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Alt 18.12.2023, 12:43   #1
männlich Pe-Be
 
Dabei seit: 12/2023
Beiträge: 31


Standard Noch mehr Wüste

Kismet


Das rhythmische Knacken eines abkühlenden Motors und träges Plätschern von auslaufendem Öl waren die einzige Störung einer sonst makellosen Stille. Eine schmierige, ockerfarbene Spur führte zum zerschrammten Grat eines noch immer halb im Sand verborgenen Steines. Die Schrammen stammten von der Begegnung mit der Ölwanne des kleinen Transporters dessen Lebenssaft jetzt in den Sand floss. Von Missgeschicken wie diesem zeugen neben den großen Pisten der Sahara viele Autowracks, ausgeschlachtet, verbeult und oft fast vom Sand begraben. Dieser alte Peugeot würde hier allerdings ganz alleine bleiben, allmählich seine blassblaue Farbe verlieren, blank und dünn geschliffen werden von künftigen Sandstürmen. Auf einer längst verlassenen Piste verunglückte niemand, weil hier niemand fuhr. Die kleine Siedlung zu der sie einmal führte, hatte sich der Wüstensand geholt. Allerdings war es für den Fahrer dieses Wagens keine unlösbare Aufgabe gewesen, dem verschütteten Brunnen etwas Wasser abzuringen und ein kleines Gebäude vom Sand zu befreien. Sogar einige Palmen hatten dank der Pflege des Einsiedlers überlebt. Sie bedankten sich mit Schatten und süßen Datteln.
Der heftige Schlag und das hässliche Geräusch, mit dem Stein und Ölwanne aufeinander getroffen waren, schlossen einen glimpflichen Ausgang praktisch aus. Der Fahrer hatte den Motor abgestellt und roch das heiße Öl schon als er aus dem Wagen stieg. Mit schräg gelegtem Kopf sah er eine zeitlang zu, wie es schwärzlich in den Sand troff, dann warf er einen flüchtigen Blick auf seine Wasservorräte. Er wusste, dass er nur einen kleinen Vorrat mitgenommen hatte, weil er damit gerechnet hatte, seine winzige Oase in einem einzigen langen Tag zu erreichen. Das Wasser welches sein Brunnen noch hergab, sammelte er in einer kleinen Grotte, dort war es kühl, und er liebte den leicht salzigen Geschmack. Der übrige Reiseproviant lag auf dem staubigen Beifahrersitz. Ein weißes Tuch über einem aus Schilf geflochtenen Korb schützte etwas Brot, Zwiebeln, in Blätter verpackten Ziegenkäse, ein paar Hände voll Datteln, und zwei Orangen vor dem allgegenwärtigen Sand.
Wegen der Verwehungen und der darunter verborgenen Steine, war die Fahrt auf dieser nur noch von ihm selbst genutzten Piste zeitraubend, nie aber hatte der erfahrene Mann sie als sonderlich riskant empfunden. Steine die einem Auto gefährlich werden konnten, waren groß genug, sie auch unter einer Sandschicht rechtzeitig zu erkennen. Andererseits können auch solche Dinge schief gehen, die zuvor tausend Mal gut gegangen waren. Indem er einem verdächtigen Hindernis ausgewichen war, hatte er einen anderen, ungewöhnlich scharfkantigen Brocken genau zwischen die Räder genommen.
Der Mann blickte nach der fast senkrecht stehenden Sonne, nahm ein handgewebtes helles Tuch aus dem Wagen und wickelte es sich nach Beduinenart um den Kopf.
Sich mit dem verbliebenen Wasser zu Fuß auf den Weg zu machen war sinnlos. Für welche Richtung er sich auch entscheiden würde, er würde weder seine noch irgendeine andere Oase erreichen.
Aus einer solchen, also aus ‚irgendeiner’ Oase, war er am Morgen aufgebrochen. Er lebte davon, entlegene Oasen zu besuchen, und mit deren Bewohnern Messer, Äxte, Pumpen, Ersatzteile und allerlei technisches Gerät gegen Webstoffe und traditionelle Handwerkskunst zu tauschen. Irgendwann hatte er den Leuten geraten, stark abgenutztes hölzernes Küchengerät, schwarz verkohlte irdene Kochtöpfe denen ein Henkel fehlte oder der Deckel, oder unnütze, rostige Flinten, ein paar Wochen in der Nähe eines Brunnens zu vergraben, damit alles noch viel älter aussah als es ohnehin schon war. Touristen hatten sich um seine ‚Ausgrabungen’ gerissen. Er hatte Geld verdient, das er nicht brauchte und die Oasenbewohner großzügig beteiligt. Dem einen oder anderen hatte er sogar zu einer Augenoperation verholfen. Der feine Sand und das gleißende Licht taten menschlichen Augen nicht gut, und es gab unter den Wüstenbewohnern auffällig viele Augenkrankheiten.
