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Alt 17.12.2023, 19:01   #1
männlich Pe-Be
 
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Standard Wüste

Logbuch: April/Mai 1971 /Pe/Be
Sahara

Keine Angst vorm Schwarzen Mann

Wir hatten es geschafft. Wir hatten Europa hinter uns und auch Marokko. Wir waren in der Wüste. Und die sah aus, wie Wüste auszusehen hat: Gelbbraun. Umso schöner leuchtete das helle Rot der rundlichen Motorhaube vor der Windschutzscheibe unseres Hanomag-Lasters. Wir waren jung, hatten geheiratet und waren vielleicht aus keinem anderen Grund unterwegs, als um herauszufinden, warum.
In den ersten Wochen unserer Reise hatten uns bisweilen noch Erziehung und Herkunft im Griff. Wenn wir früh in einer Stadt erwachten, und durch einen Schlitz im Vorhang aus unserem gemütlichen Bett sahen, wie Menschen mit Aktentaschen ihren Pflichten zustrebten, erschien uns unsere Freiheit wie gestohlen. Die geltenden Regeln bestimmten, dass es Würde nur mit Bürde gab. Wie freudig war unser Erstaunen, als wir herausgefunden hatten, dass ohne Ehrgeiz, Pflicht und hehre Ziele nichts blieb als Erleichterung.
Inzwischen fuhren wir, weil wir fuhren und wir schauten uns die Welt an, weil wir dazu gemacht waren, uns die Welt anzuschauen.
Bevor ich derart einfache Sätze denken konnte, hatte ich mich widerwillig einem Wirtschaftsstudium ausgesetzt. Dessen Theorien lag die Vorstellung von einem Wesen zugrunde, das seine Gottähnlichkeit auslebte, indem es den Hals nie voll kriegte. Die Gelehrten folgerten auf dieser Grundlage, dass Menschsein mit immer mehr, immer besser werde und empfahlen entsprechende Maßnahmen.
Weil gerade ein so befremdliches Diplom der Geschäftswelt Eindruck machte, wurde ich in meiner ersten Anstellung dafür bezahlt, mehr Touristen nach Tunesien zu locken, um ihnen für die Erfüllung unangemessener Ansprüche Geld aus der Tasche zu ziehen.
Mit dem Düsenflugzeug war der Ferntourismus, und mit ihm der ‚Kleine Mann’ nach Nordafrika gekommen. Dem erlaubte der Wechselkurs, sich auf eine ihm wenig dienliche Weise größer und überlegen zu fühlen. Die armen Leute aus den Bergen hatten nicht nur schlechte Arbeit für schlechten Lohn, sondern trugen nicht selten auch noch ihre Würde zu Markte.
Nachts an der Bar, wenn der Alkohol ein paar armselige Wahrheiten ans Licht brachte, konnte jeder sehen, dass so eine ‚Voyage forfait’ ein ebenso leeres Glücksversprechen war wie das meiste andere Käufliche.
Menschen brauchen, um Menschen zu sein, die verlockende Mohrrübe vor der Nase ebenso wenig, wie sie die armen Esel brauchen, um Esel zu sein. Leben genügt sich selbst, überall und vielleicht ganz besonders hier, in dieser Endlosigkeit aus fließenden Formen und angesichts der schieren Unmöglichkeit, sich auf der Suche nach was auch immer, mit Kinkerlitzchen zu verzetteln. Wirklicher Stille zuzuhören und wirkliche Nacht anzuschauen, kann wirklich umwerfend sein.

