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Alt 17.01.2021, 21:39   #1
männlich Epilog
 
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Standard die strohpuppe

Ich weiß, hier liest niemand 4.300 Wörter am Stück, aber das große Schweigen greift nach mir - macht was ihr wollt damit ...

Liebe Grüße

Epilog

Die Strohpuppe

Eine unheimliche Geschichte aus dem Münsterland

Das morgendliche Licht des Spätsommers war so verlockend gewesen – daran erinnere ich mich jetzt wieder, und immer noch –, dass ich mich heute beim Aufwachen sogar auf meine Arbeit gefreut hatte. Wusste ich doch, dass mir zur Abwechslung mal nicht ein weiterer Tag vor Bildschirmen und Umweltstudien bevorstand. „Es ist ja schon verrückt mit dem Strukturwandel“, hatte mich mein Teamleiter am Vortag angesprochen. „Selbst in den traditionellen Branchen ändert sich nicht mehr Jahr für Jahr, sondern beinahe jede Woche Wesentliches. Nimm doch nur mal diese Wanderbergwerke“, sagte er – wie sollte es auch anders sein, ist es doch eine der zentralen Aufgaben unseres Regionalverbandes, die Verdienste, aber auch die Konsequenzen der Kohleförderung zu analysieren und nach außen darzustellen, die das Ruhrgebiet rund hundertfünfzig Jahre lang geprägt hatte. Obwohl wir alle wissen, dass die ersten Jahre des neuen Jahrtausends auch die letzten des Steinkohlenbergbaus in Deutschland sind, ist es doch faszinierend, sich mit der Anpassung der Technik an sich wandelnde Gegebenheiten zu beschäftigen. Die Suche nach dem schwarzen Gold dringt mittlerweile immer weiter in die Tiefe vor und wandert gleichzeitig nach Norden, aus der dicht besiedelten und stark industrialisierten Emscher-Region in das demgegenüber beinahe menschenleer erscheinende südliche Münsterland. „Bergwerke werden ja bereits seit Längerem nicht mehr als eigene Städte in der Stadt erbaut, um dann hundert Jahre lang an Ort und Stelle zu verbleiben“, hatte mein Chef weiter erzählt, obwohl er wusste, dass ich das natürlich selber weiß. „Heute befördern diagonale Laufbänder die Kohle unterirdisch viele Kilometer weit zur Oberfläche, und sie kommt in weitaus kleineren Anlagen zu Tage, die außerdem flexibel und verblüffend schnell errichtet und auch wieder abgebaut werden können. Prosper-Haniel hat vor kurzem beispielsweise seinen Förderstandort in der Hohen Mark geschlossen.“ Einen Moment hatte mein Teamleiter innegehalten, um dann mit seinem eigentlichen Plan herauszurücken. „Möchtest du dir das nicht morgen einfach mal anschauen? Hier ist nicht viel zu tun, und das Wetter soll ja weiterhin so schön sein. Nimm deine Kamera mit und mach ein paar Fotos von den Einrichtungen, die noch zu sehen sind. Vielleicht können wir unsere Besucher demnächst auch dorthin karren und ihnen das Prinzip der wandernden – und wandlungsfähigen – Bergwerksanlagen am Objekt veranschaulichen.“