Zum Beispiel war Achmed, ein noch junger Familienvater, fast blind mit ihm in die Hauptstadt gefahren und sehend zurückgekommen. Im Laufe von mehr als fünfzehn Jahren war der wortkarge Handelsmann für viele der verstreut lebenden Wüstenbewohner zu einem ‚homme de confiance’, geworden, einem Menschen dem man vertraute. Obwohl er kein Moslem war und obendrein Europäer, begegnete man ihm mit Respekt und nicht selten auch mit Zuneigung.
„Er liebt die Wüste“, hatte Achmed seinen Leuten erzählt, „aber nicht wie wir. Er liebt sie wie eine Frau, er streichelt den Sand, er sagt, er bade mit ihr in der Stille – und im Schlaf spricht er mit ihr!“
Tatsächlich hatte er damit beinahe untertrieben, denn die Wüste war diesem Mann tatsächlich Frau und Familie, auch Freund und Begleiter, genau genommen war sie ihm alles. Seine Geschäfte in der Hauptstadt wickelte er ohne Eile ab, aber wenn seine Ware verkauft und der kleine Lieferwagen wieder beladen war, hielt ihn nichts mehr im Trubel der lebendigen Hafenstadt. Mit Naturgewalt zog es ihn in Stille und Einsamkeit. Wenn der Wind die Pisten mit Sandwolken verdunkelte, hielt er manchmal für Stunden an, um dem leisen Singen und Zirpen zu lauschen, mit dem Sand auf Sand rieb. In mondlosen Nächten verlor er sich träumend im festlichen Glanz der Sterne in ihrer samtschwarzen Unendlichkeit.
Die Grundzüge seiner Geschäftsidee hatte er möglicherweise geerbt. Sein Vater war Handlungsreisender, Vertreter für Schrauben und Nieten, seine Mutter verdiente zusätzliches Geld auf Messen. Über die Familie wachte die Burg Altena, gespielt und gebadet wurde an und in der durch die Stadt fließenden Lenne. Die Burg machte ihre Sache schlecht und als unübersehbar wurde, dass der Junge die für ihn angelegte Erfolgsleiter trotzig mied, arbeiteten die Eltern noch härter, um die zu schwierige Erziehung ihres Kindes einem Internat zu überlassen. Aber auch unter strenger Kontrolle konnte oder wollte ihr Sohn nicht begreifen, was das Beste für ihn wäre. Bevor noch das Abschlusszeugnis die Eltern tief enttäuschen konnte verschwand er, und weil er unter falschem Namen auf einem Schiff anheuerte, verlor sich seine Spur in Hamburg. Jahrelang fuhr er zur See, schaute sich die Welt an, und je länger er sie sich anschaute, umso weniger gefiel sie ihm.
In einem traditionellen Café mit Blick auf den Hafen von Algier stieß er schließlich auf einen Franzosen, dessen nachdenklicher Aufmerksamkeit er Einzelheiten aus seinem Leben anvertraute. Aus so einem ‚Drecksleben’, so nannte der Franzose die ziellose Herumtreiberei des Deutschen, könne ihn eigentlich nur die Wüste befreien. „Hier“, sagte er, „hier im Gewühl, sind die Lebensgeister frech und selbstherrlich. Heute toben sie mit Dir herum und morgen kennen sie dich nicht mehr. Aber da draußen im Nichts und Nirgendwo, sind sie fügsam und anhänglich. Du wirst erleben, wie sie sich kümmern werden, sogar um einen wie dich - die Lebensgeister.“ Auch ließ der Franzose durchblicken, dass ihm der deutsche Herumtreiber wie gerufen kam. Er wollte seinen kleinen Peugeot-Laster loswerden, um künftig nicht mehr von der Seite einer schwarzäugigen Schönen zu weichen, die mit seinem ersten Kind schwanger war.
