Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 07.01.2011, 21:36   #1
Mephistopheles
 
Dabei seit: 04/2009
Alter: 32
Beiträge: 42


Standard Beim Arzt

Beim Arzt

„Ihr Gehirn wird gleich einen kleinen Pieks registrieren.“ warnte der Arzt. Heute hasste ich ihn. Ich wusste noch nicht genau, wieso. Seine ganze Art, seine mechanische Freundlichkeit ging mir mehr auf den Geist als sonst. Ja, ich bemerkte diesen Charakterzug an ihm sogar heute zum ersten mal. Kein noch so kleiner Funken wahrer wirklicher, lebendiger Mitmenschlichkeit war zu spüren.
Und dieser Pieks kam tatsächlich. Dieser Arzt von einem Mensch kann einfach keine Spritzen geben! – und dabei bin ich bei solchen Dingen keineswegs zimperlich. Seine ganze hohe akademische Bildung, die ganze Achtung die er bei seinen Kollegen im Umkreis genoss, war sicherlich bewundernswert. Aber sollte ein Arzt nicht auch ein wenig Gefühl in den Fingern haben? Er war allgemein sehr grob, und so konnte ich mir ein kleines „Aw!“ nicht verkneifen, ich weiß nicht ob es einfach so, reflexartig, herauskam, oder ob es eine unbeabsichtigte Äußerung meines Widerwillens gegen diesen Menschen war. So ein kaltblütiger Wissenschaftler, wie er, sah meinen Ausruf des inneren Schmerzes doch sowieso nur als eine verständliche physiologische Reaktion auf seine Handlung! Hauptsache, die Spritze erfüllte ihren Zweck, die unerträglichen Schmerzen in meinem Rücken zu lindern. Ob der Patient durch diese grobe Behandlungsweise verschreckt wurde, das interessierte diesen Arzt hier doch nicht im Geringsten. So etwas war nach seinem Menschen- und Weltverständnis doch gar nicht möglich! Wenn ich heute Abend noch den Hausarzt wechseln werde, dann wird das, für ihn, sicherlich seine rationalen Gründe haben!
Eben im Wartezimmer hörte ich noch, wie zwei Menschen den Herrn Doktor in höchsten Tönen lobten. Was für ein gebildeter Mann er doch war! Wie er zu jedem, wirklich jedem Problem am Menschen eine Lösung wusste! Wie er alles, was am Menschen krank und falsch war, wieder gesund und richtig, wieder funktionstüchtig machen konnte! – Oder in anderen Worten: Wie er versuchte, die im Ganzen zwar harmonische, dabei aber im Individuellen erbarmungslos wirkende Natur zu kontrollieren! – Danach wechselte das Gesprächsthema der beiden Bekannten (man schweigt im Wartezimmer normal, wenn man niemanden kennt), auf die Beschäftigung für den heutigen Abend. Der eine ging zu einer Gesellschaft. Der andere lud eine Gesellschaft zu sich nach Hause ein –
Alles was dieser Mensch heute tat und sagte, er konnte es mir nicht recht machen. Alles konnte in meinem Sinne nun zweideutig interpretiert werden: Als kleine Freundlichkeit, über die man nicht weiter nachdenken soll, oder als unbewusste Äußerung seiner inneren Kaltblütigkeit gegenüber allem Lebendigen. „Sie müssen mehr Sport treiben, mein Lieber! Vor allem Schwimmen ist gesund für den Rücken!“, „Wir kennen uns jetzt schon so lange, Sie sind seit Jahren mein Patient, da darf man doch mal einen etwas persönlicheren Ratschlag geben!“, „Wiederholen Sie jeden Tag diese Übungen, und Ihre Rückenbeschwerden vergehen im Nu!“, „Gehen Sie mit diesem Rezept in die Apotheke, das wird Ihnen sicherlich gut tun!“ Wenn er mich direkt anspricht, mir Befehle erteilt, so spricht er nicht zu mir, sondern zu meinem Körper. Vielleicht noch manchmal zu meinem Gehirn, aber nicht zu mir! Dieser Mann kennt mich nicht, er kennt nur den physischen Zustand meines Körpers.
Mich wunderte es nicht mehr, dass dies der einzige Arzt in der Stadt war, der keine Gemeinschaftspraxis hatte. Die lobenden Worte der Kollegen, die man immer so vernimmt, sind wahrscheinlich auch nur um des Ansehens Willen geheuchelt. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht gekotzt. – Schließlich wusste ich, dass meine Rückenschmerzen psychisch bedingt waren. Andererseits war dieser Mensch eben kein Seelenklempner –
Erst seine Abschiedsworte irritierten mich, ja verwunderten mich! Er wünschte mir einen schönen Freitagabend und ich solle mich, vielleicht bei einem guten Buch oder bei einer Entspannten Zerstreuung, ein wenig erholen, schließlich seien Rückenschmerzen auch oft stressbedingt …
Da war mein Bild von diesem Mann erschüttert. Plötzlich fühlte ich mich unterlegen, und verloren, ja geradezu fremd in einer Welt von lebensfrohen, gebildeten und kontaktfreudigen Menschen (alles, was ich nicht bin!). Ich hatte mir seine Reduktion der Welt auf das Physische nur eingebildet, kritisiert und dabei übersehen, dass ich mich hierbei an diesem lebendigen Menschen selbst versündigte, indem ich ihn auf eine allzu knappe Rolle reduzierte. Ich vergaß, dass der Mensch in der Welt Möglichkeit hat! Er hat Möglichkeit zur Entwickelung, zur Wandlung und zur Sprengung allzu enger Denkmuster, und zwar vor allem im eigenen Handeln. Ich glaubte, der Arzt verkenne mich, und dabei habe ich ihn verkannt. Schaffe ich es, mein Menschenbild neu zu ordnen? –
Am Abend suchte ich nach einem neuen Hausarzt …
Den Rest des Freitags verbrachte ich in Einsamkeit –
Mephistopheles ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Beim Arzt

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche


Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Dr. Spechts beim Teleshopping. Libelle Humorvolles und Verborgenes 0 20.11.2010 02:12
Beim Augenarzt Aporie Düstere Welten und Abgründiges 2 21.05.2010 12:16
Hilfe beim Romananfang! NicoleSchnitzer Theorie und Dichterlatein 7 07.06.2006 14:37
Umstände beim Gewitter Inline Lebensalltag, Natur und Universum 1 21.05.2006 10:37
Einsam beim Turm Monty Schwarz Gefühlte Momente und Emotionen 3 15.03.2006 11:40


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.