So bin ich also jetzt am späten Vormittag in meinem Auto unterwegs nach Norden. Von Essen aus geht es über die Bundesstraße 224 an Bottrop und Gladbeck vorbei nach Marl, wo auch noch riesige Chemieanlagen die Landschaft prägen. Kurz danach trifft dann die Bundesstraße auf die Autobahn A 43, die ich ein kurzes Stück in Richtung Münster fahre. Doch an der Abfahrt Haltern habe ich die Autobahn wieder verlassen und bin auf die B 58 Richtung Wulfen eingebogen. Als ich mich wenig später rechts nach Eppendorf orientiere, wird mir beinahe mit Erschrecken das vollkommen andere Landschaftsbild bewusst: Von Industrie und städtischer Bebauung ist nichts mehr zu sehen, stattdessen wechseln sich weitgehend abgeerntete Weizenfelder mit zunehmend ausgedehnteren Waldflächen ab. Als ich rechterhand den Abzweig zu dem Weiler Holtwick hinter mir gelassen habe, kommen mir auch keine anderen Autos mehr entgegen. Immer dichter stehen die großen Bäume rechts und links der Straße, die mich dennoch laut meinem aktuellen Plan in kürze zu dem stillgelegten Bergwerksstandort führen soll. Nur ab und an dringt noch die helle Mittagssonne durch die Baumkronen, um mich jeweils für einen Augenblick zu blenden. Dazwischen tauche ich in das versöhnlichere Dunkel des Waldes ein – und gleichzeitig mit den Gedanken gewissermaßen in die tieferen Schichten dieser Landschaft, die ich auf unmerkliche Weise klarer zu erkennen meine. Prosper – eigentlich ein seltsamer Name für ein Bergwerk, denke ich, obwohl die Zechen an der Ruhr von Konstantin bis Friedrich dem Großen häufig nach historischen Persönlichkeiten benannt worden waren. Prosper Ludwig von Arenberg, so hatte ich mich schlau gemacht, war ein Reichsfürst, der sich im Jahre 1831 sogar für die soeben neugeschaffene belgische Königskrone beworben hatte – und zur gleichen Zeit zudem Besitzer aller umliegenden Ländereien war. Immerhin fiel der Beginn des Kohleabbaus in seine Ära, während andere, kaum greifbare Gestalten diese Gegend schon geprägt hatten, als an das schwarze Gold noch lange nicht zu denken war. Denn wer an Geschichte – und Geschichten – interessiert ist, wird in diesen Landstrichen auf vielfältige Weise fündig. Ich denke an die Wiedertäufer, die vor rund 500 Jahren in Münster gegen den Kaiser und die Fürstbischöfe aufbegehrten, um das Himmelreich auf Erden zu erschaffen. Nach der Belagerung wurden die toten Körper ihrer hingerichteten Anführer jahrelang in eisernen Käfigen ausgestellt, die noch heute hoch oben am Turm der Lambertikirche sichtbar sind. Dann kommen mir die grausamen Prozesse in den Sinn, bei denen im Vest Recklinghausen noch bis Anfang des 18. Jahrhunderts vermeintliche Hexen angeklagt, gefoltert und dem Tod im Feuer ausgeliefert wurden – vor Jahren habe ich sogar in einem Uni-Seminar davon gehört. Vergnüglicher sind da die Eskapaden des Jägers von Soest, der doch tatsächlich niemand anderes ist als Grimmelshausens Simplicissimus, welcher zu jener Zeit mit seinen Streichen die umliegenden Dörfer und Städtchen aufmischte, als nach 30 unsäglichen Jahren in Münster um den abschließenden Friedensschwur gerungen wurde.