Wir bewegten uns wie der Wind oder wie die Wolken oder wie der feine Sand, den es in trüben Schleiern über die Piste zog. Da Bewegung eine Richtung braucht, fuhren wir im Großen und Ganzen nach Süden.
Um dabei nicht einfach spurlos zu verschwinden, ist relativ viel Aufwand nötig, Aufwand, der andere Nichtsnutze zu unserer Freude davon abhielt, es uns gleich zu tun. Für die Bewohner der Oasen ist unser bunter Laster ein Fremdkörper. Verschwände der, würden sie es kaum bemerken, und bemerkten sie es, würden sie es nicht bedauern.
Genau genommen waren wir längst verschwunden. Niemand wusste, wo wir waren, und ‚niemand’ schloss uns selber weitgehend ein.
Eigentlich gibt es eine Vorschrift, die Wüste nur im Konvoi zu befahren, aber wir hatten Sprachschwierigkeiten vorgetäuscht. ‚No risk no fun’ hätten wir damals unser Konzept zusammengefasst. Die folgende Begebenheit sei zum besseren Verständnis angefügt.
Vor ein paar Tage näherte sich uns am Rande einer Oase ein rot und weiß lackierter Mercedes-Omnibus. Er zog einen dunkelroten Anhänger, höher und länger als er selbst. Der Anhänger war offenbar zweistöckig und hatte im oberen Stockwerk eine lange Reihe kleiner Fenster. Unten stand in weißer Schrift ‚Rotel-Tours’. Dass ein derart seltsames Gespann nicht wüstentauglich war, bestätigte ein Unimog, der für den Fall der Fälle in kurzem Abstand folgte.
Bus, Hänger und Unimog nutzten den festgefahrenen Sand, der auch uns gelockt hatte und hielten in einer Entfernung von vielleicht zwanzig Metern. Grauhaarige Menschen verließen den Bus, am Anhänger wurden Klappen und Türen geöffnet und bald roch es nach Kaffee und Gebratenem. Man sprach Deutsch. Wir begegneten und bestaunten einander, Hände und Köpfe wurden geschüttelt, dann gab es schon wieder Kaffee, und wir erzählten einander von unseren Abenteuern. Das dauerte. Die Sonne sank, es wurde kühl, die Rentnerschar bestieg den Anhänger, und ein jeder kroch in seine winzige Koje. Wir lagen nach unserer Gewohnheit noch ein Weilchen auf dem Dach unseres Lasters und sahen den Sternen beim Funkeln zu. Da plötzlich wurde die Stille von nie gehörten Tierlauten brutal zerrissen.
Unsere Nachbarn hatten ihre kleinen Fenster geöffnet und schnarchten.
Das Ausmaß, in dem wir uns an absolute Stille gewöhnt hatten, bestimmte den Grad unseres Entsetzens. Mitten in der Nacht sprang der Hanomag lärmend an und wir fuhren ein paar Kilometer weiter, um uns schlafen zu legen. Was sollte uns die Wüste, wenn wir sie nicht für uns alleine hatten?

