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Alt 09.11.2014, 14:55   #1
männlich zellhaufen
 
Dabei seit: 10/2011
Alter: 40
Beiträge: 100


Standard Herr Rüdigers Blick aus dem Dritten Stock

In der Schublade herrschte König Chaos mit wirrer Hand. Zahllose Hinterlassenschaften vergangener Jahre hatten dort ein unübersichtliches Knäuel geformt, das Herrn Rüdiger an die Ausgeburten Moderner Kunst erinnerte. Fasziniert betrachtete er einen Augenblick lang das Gewirr aus verknoteten Kabeln verschiedener Geräte, das sich quer durch das Chaos zog. Ein noch ungeöffnetes Deck Spielkarten fiel ihm ins Auge. Eine Streichholzschachtel, eine offene Packung kleiner Gummibändchen, deren Inhalt sich ringsum verteilt hatte und eine Vielzahl diverser Werbegeschenke. Feuerzeuge, Kugelschreiber und dergleichen.
Herr Rüdiger überlegte kurz, weshalb er die Schublade geöffnet hatte, da kamen ihm die verdammten Batterien wieder in den Sinn. Er erinnerte sich daran, sie vor ein paar Monaten in einem dieser Billigläden gekauft und nie benutzt zu haben. In der Küchenschublade, in der er sonst seine Batterien bunkerte, waren sie nicht, also blieb nur die überdimensionale Schublade des Wohnzimmerschrankes, wo er immer wieder Dinge hineinwarf, die er aus dem Weg haben wollte und von denen er glaubte, sie so schnell nicht mehr zu brauchen. Die Gruft, hatte er sie einmal getauft. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er die neuen Batterien dort hinein geworfen hatte, und warum er das hätte tun sollen, war ihm ebenfalls schleierhaft. Aber in letzter Zeit waren ihm seltsamere Dinge passiert. Das Alter kam ihm manchmal vor wie schleichender Wahnsinn und er versuchte, ihm immer ein paar tapsige Schritte voraus zu sein. Irgendwann würde es ihn erwischen, das war klar. Und wenn es so weit war, würde er sich freiwillig in diese Schublade zwängen, zu all dem anderen nutzlos gewordenem Zeug und sie für immer schließen. Nicht dass es jemanden interessieren würde.

Er wühlte sich durch die obere Schicht dieses Durcheinanders und legte den Blick auf noch mehr Durcheinander frei. Dekozeug ohne jeglichen Nutzen, Geschenke, die er mal erhalten hatte und die ebenso billig wie beliebig zu sein schienen. Jedes Teil hatte seine kleine Geschichte, doch an die wenigsten konnte sich Herr Rüdiger erinnern. In der Gruft landeten eigentlich nur die Dinge, die für ihn keinerlei Bedeutung hatten. Ohne zu wissen warum, musste er plötzlich an seine Kinder denken. Der Junge lebte jetzt in Düsseldorf, nur eine gute Stunde entfernt und trotzdem in einer anderen Welt. Was er dort beruflich machte, konnte Herr Rüdiger nicht genau sagen. Das, was er über sein Privatleben wusste, war jedoch mehr, als er je hatte wissen wollen. Aber wenigstens meldet sich der Junge alle paar Wochen mal, dachte Herr Rüdiger und ermahnte sich dann Der „Junge“... Der „Junge“ ist Anfang Vierzig... Von seiner Tochter hatte er das letzte Mal Weihnachten vor drei Jahren gehört, und der Gedanke an sie schnürte ihm die Kehle zu. Man könnte glauben, ich hätte mich in ihrer Kindheit an ihr vergangen..., dachte er grimmig. Erst jetzt merkte er, dass seine Hand schmerzte und frisches Blut seinen Ringfinger hinab tropfte und dem Kunstwerk in der Schublade eine progressive Note verlieh. Er schaute nach, was seine dünne Altmännerhaut durchstochen hatte und sah eine Glasscherbe aus dem Kabelgewirr herausragen. Ein einzelner Blutstropfen klebte noch an der Spitze. Vorsichtig schob er die Kabel beiseite und merkte, dass die Scherbe von einem zerbrochenem Bilderrahmen stammte und erst als er das Foto darin sah, erinnerte er sich...

Da hatte er eine Schublade voll mit sinnlosem Plunder, aber in der ganzen Wohnung war nicht ein einziges Pflaster zu finden! Herr Rüdiger starrte in sein Medizinschränkchen und sah ein ähnliches Chaos wie in der Gruft. Drei oder vier leere Packungen Kopfschmerztabletten, die er vor lauter Kopfschmerzen vergessen hatte wegzuwerfen, Medizin, die er verschrieben bekommen, aber selten eingenommen hatte, und ein gutes Dutzend Cremes und Salben. Doch nicht ein einziges Pflaster, obwohl sich Herr Rüdiger auch hier absolut sicher war, vor nicht allzu langer Zeit eine ganze Packung gekauft zu haben. Und wo sollte er sie sonst hin getan haben, als in das Medizinschränkchen? Hatte er nun wirklich den Verstand verloren?
Er knallte die Tür so fest zu, dass der Spiegel erzitterte und er einen Moment lang befürchtete, er würde aus dem Rahmen springen. Dann sah er die Blutstropfen auf den Fliesen. Was zum Teufel...? Es fiel ihm sofort wieder ein und er musste über sich selbst lachen.

Mit Küchenrolle und Tesafilm bastelte er sich einen notdürftigen Verband für seinen Finger, der aber schon wieder zu bluten aufgehört hatte, als Herr Rüdiger nach umständlicher Fummelei damit fertig geworden war.
Er stand am Fenster in seiner Küche, hielt sich selbst die Hand und starrte hinaus in einen matschig-grauen Himmel, der auf die Erde unter sich pisste. In dem Moment vergaß er alles. Er vergaß wer er war und wo er war, während er aus dem Fenster im Dritten Stock blickte. Er vergaß die Batterien, die er gesucht hatte, die Pflaster, seinen verletzten Finger und sogar das Foto in dem kaputten Bilderrahmen. Herr Rüdigers Verstand schmolz wie ein Brocken Eis, tropfte seinen - in einen Jogginganzug gehüllten – Altmännerkörper hinab und bildete eine gelbliche Pfütze um seine Adiletten herum. Nicht einmal das dritte Türklingeln brachte ihn zurück.
zellhaufen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.11.2014, 13:39   #2
weiblich IDee
 
Dabei seit: 07/2014
Beiträge: 8


Standard Herr Rüdiger ...

Brillant! Hat mir unglaublich gut gefallen. Es ist so lebensnah. Einfach gut nachvollzogen. Bitte mehr davon.
Beste Grüße
IDee
IDee ist offline   Mit Zitat antworten
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Lesezeichen für Herr Rüdigers Blick aus dem Dritten Stock

Stichworte
alter, demenz

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