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Philosophisches und Nachdenkliches Philosophische Gedichte und solche, die zum Nachdenken anregen sollen.

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Alt 27.03.2015, 20:18   #1
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
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Beiträge: 31.115

Standard Kein Entkommen!

Mittagspause. Ich lasse das Büro hinter mir und laufe vom Westend strammen Schrittes in Richtung Zeil, überquere den Zebrastreifen, der direkt zum Eingang des KAUFHOF führt, und sehe meinen Boss entgegenkommen, Arm in Arm mit einer jungen hübschen Dame.

Beide begrüßen mich herzlich, aber ich bin verwirrt, weil ich die junge,hübsche Dame nicht zuordnen kann. Ich überspiele die Situation, indem ich vermeide, Namen zu nennen. Das ist nicht schwierig, weil mein Boss die Kommunikation locker hält und es immer eilig hat.

Trotzdem nagt die Begegnung an mir. „Wer war denn die Dame an Ihrem Arm?“ traue ich mich später zu fragen.

„Das war meine Frau!“ Unverkennbar ist Stolz in seiner Stimme.

„Aber die sieht ja aus wie ein junges Mädchen …“

„Liegt in der Familie. Da altert niemand äußerlich. Alle sehen mit sechzig aus wie mit zwanzig. Meine Frau ist Mitte fünfzig.“
Zehn Jahre später:

Ich werde überrumpelt: Mein Boss, der mich wegen eines PC-Anwenderproblems zu sich nach Hause gelockt hat, bittet mich – nein, er drängt mich – nach oben zu gehen, wo seine Frau lebt. Sie ist Mitte/Ende sechzig, seit Jahren progressiv dement und wird rund um die Uhr von einer Pflegekraft betreut. Sie erkennt mich nicht mehr. Ich erinnere mich an unsere Telefongespräche und auch an ihre Besuche im Büro, wenn sie bei mir war und wartete, solange mein Boss noch telefonierte. Bei unserem letzten Aufeinandertreffen, als sie wieder einmal warten musste, bis ihr Mann sein Telefonat beendete, fiel sie mir um den Hals und weinte bitterlich. Ich dachte, es ginge um Eheprobleme, aber es ging um viel mehr. Es ging um Demenz und um Angst. Diese Frau spürte, dass etwas in ihr und mit ihr geschah. Aber sie hatte keinen Namen dafür. Und jetzt, wenige Jahre später, stehe ich vor ihr, und sie erkennt mich nicht mehr. Sie fühlt sich bedroht und giftet mich an, denn ich bin ein Fremdkörper in ihrer Umgebung. Erst als ich sage: „Ich bin vom Büro Ihres Mannes,“ beruhigt sie sich. Als mein Boss und ich das Haus verlassen, um ins Büro zurückzufahren, sagt er zu mir: „Ich wollte, dass Sie das sehen. Das ist die Frau, die Gymnasiallehrerin für Englisch war, den Grundriss unseres Hauses und das Design nebst technischer Daten für einen Kachelkamin entworfen bzw. berechnet hat. Können Sie sich jetzt vorstellen, wie es in mir aussieht und was vor mir liegt?“

Wie ich erfahren habe, liegt Demenz in ihrer Familie. Ebenso, wie die ewig junge, nicht welken wollende Haut. Ihr Vater war in äußerlich taufrischer Jugend gestorben – als dementer Greis in seinen sechziger Jahren.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.03.2015, 20:37   #2
Thing
R.I.P.
 
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Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Liebe Ilka-Maria -


es schaudert mich.
Allein die Vorstelling, dement zu werden, löst panischen Schrecken in mir aus. Jedes Fitzelchen Vergeßlichkeit empfinde ich als Vorboten.

Welch ein schlimmes Schicksal füe dieses Paar - sowohl für sie (ob sie über sich selbst weiß?) wie für ihn, der eine ungeheuer schwere Last zu tragen hat.

Du hast das so deutlich und klar geschildert, daß es mir unter die Haut geht.
Ich weiß nicht, wem von den beiden ich mehr Mitgefühl entgegenbringe.
Begegnen möchte ich ihnen nicht - ich wüßte wohl nicht, wie ich damit umgehen soll.

(Bei meiner dementen Mutter ist es schon schwer genug).


Betroffenen Gruß
von
Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.03.2015, 21:27   #3
weiblich Ex DorotheaG
abgemeldet
 
Dabei seit: 03/2015
Beiträge: 43

Standard Sehr eindringlich und anschaulich

LiebenIlka-Marian.