Wir hatten ein paar Karten. Karten geben Auskunft über bekannte Pisten, aber während der Sandstürme im April und Mai, werden die Pisten zugeweht und für die Dauer der Räumungsarbeiten sind ‚Umleitungen’ erforderlich, die hundert und mehr Kilometer betragen können und deren Verlauf praktisch nicht planbar ist. ‚Deviation difficile’ steht auf einem vom Sand entfärbten Schild und ein aufgemalter Pfeil schlägt irgendeine Richtung vor, in der noch ein befahrbarer Weg irgendwohin zu führen scheint.
Die Erfahrung hatte uns gelehrt, dass, wenn man solchen Wegen lange genug folgte, unter Umständen auch tagelang, irgendwann eine Oase am Horizont erschien. Gewicht hatte auch das Argument, dass sich niemand die Mühe macht, eine noch so erbärmliche Piste vom Treibsand freizuhalten, wenn sie nicht zu Menschen führt. Ein ‚Ziel’ im landläufigen Verständnis war eine Oase indessen nicht. Sie ist ein Ort, an dem wir unglaublich aromatische, zarte und saftige Apfelsinen und ein paar besonders süße Datteln essen konnten. Ein Ort, Diesel zu kaufen, Filter zu reinigen, Keilriemen zu kontrollieren und von Zeit zu Zeit die Ölwanne vom Motor zu schrauben, um sicher zu gehen, dass der allgegenwärtige Sand es nicht doch geschafft hat, in das Herz unserer Lebensversicherung vorzudringen. Die Bewohner der Oase würden wir ebenso wenig verstehen wie sie uns. Die ewig schwarz gekleideten Toureg würden uns mit ihrem verschlossenen Argwohn begegnen und unsere verlegenen Freundlichkeiten würden wir fast nur bei Kindern los.
Von den feinen Unterschieden der Lebensweisen in dieser heißen, herrischen Ödnis verstehen wir nichts; kennt man eine Oase, kennt man eigentlich alle. Selbstverständlich ist eine solche Zusammenfassung beschämend und unkultiviert, aber zu mehr reichte es bei uns nicht.
Es ging uns gut.
In der Wüste darüber zu jammern, dass es heiß ist, ist albern.
Wir hatten zu essen, abgelaufene Rationspakete der Bundeswehr, mindestens noch zwanzig Stück. Wir hatten zwei Kanister Wasser. Einen für den Hanomag und einen für uns. Der Dieselmotor arbeitete unauffällig, der Tank war halbvoll, am Heck und auf dem Dach waren zwei Kanister mit je zwanzig Litern Sprit. Wir fuhren zwischen vierzig und fünfzig Kilometer in der Stunde, im Rückspiegel konnte ich die Staubwolke sehen, die wir aufwirbelten.
Wenn wir und das Auto durchhielten, würde irgendwann, heute, morgen, übermorgen, wieder eine Oase kommen, eine, deren Namen wir nicht wissen werden, weil wir arabische Schrift nicht lesen können, und deren Position auf der Karte uns vielleicht ein Einheimischer wies, vielleicht tat er es aber auch nicht oder er zeigte den exotischen Narren irgendetwas, damit sie ihn in Ruhe ließen.
Vielleicht werden wir in einem der Becken baden können, in denen die Oasenbewohner tagsüber Wasser aufwärmen, um am Abend ihr Gemüse zu tränken. Wahrscheinlicher werden wir im Schatten von Dattelpalmen sitzen und zusehen, wie Frauen den in der Nacht in ihre Gärten gewehten Sand in flachen Körben wieder hinausschleppen. Ihre Männer werden ihr Geburtsrecht genießen und irgendwo herumsitzen, Tee trinken, rauchen oder Brettspiele spielen. Käme denen einer mit den Vorzügen westlicher Lebensart, würden sie putzmunter und schlügen ihn tot.
Auf einer Wüstenpiste einfach so vor sich hin zu rollen, ginge nicht lange gut. Auch relativ kleine, unspektakuläre ‚Dünen’, die der Wind quer zur Fahrbahn zusammen geschoben hat, sind selbst bei mäßigem Tempo hart wie Beton. Gebrochene Federn wären ein Problem, das ich lieber nicht hätte.
Meine Frau und ich waren einander gute Gesellschaft.
Manchmal war ich allerdings nicht sicher, ob uns beiden klar genug war, dass unser Leben von einer gefährlich großen Anzahl von Umständen abhing, auf die wir entweder keinen Einfluss oder von denen wir keine Ahnung hatten.
Bevor wir auf diese Reise gingen, hatte ich mir zurechtgelegt, dass älter als dreißig zu werden ohnehin nicht wünschenswert sei. Die Vorstellung, mich freiwillig darauf einzulassen, von einem Wecker aus meinen Träumen gerissen zu werden, um dann den Tag mit Unannehmlichkeiten zu verbringen, damit ich Geld bekäme, Dinge zu kaufen, die, hätte ich sie nicht, mir nicht fehlen würden, fand ich beschämend. Wie beschämend, hatte ich als ‚Assistent de Direction’ in tunesischer Hotellerie, zuständig für unfair gut bezahlten Unsinn, hinreichend erfahren.
Ich sah ein Leben vor mir, in dem wir so unglücklich werden würden wie unsere Eltern, eingesperrt und eingespannt wie Hans und Franz. Ein Leben, in dem Frau und Mann einander das Leben mit Vorwürfen vergällten, einander für ihr Unglück verantwortlich machten und womöglich auch noch Kinder hatten, denen sie ihre Verzweiflung aufbürdeten.
Durch den Traum, den wir gerade lebten, schien bereits das Erwachen. Ich wusste nur zu gut, dass mir kein überragendes Talent gegeben war, das mich vor den Erniedrigungen ungeliebter Arbeit schützen würde. Ein früher Tod war eine durchaus vernünftige Lösung.
Von der Kraft, mit der sich das Leben um seiner selbst willen zu verteidigen vermochte, wussten wir beide noch wenig; ich jedenfalls zu wenig, um vorauszusehen, dass sie sich von meinem bisschen Vernunft nicht würde aufhalten lassen.
Die Asphaltreste der Piste waren unter dem Sand kaum mehr zu erkennen. Wir fuhren langsamer, wichen Dünen und tieferen Löchern aus. Ich hatte noch kein wirklich scharfes Auge für die feineren Unterschiede in der Qualität des Sandes. Die Wüstenbewohner wussten vermutlich um die Bedeutung verhältnismäßig unauffälliger Farbnuancen. Vor uns lag eine sandige Besonderheit, groß wie ein kleiner See, an dessen gegenüberliegendem ‚Ufer’ der Asphalt der Piste wieder auftauchte. Sand eben, dachte ich.
Gleich darauf versanken viereinhalb Tonnen Auto bis zu den Achsen.
Wir steckten mit allen vier Rädern fest. Brandgeruch bestätigte, dass wir uns nicht selbst würden befreien können, er kam von der vergeblich gequälten Kupplung. Seit Tagen war uns kein anderes Auto begegnet. Die Idee von den Vorzügen eines frühen Todes nahm Gestalt an.

