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Alt 17.12.2017, 14:24   #1
weiblich DieSilbermöwe
 
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Standard Die Mutprobe - Matze, das Waisenkind, Kapitel 4

Juli 1975

„Machst du's oder machst du's nicht?“
Hugo stand dicht vor Matze und sah ihn an, fast lauernd, wie Matze fand. Wie eine Katze, die ihre Beute ausgespäht hat und nun darauf wartete, den entscheidenden Sprung machen zu können, um sie zu packen und zu fressen, dachte er und schämte sich gleichzeitig für seine Gedanken. Eigentlich war Hugo sein Freund, aber so richtig wusste er immer noch nicht, was er von ihm halten sollte. Vor einem Jahr war er mit seinen Eltern in die gleiche Straße gezogen, nur ein paar Häuser weiter und hatte sich ziemlich schnell einen schlechten Ruf erworben. Es wurde gemunkelt, dass er schon einige Male in Schlägereien und Diebstähle verwickelt gewesen sein sollte, aber wenn man mal nachfragte, konnte nie jemand etwas Genaues dazu sagen. Sogar Matzes Vater, der nicht viel von Hugo hielt, konnte nicht genau begründen, warum er ihn ablehnte. Einmal hatte er zu Matze gesagt, dass er sich von „diesem Lümmel“ fernhalten sollte, weil er „kein guter Umgang für ihn“ sei und auf Matzes Fragen, was Hugo denn eigentlich verbrochen hätte, keine befriedigende Antwort gegeben, sondern ihn nur angefahren: „Glaub mir einfach! Der landet garantiert irgendwann im Knast. Und da willst du doch sicher nicht auch hin?“ Daraufhin hatte Matze nur den Kopf geschüttelt und keine weiteren Fragen mehr gestellt. Aber Hugo, der mit seinen siebzehn Jahren zwei Jahre älter war als er, übte eine eigenartige Faszination auf ihn aus. Er wusste nicht, was Hugo eigentlich arbeitete oder ob er überhaupt etwas arbeitete. Seine Eltern sah man nur sehr selten und niemand von den Erwachsenen wollte Kontakt mit ihnen. Manchmal tauchte Hugo einfach an den Treffpunkten in der Stadt auf, wo mehrere Jugendliche manchmal nachmittags und abends herumlungerten, wenn sie nicht wussten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten. Dann zog er nach kurzer Zeit alle in seinen Bann, riss das Wort an sich und alle hörten ihm andächtig zu. Und dann war er wieder zwei oder drei Wochen von der Bildfläche verschwunden. War er wieder da, redete er nie darüber, was er während dieser Zeit gemacht hatte. Niemand stellte ihm Fragen und wenn Hugo etwas forderte, gehorchten ihm alle aufs Wort. Aber was er jetzt von ihm wollte, behagte Matze gar nicht.
Sie standen in der Nähe des kleinen Lebensmittelgeschäftes, in dem seine Mutter immer einkaufte. Schon alleine das war ein Grund, nicht das zu tun, was Hugo verlangte, aber Matze wusste, dass dies als Ausrede nicht ziehen würde. Hugo würde ihn höchstens ein Muttersöhnchen nennen und auslachen. Angestrengt überlegte er, wie er aus dieser Situation wieder herauskommen könnte.
„Du machst es nicht, was? Feigling!“ Hugo lachte spöttisch.
„Ich bin kein Feigling!“ Matze hob den Kopf und straffte seine Schultern. Er war zwar nicht gerade groß, erreichte mit seinen 15 Jahren mal gerade 1 m 70, aber mit seinem feuerroten Haarschopf und der drahtigen Figur war er trotzdem eine auffällige Erscheinung und er wusste, dass er größer wirkte, wenn er sich um eine aufrechte Körperhaltung bemühte. Auf Hugo machte dies allerdings nicht den geringsten Eindruck.
„Karl und Johannes haben es auch gemacht“, sagte er in einem überlegenen Tonfall. „Karl hat es natürlich nur zu einer Tafel Schokolade gebracht, aber Johannes hat mächtig abgeräumt. Sogar ich hab gestaunt, was der da alles unter seinem Pullover rausgeschüttelt hat.“ Er grinste.
„Pullover! Das war ja wohl im Winter. Bei 28 Grad kann ich wohl kaum im Pullover rumlaufen.“
„So viel klauen wie Johannes musst du ja nicht. Den übertrifft sowieso keiner. Dann mach's wie Karl und klau halt nur Schokolade.“
„Und wenn ich gar nichts klauen will?“
„Also doch, du bist ein Feigling. Ich hab es ja gleich gewusst.“ Hugo schnaubte verächtlich.
„Dann brauchst du dich bei mir übrigens auch nicht mehr blicken zu lassen. Ich werd den anderen sagen, dass du nicht mehr dazugehörst. Willst du das?“ Hugo schaute Matze herausfordernd an und Matze schüttelte unwillkürlich den Kopf.
„Ist doch nur eine kleine Mutprobe, du Angsthase“, sagte Hugo jetzt in versöhnlicherem Ton. „Alle anderen haben es auch gemacht.“
„Und keiner ist erwischt worden?“
„Bis auf Michael. Aber der ist ja dann sowieso weggezogen. Sein Alter hat wohl ganz schön Palaver gemacht.“
„Ich weiß nicht, was mein Alter mit mir machen wird, wenn das rauskommt.“ Matze wurde es bei dem Gedanken, was Herbert dazu sagen würde, wenn diese „Mutprobe“ jemals herauskam, fast übel. Zwar hatte sein Vater ihn noch nie geschlagen, aber von einem liebevollen Umgang konnte keine Rede sein. Wenn Herbert mit ihm redete, dann ging es meist um Verbote und Kritik darüber, wie Matze sich verhalten hatte. Herbert missfiel einiges: Matzes angeblich zu schlechte Noten, sein Umgang (wie Hugo) und irgend etwas recht machen konnte Matze ihm sowieso nie. Seine Mutter dagegen nahm ihn oft vor seinem Vater in Schutz und steckte ihm ab und zu heimlich Taschengeld zu, wovon Herbert gar nichts ahnte. Aber genau deswegen würde sie erst recht enttäuscht von ihm sein, wenn er wirklich etwas klaute, selbst wenn es nur eine Tafel Schokolade war. Matze hörte fast schon Brigittes Stimme: „Ich hab dir doch Geld gegeben, warum hast du die Schokolade nicht bezahlt?“ Und was sollte er darauf schon entgegnen?