Doch ich merke, dass ich nicht nur in Gedanken abschweife: Jetzt fahre ich schon mehr als zehn Minuten durch den Wald nach Norden, ohne dass mir auch nur ein anderes Fahrzeug begegnet ist, und die Straße senkt sich sanft, doch ohne Zweifel in einem langgezogenen Bogen nach Westen und damit aus meiner Sicht nach links. Ich erinnere mich an meinen letzten Blick auf den entsprechenden Ausschnitt auf der Straßenkarte und erkenne, dass ich schon mehr als fünf Kilometer zu weit gefahren sein muss. Zwar meine ich, aus meinem Augenwinkel auf der linken Straßenseite zwei oder drei Waldwege abzweigen gesehen zu haben, doch sie schienen völlig unbefestigt, und mit Sicherheit war keinerlei Wegweiser zum stillgelegten Schacht des Bergwerks Prosper-Haniel zu sehen gewesen. An einer kleinen Ausbuchtung der Straße halte ich kurz an und vergewissere mich meiner Vermutung, indem ich den Atlas zu Rate ziehe, welcher aufgeschlagen auf dem Beifahrersitz neben mir liegt. Tatsächlich: Der Abzweig zum Wandelbergwerk liegt nur zwei oder drei Kilometer jenseits des kleinen Parkplatzes, der kurz hinter dem Abzweig nach Holtwick in den Waldrand geschlagen worden war. Ich drehe also um, fahre bewusst noch langsamer und achte ganz genau darauf, den ersten – oder letzten – der drei abzweigenden Waldwege nicht zu verpassen. Dies gelingt mir nun tatsächlich, und mit leichtem Zögern, doch auch einer kaum zurückgehaltenen Neugier lasse ich den Wagen auf einen völlig zeitlos wirkenden Fahrweg einbiegen. Mein Auto ist nun wahrlich kein Geländefahrzeug, und es holpert und stolpert über die von unzähligen Schlaglöchern geprägte Spur. Obwohl es somit nur sehr langsam vorwärts geht, sehe ich doch nach weniger als einem Kilometer durch die Baumkronen eine größere Lichtung vor mir aufscheinen, die doch eigentlich nur der Standort dieses eigenartigen Bergwerkschachts mitten im Unterholz des Waldgebiets der Hohen Mark sein kann. Und tatsächlich öffnet sich der Waldrand rechts und links, scheint mehr und mehr vom Zufahrtsweg zurückzuweichen und das baldige Erscheinen einer natürlich eigentlich unangemessenen Industriebebauung anzukündigen. Ich spähe auf die von der Mittagssonne in gleißendes Licht getauchten Rodungsflächen und sehe – nichts, auch nicht die Andeutung eines Gebäudes vor mir. Sollte ich doch, nunmehr von Norden kommend, zu früh rechts in den Wald hineingefahren sein? Doch diese Lichtung scheint zu groß, um aus natürlichem oder auch landwirtschaftlichem Anlass entstanden zu sein. Und ohne Zweifel sind im Boden Wellen und Aufhäufungen erkennbar, die von künstlich aufgeworfener Infrastruktur erzählen. Doch das alles scheint bereits wieder von Gras überwuchert, und es sind keine Überreste des modernen Zeitalters zu entdecken, das sich sonst so unverkennbar in achtlos zurückgelassenem Müll oder in Resten rot-weiß gestreifter Baustellen- und Absperrbänder äußert. „Das nenne ich Strukturwandel in Reinkultur“, murmele ich, wie immer ausschließlich dem eigenen Ohr geschuldet. „Kaum stillgelegt und schon aus jeglicher Wahrnehmung verschwunden – schwer zu sagen, was die Wirtschaftsförderer dazu zu sagen haben.“ Etwas ratlos schieße ich einige Fotos von dem ganz unberührt wirkenden Ort, wende dann mein Auto vorsichtig und rumpele, ohne mich noch länger umzusehen, zurück zur asphaltierten Straße.