Eigentlich hätte ich mir denken können, dass es keinen Sinn hatte, die Räder auszugraben. Ich schaufelte vor den versunkenen Zwillingsreifen eine Art Rampe. Bei dem Versuch sie zu nutzen, versank der Wagen noch tiefer.
Ein paar Tage würden wir es hier gut aushalten. Irgendwer müsste doch eigentlich die gleiche ‚Umleitung’ nutzen.
Es sei denn, die ausgewiesene Fernroute wäre wieder frei, und ein Landrover der algerischen Polizei wäre gekommen, das Schild mit der ‚Déviation difficile’ aufzuladen, um es vielleicht woanders aufzustellen. Dann hätte niemand einen Grund, unsere schmale, mühsam zu befahrende Piste zu nutzen. Ein paar weitere Tage nur, dann wären wir am Ende.
Wir, und auch unsere beiden Schutzbefohlenen, Safi und Brian. Die beiden jungen Katzen hatten wir vor zwei Wochen aufgelesen. Ihre Mutter war unter ein Auto gekommen, und wir hatten ihnen die Muttermilch durch Büchsenmilch und Leibnitz-Kekse ersetzt. Entschlossen, ihre Chance zu nutzen, nuckelten die beiden an der Injektionsspritze, mit der wir den nahrhaften Brei aufgezogen hatten derart intensiv, dass sie den schwergängigen Kolben mit kleinen Rucken nach unten zogen. ‚Safi’, ist das arabische Wort für ‚Ende’. Der kleine Safi hatte die grauweiße Zeichnung des Felles der toten Mutter geerbt. Die rötlichen Streifen in Brians Fell ähnelten dem Rot der Haare eines bewunderten Lebenskünstlers, der ebenfalls Brian hieß und vielleicht längst in der Wüste verschollen war.
Neugeborene Katzen brauchen so lange echte Katzenmilch, bis sie eine eigene Immunabwehr gebildet haben. Safi und Brian hatten dazu keine Zeit gehabt. Dass sie, obwohl noch quicklebendig, bald sterben würden, war unvermeidlich. Aber vor dem Sterben lebten sie nicht schlecht – und das verband unser Leben mit dem Ihren.
Sie waren dank der Kekse und der Büchsenmilch ordentlich gewachsen, machten sich nichts aus der misslichen Lage, sondern rollten und balgten sich vergnügt an ihrem Fensterplatz.
Ohne unseren Dieselmotor war das einzige Geräusch ein kaum wahrnehmbares Winseln, das der vom Wind bewegte Sand erzeugte, indem er sich gegen den liegen gebliebenen Sand rieb. Auf unserer Seite: Kein Heulen, kein Zähneklappern. Nichts was man als Verzweiflung hätte deuten können, selbst Fatalismus schien zunächst noch ein zu großes Wort.
Wir warteten.
Vom Dach unseres Autos suchte ich mit einem Fernglas den Horizont ab. Sand hinter Sand, hinter Sand. Später tauchte, vielleicht einen Kilometer oder etwas mehr entfernt, ein Mensch auf. Er war schwarz gekleidet, und ich sah ihn auf einer hohen Düne sitzen und ebenfalls warten.
Touareg würden uns nicht helfen. Allenfalls würden sie abwarten, bis wir uns nicht mehr rührten und dann - vielleicht - kommen um nachzusehen, ob irgendetwas, das wir hinterlassen hatten, brauchbar für sie war. Warteten wir also gemeinsam.
Die Sonne stand schon tief, versah die strömenden Formen der Wüste mit frischem Orange und rasch wachsenden schwarzen Schatten. Es lohnte nicht mehr zu warten. Nachts fährt niemand auf solchen Wegen. Die unendliche Tiefe des samtschwarzen Himmels, seine funkelnde Reglosigkeit, klärte unsere Gedanken. Was immer geschah, schien auf eine großartige Weise in Ordnung. Fatalismus ist mehr, als einfach nur aufzugeben,