„Du sollst es ja auch so machen, dass nix rauskommt, Blödmann.“ Hugo steckte die Hände in die Hosentaschen und grinste Matze an.
„Also gut, ich mach's“, sagte Matze entschlossen. Ihm war eine Lösung eingefallen. Er würde einfach eine Tafel Schokolade in einem anderen Laden vor dieser Mutprobe kaufen, sie unter seinem T-Shirt verstecken, damit in diesen Laden gehen, dort nichts kaufen und anschließend, wenn er aus dem Laden herauskam, die woanders gekaufte Schokolade Hugo als „geklaut“ präsentieren. Es blieb nur zu hoffen, dass Hugo auch darauf reinfiel.
„Na, dann los!“ Hugo gab ihm einen Schubs.
„Was, jetzt?“
„Natürlich jetzt, wann denn sonst? Bis Weihnachten wollte ich nicht warten.“
„Ich dachte, morgen wäre besser, da ist Samstag, da ist bestimmt mehr Betrieb in dem Laden und es fällt nicht so leicht auf.“
„Pah, so ein Quatsch. Wenn du es kannst, dann kannst du es. Ich habe keine Lust, bis morgen zu warten, los jetzt!“ Nun war Hugos Tonfall energisch, und Matze wusste, dass er nun in der Falle saß. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, außer im letzten Moment auf ein Wunder zu hoffen. Er schlich die wenigen Treppenstufen zum Laden hinauf, als würde dort oben sein Henker auf ihn warten, drehte sich noch einmal zu Hugo um, der ein breites Grinsen im Gesicht trug und ihn nicht aus den Augen ließ und betrat dann das Geschäft. Die Türglocke bimmelte. Die Ladeninhaberin, eine kleine pummelige Frau, stand hinter der Kasse und hatte wohl nichts weiter zu tun als ihre lackierten Fingernägel zu betrachten. Umso schlimmer, sie würde wie ein Luchs aufpassen, ob Matze nicht etwas einsteckte. Der große Spiegel am Ende des Ganges war ihm schon oft aufgefallen, sicher konnte sie ihn darin sehen. Er musste irgendwie einen toten Winkel ausfindig machen.
„Guten Tag.“
„Tag.“ Die Ladeninhaberin betrachtete ihn nicht weiter, sie öffnete eine Rolle Groschen und schüttelte diese in ein Fach in die geöffnete Kasse hinein. Matze beeilte sich, weiter zu gehen, kam an Mehl, Zucker, Dosenmilch, Joghurt, Brot und anderen Lebensmitteln vorbei und blieb schließlich vor den Süßwaren stehen. Als er bemerkte, dass die Bonbons oberhalb der Schokolade lagerten, kam er auf eine Idee. Er bückte sich, machte eine ausladende Handbewegung und warf dann mit einem Mal und einigem Scheppern einige Tüten Bonbons auf den Boden. Als die Ladeninhaberin das hörte, sah sie von ihrer Beschäftigung, abgezähltes Kleingeld in die Kasse zu schütten, auf. „Was hast du denn da angestellt?“
„Nix, Entschuldigung, ich hebe es auf.“ Matze ging in die Hocke, griff mit der rechten Hand nach den Bonbontüten und mit der linken Hand blitzschnell nach einer Tafel Schokolade, die er im Bruchteil einer Sekunde tief unter seinen Hosenbund schob und von da aus in seine Unterhose beförderte. Er hatte kaum die linke Hand wieder aus der Hose herausgezogen, als die Ladeninhaberin angeschossen kam. „Kannst du nicht aufpassen!“ herrschte sie ihn ungnädig an, „immer dasselbe mit euch Lausbuben mittags! Habt nix zu tun, lungert hier rum und macht mir dann auch noch alles durcheinander!“
„Tut mir leid, ich räume es ja auf.“
„Lass das bloß bleiben, ich mach das selber.“ Mit grimmigem Gesicht ging sie nun selbst in die Hocke, um die Bonbontüten aufzuheben. Matze stand auf, wobei er Höllenqualen ausstand, dass die Schokolade aus der Unterhose und anschließend aus einem Hosenbein herausrutschen und vor ihr auf den Boden fallen würde, aber es passierte nichts. Die Schokolade blieb an Ort und Stelle und Matze ging betont langsam zur Tür.
„Auf Wiedersehen“, sagte er höflich.
„Jaja, nächstes Mal passt du gefälligst auf.“ Die Frau schaute nicht einmal auf.