Ich fahre allerdings nur etwa einen Kilometer bis zum kleinen Waldparkplatz, der um die Mittagszeit an einem Donnerstag nach Ende der Ferien vollkommen verlassen daliegt. Wie sollte ich den angebrochenen Arbeitstag nun sinnvoll zu Ende bringen? Ins Ruhrgebiet zurückzufahren und die so ungewohnt lautlose Landschaft mit ihrer nach Waldboden und Spätsommer duftenden Luft schon wieder zu verlassen, kommt für mich eigentlich nicht in Frage. Und jeden Waldweg der Umgebung nach dem von Wanderlust befallenen Bergwerk abzusuchen, erscheint mir nach einem erneuten Blick auf den mir zu Verfügung stehenden Lageplan ebenso wenig angesagt: Die zuvor besuchte Lichtung ist dort eindeutig mit einem entsprechenden Symbol gekennzeichnet und muss demnach noch kürzlich den mobilen Förderschacht beherbergt haben. Stattdessen suche ich nach ein paar gleichfalls auf dem Plan verzeichneten Landmarken, die von hier aus möglicherweise fußläufig zu erreichen sind – denn immerhin ist auch Tourismusförderung eine unserer prominentesten Aufgaben, und der Vergleich beziehungsweise die Synthese von traditionell gewachsenen und durch Strukturwandel veränderten Landschaftsbildern sollte doch ebenfalls ein lohnenswertes Exkursionsthema und -ziel für auswärtige Gäste sein. „Fernmeldeturm auf dem Galgenberg“ fällt mir als Ortsbezeichnung gleich ins Auge, vor allem wegen der unpassend scheinenden und andererseits unendlich vielsagenden Kombination der Namen. Noch näher liegen allerdings die „Hexenbuchen am Waldbeerenberg“, deren mystischer Anklang mich noch stärker in den Bann schlägt. Ich meine, schon im Internet davon gelesen sowie Abbildungen seltsam verwachsener Bäume gesehen zu haben, deren mächtige Äste sich beinahe auf den Erdboden herabsenken. Um dorthin zu gelangen, muss ich vom Parkplatz aus zwei oder drei Kilometer nach Nordosten wandern – und tatsächlich scheint sich just in dieser Richtung ein fast versteckt liegender Waldpfad aufzutun. Damit ist mein Entschluss gefasst, und ich springe mit wiedergewonnenem Tatendrang aus meinem Auto – denn wenn in diesen Landstrichen von einem Berg die Rede ist, dann sind zumeist relativ flache Kuppen von allenfalls 150 Metern Höhe gemeint, die zu erklimmen ich meiner nicht allzu ausgeprägten Kondition bedenkenlos zutraue. So streife ich alsbald durch dichten Mischwald aus Nadel- und Laubbäumen, der – wie die Flurbezeichnung bereits angedeutet hat – zudem auf Bodenhöhe weithin mit dichtem Blaubeergestrüpp bedeckt ist. Nach einiger Zeit erkenne ich jedoch, dass es vor mir allmählich heller wird und sich, wie es in dieser Gegend scheinbar öfter vorkommt, mitten im Wald ein relativ großes Weizenfeld ausbreitet. Tatsächlich stehe ich alsbald vor dessen abgeerntetem Quadrat und blicke auf die säuberlich verteilten Strohballen, die in Abständen aus Überresten des Getreides aufgestapelt worden sind. Erst jetzt, da ich den auffallenden Kontrast des Walddunkels mit dem vom Sonnenlicht beschienenen Gelb des Feldes in einem Foto festhalten möchte, bemerke ich, dass ich die Digicam im Wagen gelassen habe. Doch um nun nochmals den gesamten Weg zurückzulaufen, ist mir dieses Motiv nicht relevant genug – und Bilder von den Hexenbuchen dürften ebenfalls wie schon gesagt in großer Anzahl online greifbar sein. Also spaziere ich am Rand des Feldes weiter und bedecke halb die Augen mit der linken Hand, weil ich nach dem vorherigen Zwielicht fast geblendet bin. Dennoch fällt mir, dicht vor dem Waldsaum gegenüber und noch relativ weit entfernt, ein dunkleres und menschenähnliches Gebilde auf, das allerdings vollkommen unbeweglich zu verharren scheint und auf unabwendbare Weise mein Interesse weckt.

