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Alt 07.10.2009, 08:11   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Schuldlos schuldig

Wie jeden Tag, wenn er zum Dienst eingeteilt war, lenkte Matthias Brandt seinen Linienbus den Cityring entlang und steuerte pünktlich um halbacht auf die Haltestelle „Kastanienallee“ zu. Dort wartete bereits Frau Schuster, die sich jeden Freitag zum Einkaufszentrum fahren ließ, um für das Wochende einzukaufen. Matthias Brandt hielt den Bus an und ließ seine langjährige Kundin mit einem freundlichen Grüßen einsteigen. Dabei behielt er die Ampel an der Kreuzung im Blick, die immer noch auf Grün stand. Mit ein wenig Glück konnte er gleich weiterfahren. Er lag gut in der Zeit.

Kaum waren die Bustüren geschlossen, entfuhr Frau Schuster ein Schrei. Matthias Brandt folgte ihrem Blick zur Straßenkreuzung und sah, wie ein etwa neunjähriges Mädchen mit einem Schulranzen auf dem Rücken auf den Zebrastreifen lief. Ganz offensichtlich wollte es den Bus noch erreichen, um nicht zu spät zur Schule zu kommen, hatte aber entweder übersehen, daß die Fußgängerampel Rot anzeigte, oder aber darauf vertraut, daß die Fahrbahn gerade frei war.

Frau Schuster war die Erste, die den Lastwagen gesehen hatte. Hinter dem Steuer saß ein bärtiger Mann, dessen Gesicht sich vor Schreck verzerrte. Er trat so heftig auf die Bremse, daß sich das Führerhaus in einem Ruck senkte und die Reifen quietschten; gleichzeitig riß er das Steuer nach links, um dem rennenden Kind auszuweichen - doch die tonnenschwere Masse gehorchte ihm nicht. Die linke Seite des Lastwagens erwischte das Mädchen mit einem dumpfen Schlag und schleuderte es einige Meter weit, ehe es auf dem Asphalt aufschlug und reglos liegen blieb.

Der Lastwagenfahrer hatte sein Fahrzeug zum Stehen gebracht und starrte durch die Windschutzscheibe ins Leere. Seine Hände umkrampften das Steuer, er saß wie gelähmt.

„Oh-Gott-oh-Gott!“ schrie Frau Schuster in der Verzweiflung einer Sehenden, die das Unglück nicht hatte verhindern können. Fahrgäste hatten sich erhoben, um durch die Scheiben zur Straßenseite hin besser die Kreuzung überblicken zu können. „Das ist die Yannicka!“ rief ein junger Mann. „Die wohnt bei uns im Haus!“

Matthias Brandt fröstelte es. Hilfe mußte her. Er griff sich das Funkgerät, meldete den Unfall der Polizei, bestellte einen Rettungswagen und gab an seine Zentrale durch, daß sein Bus für unbestimmte Zeit ausfallen werde. Dann stieg er aus und ging zu dem Lastwagen. Er öffnete die Tür und sprach zu dem Fahrer.

Die Fahrgäste waren sich selbst überlassen, aber niemand verließ den Bus, um seinen Weg zu Fuß fortzusetzen. Ihre Augen wanderten hin und her zwischen dem Mädchen – verletzt - tot? – und dem regungslosen Lastwagenfahrer, auf den Matthias Brandt verhalten einredete.

Es schien ewig zu dauern, bis Polizei und Rettungswagen eintrafen. Hoffnung kam auf, als die Sanitäter kein weißes Tuch über das Mädchen breiteten, sondern es nach erster medizinischer Versorgung auf eine Bahre legten und in den Transporter schoben, der mit Sirenengeheul zur Klinik raste.

Der Fahrer des Lastwagens saß noch immer starr und stumm hinter seinem Lenkrad, unfähig, eine Aussage zu machen. Die Polizei hatte über Funk einen Psychologen angefordert. Als er eintraf, wandte sich Matthias Brandt dem Leiter des Unfallkommandos zu und gab den Hergang des Unglücks zu Protokoll. Auch Frau Schuster, die den Unfall am genauesten mitbekommen hatte, wurde vernommen. Der junge Nachbar des Kindes konnte Namen und Adresse der Eltern beisteuern. Ihn schauderte bei dem Gedanken, in der Haut der Person stecken zu müssen, die ihnen die schreckliche Nachricht zu bringen hatte.