Draußen angekommen, atmete Matze erleichtert auf. Hugo stand noch da.
„Komm!“ Matze zog ihn am Ärmel und beide bogen um die nächste Straßenecke. Dort holte Matze triumphierend die Schokolade aus seiner Hose heraus und wollte sie Hugo überreichen. Dieser betrachtete sie, ohne sie zu nehmen.
„Wo haste denn die gehabt?“
„Na, in der Unterhose.“
Hugo feixte. „Habe ich mir doch gedacht. Gut gemacht, Alter, aber wenn du glaubst, dass ich die dann noch anfasse ….“ Er grinste. „Die kannst du mal schön selber essen.“
„Mach ich auch.“ Matze riss die Verpackung auf und biss herzhaft in die Schokolade hinein. Er hatte das Gefühl, sich das nun ehrlich verdient zu haben.
Hugo schlug ihm auf die Schulter. „Die Mutprobe hast du bestanden. War doch gar nicht so schwer,
Roter, nee?“
Matze schüttelte den Kopf und strahlte. Wenn Hugo mit ihm zufrieden war, war alles gut. Und an einer geklauten Tafel Schokolade würde die Frau, der der Laden gehörte, sicher nicht pleite gehen.
Er brauchte sich nichts vorzuwerfen. Oder doch?

- Fortsetzung folgt -

Geändert von DieSilbermöwe (17.12.2017 um 18:16 Uhr) Grund: Kleine Textergaenzung am Schluss
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Alt 17.12.2017, 19:36   #2
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Liebe Silbermöwe,

dein Stil wird immer flüssiger, Szenen und Dialoge kommen recht natürlich beim Leser an, und der Konflikt ist gut aufgebau: Matze überlegt, wie er aus der Sache rauskommt, und als er eine Lösung zu haben glaubt, macht ihm Hugo einen Strich durch die Rechnung. Der Leser ist gespannt, wie Matze entscheidet und was ihm dann passiert.

Ein paar stilistische Kleinigkeiten:

Zitat:
Manchmal tauchte Hugo einfach an den Treffpunkten in der Stadt auf, wo mehrere Jugendliche manchmal nachmittags und abends herumlungerten, wenn sie nicht wussten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten. Dann zog er nach kurzer Zeit alle in seinen Bann, riss das Wort an sich und alle hörten ihm andächtig zu. Und dann war er wieder zwei oder drei Wochen von der Bildfläche verschwunden.
Das zweite "manchmal" ist überflüssig, denn mit dem "wenn" wird gesagt, dass sich die Situation nur ergibt, wenn die Jugendlichen nichts anderes zu tun haben. "Schon nach kurzer Zeit ..." hätte das "dann" verzichtbar gemacht, und vor dem nächsten "dann" hätte man das "und" weglassen können.

Störend empfand ich den Absatz, in dem Matze über seinen Vater reflektiert und abwechselnd von "Vater" und "Herbert" die Rede ist. Da aus seiner Perspektive erzählt wird, hätte ich es durchgehend bei "Vater" belassen. Das ist eine der erzählerischen Situationen, wo man den Mut zur Wiederholung haben sollte.

LG
Ilka
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Alt 18.12.2017, 07:45   #3
weiblich DieSilbermöwe
 
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Liebe Ilka,

vielen Dank für deinen Kommentar! Ich freue mich sehr, dass mir der Einstieg, wenn Matze endlich auftaucht, anscheinend gelungen ist.

Zu "seinem Vater" oder "Herbert" bzw. "seine Mutter" oder "Brigitte", wenn er an die beiden denkt: Das habe ich so formuliert, damit der Leser weiß, wer seine Eltern sind (denn das Kapitel, wo sie Matze adoptieren, fehlt ja eigentlich noch).

Bei den anderen Wiederholungen werde ich nächstes Mal mehr aufpassen.

LG DieSilbermöwe
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matze, mutprobe, waisenkind

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