das interessierte Lisa und Max nun wirklich nicht. Nur Max fand die Mädchen vorne drauf ganz toll – die hatte er einmal gesehen, als Papa schnell in die Küche rannte, weil er dort seine Milch aufgesetzt hatte und es schon ganz doll stank, wie Max zu Papa meinte. Das fand Lisa nun auch wieder komisch, also das mit den Mädchen. Auch, dass Max sie so toll fand, wo er Mädchen doch sonst nicht mochte. Sie sahen ein bisschen aus wie Mama, wenn sie aus der Badewanne kam, nur dass die Brust von den Mädchen nicht so weit nach unten hing. Aber Mädchen hatten eben „keine Ahnung von Politik“, wie Max zu ihr sagte. Er wusste das von Papa, der meckerte auch immer, wenn Mama sich in solche Sachen einmischte. „Frauen machen den Haushalt, das können sie wenigstens!“, meinte er neulich. Da rannte Mama mal wieder weinend nach draußen, sie sah das wohl etwas anders als Papa.

Der alte Mann ließ plötzlich den Kopf hängen. Das war sehr komisch, denn es war noch früh, sie hatten noch nicht einmal zu Abend gegessen und selbst Max und Lisa konnten bis nach dem Abendessen aufbleiben. Max sogar immer noch ein bisschen länger als Lisa, er war ja auch ein Jahr älter und außerdem war es heute Mittwoch. Mittwochs war Mama abends immer mit ihren Freundinnen weg. Das hieß dann meistens, dass sie noch länger aufbleiben konnten, weil Papa mittwochs Fernseh schaute und wohl nicht dran dachte, sie ins Bett zu bringen. Sie spielten dann in Max’ Zimmer, bis sie müde waren und von alleine ins Bett gingen. Aber der Mann hier schlief noch vor dem Abendessen – das hatte sonst nur Opa gemacht, wenn er nachmittags in seinem Sessel die Vögel beobachtete. Sie zwitscherten so toll, sagte er immer. Irgendwie fehlte Lisa Opa. Sie sagte oft zu Mama, er sollte nicht so lange Urlaub machen und wieder heimkommen. Mama meinte dann immer, er käme schon wieder, aber das dauerte eben noch, sie sollte sich gedulden. Geduld, ja das hatte Lisa nicht. Sie wollte sich auch jetzt nicht gedulden, bis der Mann wieder aufwacht, obwohl Max ihn seit bestimmt einer halben Stunde anschrie. Oder zumindest schon sehr lange. Sie ging hin und versuchte ihm die Augen aufzuschieben, so wie Max es immer bei ihr tat, wenn er abends nicht einschlafen konnte. Lisa konnte das oft auch nicht. Aber sie wollte es wenigstens versuchen und tat deshalb zu Max so, als schliefe sie schon. Dann ging er wieder in sein Zimmer.

„Iiiih, Lisa fasst den alten Sack an!“, ließ Max sie plötzlich zurückschrecken. „Gleicht bläst du ihm noch einen, was?!“ Sie verstand zwar nicht, was er meinte, aber sie sagte einfach mal: „Nein! Ich bin doch keine Zicke!“ Max sagte oft zu ihr Zicke, sie hatte das Gefühl, er wüsste selbst nicht, was das wäre, aber es war bestimmt nichts Schönes. Sie fragte sich nun selber, warum sie diesen komischen Sack angefasst hatte, weil eigentlich sah er ziemlich komisch aus. Ja sogar irgendwie eklig! Alte Menschen sahen ja meistens komisch aus, aber nicht so wie der. Vielleicht lag das auch an den vielen Kugeln, die Max auf ihn geschossen hatte. Er hatte jetzt viele kleine Dellen im Gesicht. Blaue Dellen. Manche waren auch rot. „Du Max,“, sagte sie, „meinst du nicht, dass du mal wieder aufhören willst? Der hat so komische Dellen im Gesicht.“ Papa hatte ja eigentlich gesagt, sie dürften nicht auf Menschen schießen, aber alte Säcke waren keine echten Menschen, hatte Max zu ihr gemeint. Max würde das schon wissen, hatte sie gedacht. Max wusste es ja sonst auch.