Nach einer schlaflosen Nacht, in der Matthias Brandt immer wieder die Bilder des Unfalls an sich vorüberziehen sah, schlug er gleich morgens den Lokalteil der Tageszeitung auf. Ihm wich das Blut aus dem Gesicht, als er las, das Mädchen sei noch in der Nacht seinen schweren Verletzungen erlegen. Und alles nur, weil er mit seinem Bus ausnahmsweise mal pünktlich war. Er fühlte sich schuldig.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.10.2009, 13:42   #2
daktary
abgemeldet
 
Dabei seit: 09/2009
Beiträge: 116


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Zitat:
"Nach einer schlaflosen Nacht, in der Matthias Brandt immer wieder die Bilder des Unfalls an sich vorüberziehen sah, schlug er gleich morgens den Lokalteil der Tageszeitung auf. Ihm wich das Blut aus dem Gesicht, als er las, das Mädchen sei noch in der Nacht seinen schweren Verletzungen erlegen. Und alles nur, weil er mit seinem Bus ausnahmsweise mal pünktlich war. Er fühlte sich schuldig."


Zu der langen, wort-und bildreichen, lebhaften Erzählung erweckt dieser Schlußabsatz - viel zu kurz - den Eindruck, als sei der Autor müde geworden und wolle seine Schreiberei nun schnell hinter sich wissen.
daktary ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.10.2009, 17:39   #3
Fascaritas
 
Dabei seit: 10/2009
Alter: 33
Beiträge: 3


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Interessant geschrieben.

Wenn ein Lastauto ein Kind anfährt, würden nicht die Leute alle aus dem Bus aussteigen um erste Hilfe zu leisten bzw. um den Versuch zu unternehmen?
Fascaritas ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.10.2009, 19:05   #4
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.103


Lieber Fascaritas,

Zitat:
Wenn ein Lastauto ein Kind anfährt, würden nicht die Leute alle aus dem Bus aussteigen um erste Hilfe zu leisten bzw. um den Versuch zu unternehmen?
die Frage ist berechtigt, und man könnte sie auch hinsichtlich anderer Verkehrsteilnehmer (Autofahrer, Fußgänger usw.) stellen. Ich wollte mich aber auf die Perspektive des Busfahrers beschränken, damit es eine kurze Geschichte bleibt. Bei Einbeziehung mehrerer Personen hätte ich immer wieder die Perspektive wechseln müssen, und da wäre wahrscheinlich ein Roman dabei rausgekommen - wofür das Thema allerdings nicht gereicht hätte.

Abgesehen davon halten sich die Menschen meistens zurück, wenn einer bereits in die Leitfigur geschlüpft ist. Sie wollen gaffen, aber nichts direkt mit schrecklichen Wahrheiten zu tun haben. Und wer hier zu handeln hatte, war der Busfahrer, weil er über die Technik verfügte und sicherlich auf alle möglichen Fälle im Straßenverkehr geschult war.

Ich habe selbst einmal einen Unfall auf der Autobahn gehabt, bei dem ich mein Auto auf der linken Spur sachte auf die Seite gelegt hatte - Zeitlupentempo, das muß mir erst mal einer nachmachen. Auf der rechten Spur hielt ein Reisebus. Da ist niemand ausgestiegen, um zu helfen. Die standen alle auf der einen, mir zugewandten Seite und glotzten ziemlich erschrocken. Es waren zwei Autofahrer, die hinter mir anhielten und halfen, mein Auto wieder auf die Räder zu hieven.

Nebenbei bemerkt: Die Geschichte ist aus einer Übung entstanden, bei der es darum ging, sie aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen, d.h., ich habe unterschiedliche Versionen geschrieben, eine z.B. aus der Sicht von Frau Schuster.

Danke für Deinen Kommentar.

LG
Ilka-M.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.10.2009, 19:05   #5
weiblich Sonja
 
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Ort: In meiner eigenen Welt...
Alter: 33
Beiträge: 1.157


Das er sich schuldig fühlte kann ich verstehen...
Eine wirklich traurige und berührende Geschichte, Ilka-Maria!

Leider passiert sowas heutzutage viel zu häüfig!
Erst am letzten Schultag vor den Herbstferien, für ein Schulbus an der Schule ein Mädchen an.
Sie hat sich zum Glück "nur" den Fus gebrochen...
Sonja ist offline   Mit Zitat antworten
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