Zum Frühstück am anderen Morgen gab es englischen Tee zu Bundeswehrschwarzbrot und Dosenleberwurst. Morgens ist es auf dem Dach noch frisch und mit dem Fernglas kann man in der klaren Luft weit sehen. Der schwarze Mann war nicht mehr da. Niemand war da.
Mir gingen Pläne durch den Kopf, wie man in der Wüste Urin in Kondenswasser verwandelt - zur appetitlichen Wiederverwendung.
Weil es zu heiß geworden war, hatte ich meinen Posten auf dem Dach aufgegeben. Deshalb waren es die Ohren, welche die ersten Signale auffingen. Das eilig wieder eingesetzte Fernglas fand einen grünen Omnibus, der vor seiner Staubwolke um Dünen und Schlaglöcher kurvte. Es war ein französisches Fabrikat, ein Veteran mit einem etwas schiefen Lächeln und vielen Schmissen zum Zeichen siegreich überstandener Gefahren. Auffällig war, dass der das gesamte Fahrzeugdach bedeckende Gepäckträger, im Unterschied zu den anderen landesüblichen Bussen, gänzlich unbeladen war. Es war ein besonderer Bus. Er fuhr auf uns zu, ich wollte warnen, winkte, aber der Fahrer tat, als sei ich Luft. Statt zu bremsen schien er sogar extra Schwung zu holen. Der Bus rauschte vorbei und versank gleich darauf auf die gleiche Weise wie unser armer Hanomag, allerdings war er gut dreißig oder vierzig Meter weiter gekommen als wir.
Die Türen gingen auf. Gelassen verließen von Kopf bis Fuß in schneeweiße, flatternde Tücher gehüllte Männer den Bus. Vielleicht waren es Pilger, rein äußerlich hätten es aber auch Engel sein können. Dass sie über ein höheres Wissen verfügten war offenbar, denn sie wussten bereits, was sie in solcher Lage zu tun hatten.
Überall wo etwas an ihrem Bus vorstand, ein Kotflügel, ein Scharnier, ein Spiegel, was auch immer, packten sie den Wagen, sieben oder acht Männer schoben hinten, der Motor drehte hoch, die Räder warfen mit Sand, und keine fünf Minuten später hätte der grüne Bus weiterfahren können. Das tat er aber nicht. Die weißen Gestalten wandten sich um, kamen auf uns zu, sagten gar nichts aber griffen nach allem woran man ziehen oder schieben konnte. Ich sprang in den Wagen startete den Motor und zäh aber unaufhaltsam wühlte sich unser Auto aus seiner selbst gegrabenen Grube auf die feste Straße. Bevor wir uns bedanken konnten, hatte der grüne Bus die guten Geister schon wieder verschluckt und seine Fahrt fortgesetzt. Noch immer ungläubig horchten wir auf den feinen Unterschied zwischen einer Totenstille und einer ganz normalen Stille, an deren Ende der Dieselmotor wieder lief und die Räder wieder rollten.
Zwei oder drei Stunden später erschienen die Silhouetten von Palmen vor uns. Die Apfelsinen waren besonders teuer, aber wir hätten auch noch mehr bezahlt. Dazu gab es köstliche Datteln und frisches Wasser. Bevor ich die Motorhaube öffnete, um mich mit dem Ölstand, dem Luftfilter und dem Keilriemen zu beschäftigen, küsste ich unser Auto auf den linken Kotflügel.
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Alt 17.12.2023, 21:37   #2
weiblich Ilka-Maria
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Lieber Pe-Be,

