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Alt 03.04.2007, 13:47   #1
Mummy
 
Dabei seit: 06/2006
Beiträge: 127


Standard Auf ein Neues

Auf ein Neues


„So viel Farbe habe ich schon seit Ewigkeiten nicht gesehen!“, dachte sie bei sich. Ein
leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie sandfarbiges Puder aus der Tasche holte und geübt auf ihrem fein geschnittenen Gesicht und dem Ansatz ihres Halses verteilte. Wieder schaute sie aus dem Fenster des Zuges und genoss den Anblick der Großstadt, deren Häuser nach und nach zu kleinen Fachwerkhäusern zusammenschrumpften und sich schließlich in den Weiten von goldenen Feldern verloren. Widerwillig löste sie ihren Blick von der vorbei fliegenden Landschaft und holte mit geschmeidigen Bewegungen ein kleines Notebook hervor. Dieses wollte nicht recht zu ihrer eleganten Gestalt passen, die durch den langen dunklen Rock und die weiße, hochgeschlossene Bluse fast altmodisch wirkte. Ihre zierlichen Hände - besonders betont durch die seidenen, schwarzen Handschuhe – flogen über die Tastatur. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Hier konnte sie ohnehin keine Internetverbindung aufbauen; überhaupt kam ihr das Gerät plötzlich unglaublich überflüssig vor. Was könnte sie an ihrem Ziel schon damit anfangen? Seufzend legte sie es wieder weg und strich eine der dunkelbraunen Haarsträhnen hinter das Ohr, die sich aus dem Knoten auf ihrem Hinterkopf gelöst hatte. Schließlich holte sie einen Holzpflock heraus und betrachtete ihn nachdenklich.
Sie hatte zweifellos schon viel erlebt: Durch jeden Kontinent war sie gereist, alle
Länder hatte sie besucht; hatte Menschen kommen und gehen sehen, sich hier und da unter das Volk gemischt und dort gelebt, wo es ihr am besten gefallen hatte. Am einfachsten war es für sie immer in großen Städten, wo sie in der großen Masse untertauchen konnte, wo eine Person mehr oder weniger nicht auffällt. Manchmal schaffte sie es dort, das Leben eines richtigen Menschen zu führen, aber es gelang ihr nur selten. Nicht zu löschen war ihr Durst, zu drängend ihre Rastlosigkeit. Dazu verspürte sie nach all den Jahren wieder einen Schmerz, den sie schon längst zu vergessen geglaubt hatte. All das wollte sie mit dieser Reise beenden. Erneut seufzte sie und sah, wie die untergehende Sonne die Blätter der Bäume draußen rötlich färbte. Würde es jetzt anfangen zu schneien, wäre es genauso, wie an jenem Tag vor vielen, vielen Jahren, an dem sie ihn getroffen hatte. Für einen Moment konnte sie beinahe spüren, wie das Stroh ihren Rücken kitzelte, wie seine kalten Hände Besitz ergreifend zwischen ihre Röcke fuhren und wie seine Lippen hungrig über ihren Hals glitten.
Eine Ansage des Zugführers riss sie aus ihren Gedanken. „Sehr geehrte Damen und
Herren, in wenigen Minuten erreichen wir die Endstation. Wir bitten alle Fahrgäste, auszusteigen.“ Schnell packte sie ihre wenigen Gepäckstücke zusammen und ging in Richtung Ausgang. Der Zug hielt an. „Sehr geehrte Damen und Herren, bitte finden Sie sich in genau 24 Stunden wieder hier ein, um Ihre Rückfahrt anzutreten. Einen angenehmen Aufenthalt im Jahr 1725 wünscht Ihnen Ihr Time-Line-Express-Team.“
Endlich öffneten sich die Türen des Waggons. Als sie ausstieg, flog ihr Blick über die
längst vergessenen Hütten zu einem blassen, jungen Mann, der ungeduldig vor einer Stalltür auf und ab lief. Sie bemerkte kaum, wie die Schneeflocken das Puder verwischten und weiße Flecken auf ihrer Haut hinterließen. Der Zeitpunkt war gerade richtig, ihr 600 Jahre jüngeres Ebenbild war noch nicht zu sehen. So fest es ging, umklammerte sie den Holzpflock in ihrer Hand und ging langsam auf ihn zu, um ihn zu töten.
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