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Alt 11.04.2007, 21:59   #1
HansSchnier
 
Dabei seit: 03/2007
Beiträge: 9


Standard In die Strafkolonie

„Hammerteil, oder! 220 PS. Gerade erst gekauft.“
Ich blicke von meinem Buch auf, schaue kurz auf den Verlauf der Autobahn, lasse meinen Blick über den Fahrer Richtung Tacho wandern. 240 Stundenkilometer. 120 sind erlaubt.
Ich bringe ein desinteressiertes „Hm“ hervor und denke: „Hauptsache ankommen.“ Dem Fahrer, dessen Namen ich sofort nach der kurzen Begrüßung vergessen habe, reicht das an Zustimmung.
Mein Augen wenden sich wieder dem Buch zu. Franz Kafka. In der Strafkolonie.
Ich lese den ersten Satz erneut.
>„Es ist ein eigentümlicher Apparat“, sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermaßen bewundernden Blick den ihm doch wohl bekannten Apparat.<
Ich schaffe zwei Absätze. Der Offizier versucht den Reisenden von seiner Exekutionsmaschine zu überzeugen – dann dreht der Fahrer die Anlage auf.
„Super Sound, oder! Habe ich direkt einbauen lassen. Genau wie die Felgen. Haste die eben gesehen?“, schreit er mir gegen den Lärm der Musik entgegen.
Ich variiere mein „Hm“ und versehe es diesmal mit einem Fragezeichen. Anders als das erste „Hm“ reicht ihm dieser fragende Laut nicht.
„Musste echt gleich drauf achten, wenn wir tanken. Sieht aus wie bei nem Formel-1-Wagen.“
Ich greife auf mein erstes „Hm“ zurück und erreiche mein Ziel, den Namenlosen im Fahrersitz befriedigt zum Schweigen zu bringen.
Ich schaffe drei Seiten in meinem Buch. Über Kafkas groteske Tötungsmaschine vergesse ich sogar den Fahrer. Der Offizier hält dem Reisenden gerade den Schriftzug vor die Nase, der dem Verurteilten zwölf Stunden Lang in den Leib geschrieben wird, bevor die unzähligen Nadeln ihr Opfer töten.
>„Lesen Sie“, sagte der Offizier. „Ich kann nicht“, sagte der Reisende.<
„Guck mal der Ahrweiler“, sagt der Fahrer. „Hm?“, frage ich und schrecke aus meiner Lektüre auf.
„Der Ahrweiler“, er nickt mit dem Kopf in Richtung des roten Kleinwagens vor uns. Das Nummernschild beginnt mit dem Kürzel AW- ich verstehe: Ahrweiler.
„Seit fünf Minuten blockiert die Gurke die linke Spur.“
Der Motor heult kurz auf, die Tachonadel macht einen Satz nach rechts. „Dem zeig ich’s“, sagt der Fahrer und fährt nach rechts versetzt auf den „Ahrweiler“ auf.
Der Kleinwagen nimmt reiß aus und wechselt auf die Mittelspur. Die Heckleuchten hinterlassen für den Moment eines Augenschlages einen roten Lichtstreif, der in der Lichthupe des namenlosen Fahrers versinkt.
Der Verurteilte, der bisher teilnahmslos neben der Tötungsmaschine rumlungerte, wird entkleidet und vom Offizier auf der Foltermaschine befestigt, während Lichthupe, Motorheulen und Auffahren die linke Spur von all jenen befreien, die dort zu unrecht ins Wochenende fahren.
Der Kafka-Offizier zieht den Reisenden unterdessen ins Vertrauen, er solle ihm gegenüber dem Kommandanten helfen. Der verblendete Offizier glaubt an die Maschine, glaubt an ihr Urteil und glaubt an sich.
„Fährst du öfter mit der Mitfahrgelegenheit“, fragt der Fahrer von links.
Ich mühe mir ein verneinendes „HmHm“ ab und scheine damit dummerweise seinen Ehrgeiz anzuheizen.
„Ja, fahren echt ne Menge Gurken die Strecke. Haste echt Glück gehabt, dass du bei mir gelandet bist. Bei anderen biste locker zwei Stunden länger unterwegs.“
Zum Beweis jagt er einen Kombi und einen Westerwälder von der Strecke – zumindest glaube ich, dass WW für Westerwald steht.
Kafkas Reisender ist peinlich berührt, versagt seinem Gegenüber die so sehnlichst erhoffte Zustimmung gegenüber der Grausamkeit der Tötungsmaschine, und ich mische mein „Hm“ mit einem skeptischen Seufzen in Richtung Fahrer.
Der Offizier befreit den Verurteilten, justiert die Maschine aufs Neue und legt sich hinein. „Sei gerecht“ soll sie ihm in den Leib schreiben – Gerechtigkeit ist für ihn der Tod in der Maschine.
„Du bist nicht so der Autokenner, oder!“, tönt es überraschend aggressiv von links.
Geräuschvoll stoße ich Luft zwischen meinen Lippen hervor, und zucke mit den Achseln.
„Gefällt Dir nicht, wie ich fahre. Oder was?“, sagt er während ich uns bereits im Heck des Passats vor uns sehe – doch der Passat entkommt knapp.
Die Tötungsmaschine vollrichtet ihr Werk auf dem Körper des Offiziers. Plötzlich springen Zahnräder heraus, die Nadeln reißen unkontrolliert Wunden ins Fleisch.
„Es raucht“, sage ich dem Fahrer, der damit beschäftigt war, mich grimmig zu mustern. Seine Antwort geht in einem Knall unter. Schwarze Rauchschwaden dampfen aus der Motorhaube empor. Wir kommen auf dem Seitenstreifen zu stehen.
Während wir auf den Abschleppdienst warten, der den Wagen in eine Werkstatt und mich zur nächsten Rasstätte bringt, vermischen sich das Fluchen des Fahrers, das stetige immer neu ansetzende Wuuusch der vorbeirasenden Wagen und der Tod des Offiziers zu einer untrennbaren Maße.
Der Reisende flüchtet auf das nächste Boot, das ihn aus der Kolonie schafft, mich nimmt eine Kleinwagen-Ahrweilerin den Rest des Weges mit.
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