zu deiner Geschichte erst die guten, dann die weniger guten Anmerkungen:

Zunächst sehe ich bei dir das Potential zum Erzählen. Mit platten Formulierungen gibst du dich nicht zufrieden, vielmehr versuchst du, detailreiche Bilder zu erschaffen und sie mit Atmosphäre zu umgeben. Die Handlung reiht sich schlüssig aneinander, so dass der Leser der geschilderten Reise folgen kann.

Aber dann …

Ich habe die Geschichte – eigentlich ein Reisebericht - angelesen, dann Stichproben gemacht und auf das Ende geschaut. Warum habe ich sie nicht ganz gelesen?

Sie fesselt nicht. Zumindest nicht mich, was natürlich kein allgemein gültiges Kriterium ist. Aber ich kann es begründen: Auf mich wirkt sie klinisch, also kühl und steril. Sie überträgt auf den Leser keinerlei Emotionen. Die Formulierungen wirken oft steif wie Beamtendeutsch, was wahrscheinlich auf die Häufung von Substantiven zurückzuführen ist. Es sind die Verben, die für Handlung und Emotionen stehen und den Leser mitnehmen. Aber dort, wo bei deiner Geschichte Handlung ist, klingt die Umsetzung manchmal ungewollt komisch.

Beispiel:
Wir lagen nach unserer Gewohnheit noch ein Weilchen auf dem Dach unseres Lasters und sahen den Sternen beim Funkeln zu. Da plötzlich wurde die Stille von nie gehörten Tierlauten brutal zerrissen.

Unsere Nachbarn hatten ihre kleinen Fenster geöffnet und schnarchten.

Das Ausmaß, in dem wir uns an absolute Stille gewöhnt hatten, bestimmte den Grad unseres Entsetzens. Mitten in der Nacht sprang der Hanomag lärmend an und wir fuhren ein paar Kilometer weiter, um uns schlafen zu legen.
Den Hinweis auf "Gewohnheit" hätte man einsparen können, von dieser Information hat der Leser nichts. Das "Da …" ist ebenfalls überflüssig. "… ein Weilchen" entspricht wohl auch nicht der wahren Handlung, sondern kann nur geplant gewesen sein, denn alsbald kommen die nie gehörten Tierlaute (grammatikalisch unnötigerweise im Passiv) und in der Folge das Schnarchen der Nachbarn ins Spiel. Das entbehrt wahrlich nicht der Komik, denn ein Narr wäre, der hier nicht unwillkürlich eine Brücke schlüge. Nebenbei gefragt: Woher wissen die Protagonisten, dass es sich um Tierlaute handelt?

Weiter geht es mit der "absoluten Stille", obwohl die Nachbarn bei geöffneten Fenstern geschnarcht hatten; also kann es nicht absolut still gewesen sein. Über den "Grad des Entsetzens" hätte der Leser gerne mehr erfahren als die geheim gehaltenen Messgewohnheiten der Protagonisten. Auch ist merkwürdig, dass der Hanomag offensichtlich von selbst ansprang. Statt dessen hätte der Leser sicher gerne mehr darüber gelesen, wie sich die Protagonisten gefühlt hatten, als sie in Todesangst vor der vermeintlich drohenden Gefahr durch wilde Tiere auf den Boden springen mussten, um in ihr Fahrzeug zu gelangen und zu fliehen, nicht wissend, ob sie sich dadurch einer Attacke aussetzten.