„Hey Max, da ist Mama!“, rief sie plötzlich und rannte zu ihr. „Schau mal!“, sagte sie zu ihr. „Papa hat Max eine Software gebastelt!“ – „Softair heißt das, du dumme Nuss!“, fiel ihr Max ins Wort. „Du sollst nicht solche Ausdrücke verwerden, Max! Und schon gar nicht zu deiner Schwester!“, schrie Mama und rannte mit rotem Kopf zu ihm. Max flüchtete ein paar Meter zurück, bis Mama stehen blieb. Dann richtete er die Waffe auf sie und grinste ganz komisch. „Nimm sofort das Ding da runter! Ich warne dich!“ Ihre Stimme klang richtig böse. So böse klang sie zuletzt, als Max ihr ihren Pfannkuchen auf den Stuhl gelegt hatte. Gerade, als sie sich hinsetzte. Mama hatte dann Max Pfannkuchen gegessen. Er hatte den ganzen Nachmittag Hunger gehabt, weil sie dann auch noch die Süßigkeiten versteckt hatte. „Woher hast du eigentlich diese Waffe?“ Ihre Stimme klang nun mehr ängstlich als böse. „Hab ich mit Papa gemacht.“ – „So?“ Es war eigentlich mehr eine Feststellung als eine Frage.

Nach einer kurzen Pause, in der sie zu dem alten Mann schaute, fragte sie dann: „Wer ist das eigentlich?“ Sie bekam aber keine Antwort. Denn Lisa und Max wussten es nicht. Und der Mann konnte ja nicht sprechen. Er hatte ja noch immer den Apfel im Mund. Mama ging zu ihm und kniete sich neben ihn. „Hallo, Sie?“ Doch der Mann schien nicht mit ihr sprechen zu wollen. Er hatte noch immer die Augen zu und die Schultern schlaff. Sie nahm daher einen kleinen Stecken, mit dem sie ihm an die Nase stupste. „Hey, Sie! Wer sind Sie?“ Doch auch als sie ihn fester stupste, wollte er Mama nicht antworten. „Max, gib mir mal dein Messer.“ – „Ich hab’ kein Messer“- „Gib mir dein Messer!“ Er reichte es ihr. Was hatte Mama vor? Wollte sie den Mann aufschlitzen? Sie nahm Max das Messer ab und schnitt damit die Seile durch, mit denen Max den Mann an den Baum gebunden hatte. Sie brauchte eine Weile, obwohl Max Messer ziemlich scharf war. Einmal hatte er damit rumgefuchtelt und Lisa dabei ins Auge gestochen. Es hatte richtig weh getan und Papa war mit ihr ins Krankenhaus gefahren. Sie sah seitdem etwas weniger als vorher.

Mama hatte die Seile jetzt durchgeschnitten und rammte das Messer in den Baum. Dann schaute sie auf ihre Uhr und zerquetschte dabei dem Mann seinen Arm. Max und Lisa schauten ihr interessiert zu, als sie plötzlich aufschrie: „Verdammte Scheiße! Was habt ihr euch nur dabei gedacht?“ Max und Lisa standen stumm da. Und Mama wurde so plötzlich ruhig, wie sie zuvor losgeschrien hatte. Sie drehte den Mann auf den Bauch. Dabei musste sie sich mit ihrem ganzen Körper gegen ihn stemmen. Kein Wunder. So fett wie der Mann war. Mama langte ihm in die hintere Hosentasche und zog ihm seinen Geldbeutel heraus. Sie fand darin ein paar Papierstreifen. Lisa war nun wieder beruhigt, denn Mama lächelte. „Wenigstens etwas“, murmelte sie und zog eine Plastikkarte heraus, die in der Sonne bunt glänzte. Sie schaute darauf, wobei ihre Augen größer wurden. Sie wurde blass. „Das kann nicht sein.“, stammelte sie. „Das kann nicht sein.“

Papa schaute auf die Uhr und fragte sich, wo Mama nur blieb. Es war bereits viertel nach sechs. Bestimmt schwätzte sie noch mit einer ihrer Freundinnen. Sie sollte lieber in der Küche stehen, denn er hatte Hunger. Auch die Kinder waren noch nicht wieder zurück. Max schien wohl Spaß an seinem neuen Spielzeug gefunden zu haben. Sein Bier war leer, was ihn tierisch ärgerte. Denn nun musste er selbst aufstehen, um sich eine neue Flasche zu holen. Wo blieb das Weib bloß wieder?