Das Risiko des gemeinsamen Auftritts verlockender Worte mit den finanziellen und sonstigen Interessen ihres Urhebers, war dem jungen Deutschen nicht entgangen, er hatte auf seiner Odyssee Lehrgeld bezahlt. Andererseits wollte er diesem Fremden vertrauen, auch weil er meinte, dass am Anfang eines neuen Lebens nicht Zweifel und Misstrauen stehen sollten. Er willigte sogar in eine Abmachung, die Waren, die er mit dem Auto, das den Großteil seiner Ersparnisse gekostet hatte, aus der Wüste mitbringen würde, bei diesem Franzosen abzuliefern, damit der sie zu Geld mache.
Sicher hätten nur wenige Menschen auf den Wert des abschließenden Händedrucks eine Wette gewagt, andererseits kann man nur bei fast aussichtslosen Wetten viel gewinnen. Der Wagen war in Ordnung, der Handel kam in Schwung, und tatsächlich war dieser Franzose, auch nachdem sein zweiter Sohn schon in den Stimmbruch kam, noch immer der einzige Agent des Wüstenfahrers.
Als Freund war ihm der hellblaue Laster gut genug. Er liebte diesen Wagen wie ein Cowboy sein Pferd oder ein Beduine sein Kamel.
Das leise Rinnen des Öls hatte aufgehört.
Der Mann griff durch das geöffnete Seitenfenster und holte aus dem Handschuhfach eine Packung Zigaretten und eine Lupe. Er hielt die Lupe über die Zigarette, bis sie die Sonne als winzigen blau-weiß-heißen Punkt abbildete. Augenblicklich stieg Rauch auf. An Lungenkrebs würde er nicht sterben, das stand jetzt fest. Erst vor ein paar Wochen hatte er seinen sechsundvierzigsten Geburtstag nicht gefeiert. Geburtstage meinte er, waren so überflüssig wie Weihnachten.
Ging er sparsam mit seinem Wasservorrat um, würde er noch zwei, vielleicht drei Tage durchhalten. Tage an denen es heiß sein würde und still. So still wie am Beginn der Schöpfung, noch bevor Vögel in der Luft waren und Ohren sie zu hören. Dazu die wunderbaren Nächte. An den ungestörten Anblick der Sterne gewöhnte er sich so wenig, wie ihn der Ozean je gelangweilt hatte. Hoffentlich war Neumond in seiner letzten Nacht, denn erst wenn der Himmel tiefschwarz war, kamen die Sterne richtig zur Geltung. Jetzt, wo er wusste, wann er sterben musste, wurde er gewahr, dass er nicht nur die Wüste, sondern auch sich und sein Leben lieb gewonnen hatte.
Der Mann lehnte sich, mit dem Rücken gegen seinen Wagen und rauchte. Einzig der Schatten unter seinem Auto würde ihm etwas Schutz bieten vor der glühenden Ungeduld der Sonne. Er schnippte den Zigarettenstummel auf den Boden, nahm eine Schaufel aus seinem Wagen und scharrte gemächlich Sand unter dem Auto hervor, bis eine schattige Mulde entstand, etwa in den Ausmaßen eines bequemen Bettes. Auf der dem Sonnenuntergang zugewandten Seite schippte er den Aushub zu einem Hügel auf, der ihn vor der Nachmittagssonne und vor dem gegen Abend aufkommenden Wind schützen würde. Anschließend schälte er mit den Fingernägeln eine Orange. So süß, so saftig, so aromatisch waren nur die Orangen aus den Oasen. Stück für Stück steckte er sie in den Mund und ließ sie sich auf der Zunge zergehen. Schließlich wusch er sich mit seinem Trinkwasser die Hände und das Gesicht. Dann kroch er unter sein Auto, legte sich auf den Rücken, streckte sich lang aus und streichelte mit den Innenflächen seiner beiden Hände behutsam den Sand.
„Fertig“, flüsterte er.
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Alt 09.02.2024, 23:19   #2
kofski
abgemeldet
 
Dabei seit: 01/2024
Beiträge: 378


Diese Geschichte finde ich sehr spannend und beeindruckend, das liegt an ihrem Aufbau. Die Katastrophe passiert im ersten Satz und die Spannung trägt die spärliche Handlung bis zum letzten. Die Identifikation gelingt sofort, noch bevor "der Fahrer" auftaucht. Der Leser betrachtet den Schaden und ist schon selbst der Protagonist geworden, bevor dieser überhaupt im zweiten Absatz erscheint. Sein Leben ist dann interessant, denn man hofft, das es gerettet wird.
So muss Kurzgeschichte! Yesss!
LG
kofski ist offline   Mit Zitat antworten
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