Du solltest in deine Geschichten Emotionen einbringen. Das ist, was einen Leser mitreißt. Zum Beispiel so:
Wir legten uns auf das Dach unseres Lasters, um noch eine Weile den Sternen beim Funkeln zuzusehen. Es war fast Mitternacht und ein Moment der höchsten Entspannung, beinahe der Verschmelzung mit dem Kosmos, der uns zu winken schien - als plötzlich Laute die Stille durchrissen, wie wir sie noch nie gehört hatten und die uns in Panik versetzten. Ein Gebrüll, wie wir es aus den Erzählungen über Löwen zu wissen glaubten, das man angeblich kilometerweit hören kann. Wir schnellten hoch und sprangen vom Dach unseres Lasters auf den sandigen Boden, jeder auf seiner Seite, und rissen die Türen zum Führerhaus auf. Drinnen stieß ich mit zittrigen Fingern den Schlüssel ins Zündschluss und … große Erleichterung, der Hanomag sprang an. Ich gab Gas, und wir preschten davon, Gott weiß, wieviel Kilometer, bis wir uns von unserem Schrecken erholt hatten. ….
So ungefähr. Soll ja nur eine Idee geben, wie man den Leser emotional mitnehmen kann. Es gibt natürlich hundert andere Möglichkeiten, diese Situation zu schildern.

Ich habe den Eindruck, dass du über ein gutes Deutsch und erzählerische Qualitäten verfügst, aber dass es dir noch ein bisschen am Handwerk fehlt. Aber das lässt sich machen.

LG
Ilka
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Alt 18.12.2023, 11:40   #3
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Standard Wüste

Liebe Ilka-Maria!
Aufmerksame und natürlich auch kritische Leser weiß ich zu schätzen und ich danke Dir für Deine Anmerkungen. Tatsächlich ist dies keine 'Geschichte' im engeren Sinne, sondern ein erweiterter Tagebucheintrag (Logbuch) über das Phänomen, angesichts einer extrem bedrohlichen Situation völlig frei von Panik gewesen zu sein. Ist schon Schluss? Auch gut!
Und dann die Freude, dass es doch noch weiter geht. Ich war fast ein Jahr in der Sahara unterwegs und auch die Situation mit den schnarchenden Rentnern im Rotel-Bus ist ungewöhnlich. Stille wird auf einer solchen Reise derart zum bestimmenden Lebensgefühl, dass selbst Schnarchen in einer Entfernug von fünfzig Metern nicht mehr hinehmbar ist. Natürlich war das auch ein bisschen lustig. Jetzt ne richtige Geschichte aus diesem Erlebnisumfeld: 'Kismet'
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Alt 18.12.2023, 11:51   #4
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Zitat:
Zitat von Pe-Be Beitrag anzeigen
... ein erweiterter Tagebucheintrag (Logbuch) über das Phänomen, angesichts einer extrem bedrohlichen Situation völlig frei von Panik gewesen zu sein.
Habe ich öfter gehört, dass manche Menschen in höchster Gefahrt völlig kalt und rational bleiben und das Adrenalin erst später geschossen kommt, wenn man über die Situation nachdenken kann.

Aber was machen Rentner in der Sahara?
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Alt 18.12.2023, 20:23   #5
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Urlaub!
Kennen Sie die 'Rotel Tours'? Gewissermaßen betreute Abenteuerreisen? Quer durch die Sahara, Australien jottwede, cross Canada usw...
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Alt 18.12.2023, 21:55   #6
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Zitat:
Zitat von Pe-Be Beitrag anzeigen
Urlaub!
Kennen Sie die 'Rotel Tours'? Gewissermaßen betreute Abenteuerreisen?
Gütiger Himmel, nein!! Mein Lebensgefährte und ich hatten nie organisierte Reisen unternommen, sondern die Reisen immer selbst geplant. Da kam unterm Strich genug Abenteuer rum, das wurde uns quasi kostenlos draufgesattelt.