Mama war nun kreidebleich geworden und ließ die Plastikkarte zu Boden fallen. Max sprang zu ihr und hob die Karte auf. „Haha, schaut der komisch aus!“ Er lachte laut auf, sodass Lisa neugierig wurde und sich neben ihn stellte. „Das ist doch der Mann, der da liegt.“, meinte sie und deutete auf ein Bild auf der Karte. „Was heißt das?“, fragte sie und ging mit ihrem Zeigefinger über ein großes, gekritzeltes Wort. „Gott.“, sagte Mama. „Ihr habt Gott getötet.
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Alt 13.08.2006, 23:35   #2
Appelschnut
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 279


Mich hat dein Text ziemlich amüsiert - auf eine bitterböse Art und Weise. Du zeichnest eine sehr eindeutige Gesellschaftkritik (zumindest in meinen Augen) und bist dabei ein ganz kleines Bisschen boshaft - herrlich!
Gut finde ich auch Anfang und Ende: Wie in eine Momentaufnahme springt der Leser in eine Situation und wird am Ende wieder ausgeblendet. Zugleicht hält dieses Ende auch noch einmal zum Nachdenken an.
Wie gesgat, mir gefällt's...
Appelschnut ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.08.2006, 23:44   #3
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Ein schönes Beispiel für verkorkste Erziehung, wie ich meine. Zuerst gibt der Vater den Söhnen seine Waffen zum Spielen, dann ist es ihm egal, dass die Kinder Horrrorfilme gucken und dann steht er voll auf Patriachismus, was er auch an seine Kinder weitergibt und was seine Frau total kaputt macht. Die Tochter wird später bestimmt auch eine typische Hausfrau und der Sohn, der wird wie sein Vater, wenn er sich nicht vorher aus Versehen mit seinem neuen Spielzeug erschossen hat.
Opa war letztes Jahr auf eine Reise gefahren? Ich wage mal die Vermutung, dass er gestorben sein könnte und die Reise nur die Story für die kleinen Kinder ist, die man zwar erwachsen genug dafür hält, Horrorfilme zu sehen und rumzuballern, aber nicht für die Wahrheit. Tod wird verdrängt, Tod ist überpräsent - so hieß es in Ethik immer. Daran muss ich denken.
Alles in allem - eine gelungene Geschichte.
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.08.2006, 23:59   #4
dead_poet
 
Dabei seit: 03/2006
Beiträge: 624


Hey danke euch beiden!

@Fußballerin:
Ich hatte den Anfang dieser Geschichte urprünglich in poetischer Form verfasst. Um die Geschichte aber weiter spinnen zu können (Könnte mir dies auch gut als Anfang für eine längere Geschichte vorstellen), habe ich es in Prosaform umgeschrieben. Daher rührt auch der erste Satz, der von einem externen Betrachter stammt, während der Rest aus den Augen der Kinder (Lisa) erzählt ist. Schön, dass es dir gefällt, ich war mir nämlich nicht sicher, ob ich es so lassen soll.

@Struppigel:
Du hast es absolut erfasst, selbst die 'Reise des Großvaters' hast du richtig gedeutet!
Ich freu mich, dass die Geschichte dir gefallen hat.

Gruß,
dead
dead_poet ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.10.2006, 21:59   #5
dead_poet
 
Dabei seit: 03/2006
Beiträge: 624


So... Habe meine Erzählung etwas weitergeführt.

Da ich mir nicht sicher bin, ob und falls ja, wie bald ich noch mehr schreiben will, habe ich es in einer so auch als abgeschlossen betrachtbarer Version gepostet. Hoffe, die Fortsetzung gefällt.
dead_poet ist offline   Mit Zitat antworten
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