Deinen Text finde ich extrem anrührend, aber warum als Du ihn als Gedicht gepostet?
Dennoch mit großem Interesse gelesen
Ex DorotheaG ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.03.2015, 21:31   #4
männlich Versard
 
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Ort: Gelsenkirchen
Alter: 34
Beiträge: 1.750

Man erhält nur selten einen solch tiefen Einblick. Berührend erzählt.
Versard ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.03.2015, 21:57   #5
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.115

Zitat:
Zitat von DorotheaG Beitrag anzeigen

Deinen Text finde ich extrem anrührend, aber warum als Du ihn als Gedicht gepostet?
Das war ohne Bedacht. Ich bitte es zu entschuldigen. Nun steht es hier, und da es bereits kommentiert wurde, lasse ich es dabei. Ich bitte, es als Prosa zu lesen, nicht als Gedicht.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.04.2015, 12:45   #6
weiblich Ex-MeineEigeneWelt
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2014
Beiträge: 1.503

Wow, das is ja mal sehr mitfühlend erzählt. Traurig, aber wahr.

Hast du wirklich einmalig geschrieben, liebe Ilka.

Liebe Grüße
Lara
Ex-MeineEigeneWelt ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.04.2015, 13:26   #7
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.115

Thing, Versard, Lara,

vielen Dank für Eure mitfühlenden Worte.

Kurze Hintergrundinformation:

Es handelt sich nicht um eine Geschichte, sondern um einen wahren Bericht. Aus Vertraulichkeitsgründen kann ich nicht zu sehr ins Detail gehen, aber in Wirklichkeit ist alles viel schlimmer, als ich es aufgeschrieben habe. Natürlich gab es Eheprobleme, denn der Beginn der Demenz wurde falsch ausgelegt und führte zu Missverständnissen und zu unschönen Auseinandersetzungen. Das erzählte mir - ich nenne sie einfach mal Frau XY - oft verzweifelt oder sogar weinend am Telefon, aber wir hatten ja beide keine Ahnung, was die wirkliche Ursache war. Erst nach Jahren kam ein Verdacht auf, weil ihr Erinnerungsvermögen dramatisch nachließ und sie sich nicht mal mehr daran erinnern konnte, ein parkendes Auto mit dem eigenen Wagen ramponiert zu haben. Sie konnte bald nicht mehr ohne Aufsicht sein, weil sie keinen Schritt alleine machte und sogar das Essen vergaß. Körperlich war sie völlig gesund, aber das Gehirn machte nicht mehr mit.

Jetzt ist sie in einem Heim und wird künstlich ernährt, weil sie nicht mehr in der Lage ist, die Nahrungsaufnahme selbst zu steuern. Mein Ex-Boss besucht sie regelmäßig und hat sich inzwischen mit der Situation abfinden können, weil seine Frau - wie er sagt - jetzt wesentlich besser aussieht als vor einem halben Jahr, als sie nur noch Haut und Knochen war.

Verheerend an diesem Verfall ist, dass es kein Medikament gibt, ihn zu stoppen.

Weshalb ich das alles mitteile? Ich dachte mehrmals daran, aus diesem Plot später vielleicht einen Roman zu machen. Zwei Gründe sprechen zur jetzigen Zeit dagegen: Zum einen bin ich meinem Ex-Boss noch zu sehr verbunden (er kommt in die Kanzlei, wenn er Kopien oder Scans braucht, manchmal ruft er auch an, wenn er mit Winword ein Problem hat oder schickt mir Dokumente zum Formatieren), zum anderen wurde das Thema "Demenz" gerade in den letzten Jahren gehäuft in Büchern, Dokus und Spielfilmen verarbeitet.

Ich danke für Euer Interesse und Eure Aufmerksamkeit.

Liebe Grüße und schöne Ostern,
Ilka
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.04.2015, 13:59   #8
weiblich Ex-MeineEigeneWelt
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Dabei seit: 12/2014
Beiträge: 1.503

Oh, da kann ich mir vorstellen, wie es dir geht. Tut mir leid.

Werke mit wahrer Begebenheit sind sowieso viel mitfühlender und wirken einfach echter. Noch mal ein Lob!

Frohe Ostern liebe Ilka

Alles Gute
Lara
Ex-MeineEigeneWelt ist offline   Mit Zitat antworten
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