Übrigens sind wir im Forum per Du.
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Alt 19.12.2023, 10:26   #7
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Standard Wüste

Ist es möglich, den Beitrag mit dem schwarzen Mann in die Reiseberichte zu verschieben? Ich hatte diese Kategorie übersehen und denke, dass er da eigentlich hingehört.
Im Übrigen: Die Möglichkeit, durch die Wahl des Personalpronomens erwünschte Nähe oder minder vertraute Distanz auszudrücken, ist ein Gestaltungselement, dessen Beseitigung mich mehr schmerzt als das unübersehbare Sterben des Genitivs. Selbst der Otto-Versand duzt mich inzwischen – ist diese Anpassung an den englischen Sprachgebrauch wirklich wünschenswert?
Pe-Be ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.12.2023, 11:52   #8
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Pe-Be Beitrag anzeigen
Selbst der Otto-Versand duzt mich inzwischen – ist diese Anpassung an den englischen Sprachgebrauch wirklich wünschenswert?
Nein, ist es nicht - setzt sich aber mehr und mehr durch. Ich bleibe auch lieber auf Distanz, vor allem war ich im Berufsleben strikt beim "Sie" geblieben, obwohl die meisten Kollegen (vom Boss bis zum Team der Haustechnik) per Du waren. Ich hatte in anderen Firmen zuvor erlebt, wie schnell auf der Du-Ebene die Hemmschwellen überwunden wurden und man jeden Anstand vergaß. Mit den Amis zu vergleichen ist nicht passend, denn bekanntlich bedeutet bei ihnen das "you" sowohl die förmliche wie die lockere Anrede; sie wissen, wie es jeweils gemeint ist, und verhalten sich entsprechend, d.h., Initimität geht nicht automatisch mit dem "you" einher.

In diesem Forum war das "Du" jedoch schon vor meiner Zeit gebräuchlich (ich bin seit knapp 15 Jahren dabei, die meiste Zeit davon als User, die Leitung habe ich erst seit wenigen Jahren). Als einzelner wird man dagegen kaum ankommen, du wirst dich also damit abfinden müssen, per Du adressiert zu werden. Selbstverständlich kann dir aber niemand dreinreden, wenn du deine eigene, förmliche Linie weiterfahren willst.
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Alt 09.02.2024, 10:30   #9
kofski
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"Vor ein paar Tagen"
Hier falle ich ein bisschen aus der Zeit, denn es ist eine Vorvergangenheit. Das Erlebnis mit den schnarchenden Rentnern muss nicht vor ein paar Tagen geschehen sein, man wäre als Leser lieber dabei.
"Touareg"
Dann gibt es weitere Probleme mit Zeitformen, teilweise wird in die Zukunft gesprungen.
Ich würde empfehlen, die Gegenwartsform zu verwenden, dann ist man auch als Leser mehr "drin", insgesamt zu kürzen, das reisende Ehepaar kurz zu beschreiben, das Ziel klarer zu definieren und anzudeuten, dass es Probleme geben wird.
Die Situation, als der Wagen sich im Sand festfährt, könnte einen spannenden Rahmen bilden, um all das andere zu erzählen, am Ende würde die Rettung erfolgen.

Überlegungen zum Sinn des BWL-Studiums stören mich nicht, aber der Begleiter bleibt gesichts- und motivlos. Stattdessen gibt es Gedanken des LI, die in dieser Ausführlichkeit den Fluss des Reiseberichts stören. Der innere Konflikt des LI ist zu banal, um ausgebreitet zu werden.
Die Katzen tauchen zu spät auf, dadurch wirken sie aus der Luft gezaubert. Etwas mehr Chronologie der Geschehnisse wäre wünschenswert.
LG
kofski ist offline   Mit Zitat antworten
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