Als ich näherkomme, sehe ich, was es wahrscheinlich sein musste: eine notdürftig der menschlichen Erscheinung nachempfundene Puppe aus Stroh, die eigentlich hungrige Vögel von den gereiften Garben des Getreides fernhalten sollte. „Na, du hast deine Aufgabe auch hinter dir“, murmele ich mehr zu mir selbst als in der Hoffnung, dass die Vogelscheuche mir antwortet – denn das Weizenfeld war wie gesagt vor kurzem abgeerntet worden. Was mich jedoch verwundert, sind einige völlig intakt erscheinende Kleidungsstücke, mit welchen die nur notdürftig als Mensch drapierte Strohpuppe geschmückt worden ist: Den nachempfundenen Kopf ziert statt einer löcherigen Filzkappe ein hübscher Strohhut, und um Hals und Schultern liegen ihr ein dunkelgrünes Tuch mit einem helleren, spielende Vögel darstellendem Muster und ein im gleichen Ton gehaltener Umhang. Als ich näher herangehe, greife ich unwillkürlich nach dem Halstuch und spüre mit den Fingerspitzen, dass es zugleich ungewohnt grob und doch unfassbar fein gewebt ist – eindeutig Handarbeit, doch nicht aus Bangladesch oder Kambodscha. Diese Kleidungsstücke waren zudem wahrscheinlich erst vor wenigen Minuten über die grobschlächtige Gestalt aus Stroh gebreitet worden. Doch was hatte das zu bedeuten? Und wem mochten sie geh …
„Sie gehören mir!“ sagt auf einmal eine leise, doch fest artikulierte Stimme hinter mir. „Wie bitte?“ stammele ich, drehe mich um – und starre in derartig grüne Augen, wie ich sie mit Sicherheit noch nie gesehen habe. Genauso wie die brandenden Locken, deren Kupferton von der Sonne durchflutet scheint. „Die Sachen dort – der Hut, das Halstuch und der Umhang – gehören mir. Ich habe sie da aufgehängt, weil ich sie nicht einfach ins Gras werfen wollte, wo gleich die Ameisen ihren Eroberungszug beginnen“, sagt die junge Frau mit einem leichten Lächeln. Sie trägt ein Kleid, das in dem gleichen Ton gehalten ist wie Umhang, Halstuch und auch ihre Augen, und ihre Nase und die Stirn sprenkeln kaum sichtbare Andeutungen von Sommersprossen. „Es war einfach zu heiß, aber dort drüben im Schatten der Bäume ist es kühler“, sagt sie und zwingt mich dazu, ihr gleichsam willenlos dorthin zu folgen. „Ich heiße übrigens Johanna“, stellt sie sich vor und lächelt mich scheu über die Schulter an, „und hier sind meine Freundinnen, die Sie auch unbedingt begrüßen müssen.“ „Wir können uns doch wirklich duzen“, sage ich und nenne meinen Vornamen – um gleichzeitig zwei andere Mädchen zu entdecken, die es sich auf den seltsam großen Baumwurzeln am Rand des Weizenfelds bequem gemacht haben. „Hallo, ich bin Rebecca“, sagt die eine – dunkles Haar und ebensolche Augen, mit denen sie mich intensiv und tiefgründig anschaut, sowie ein leicht verblasstes dunkelrotes Kleid, dass dazu einen perfekten Kontrast bildet. Die dritte Freundin trägt die gleiche Kollektion in Blau und blickt sofort etwas verschämt zu Boden. Sie ist sehr hellhäutig und hat weißblonde Haare, doch ihre Wangen sind für einen Augenblick sichtbar gerötet. „Marte“, flüstert sie kaum hörbar, und ich vermute, dass sie mir damit gleichfalls ihren Namen sagen will. Es gibt sie also noch, die barfüßigen Blumenkinder, denke ich, und muss unwillkürlich lächeln – nicht, dass ich irgendetwas dagegen gehabt hätte. „Und – macht ihr ein Picknick?“ frage ich leichthin, um erst gar keine drohende Verlegenheit aufkommen zu lassen. „Pick … Pick… was?“ fragt mich Johanna und lässt ein leises, perlendes Lachen hören. „Was für seltsame Wörter du doch kennst.“ Leicht verwundert bin ich doch. „Naja, ihr geht an einem schönen Sommertag in die Natur, genießt das Nichtstun und habt sicherlich auch etwas Leckeres zu essen und zu trinken dabei“, versuche ich, meine Vermutung auszumalen. „Hm, Nichtstun, soso“, rekapituliert Johanna meine etwas unbedachte Aussage – doch zieht gleichzeitig auf unglaublich liebreizende Weise ihre Nase kraus und lächelt. „Da in dem Korb sind Stuten und ganz frischer Saft“, sagt sie. „Und wenn du dich halbwegs benimmst, bekommst du möglicherweise später auch noch etwas davon ab.“ „Was machst du denn hier im Wald?“ fragt mich Rebecca, und ich beginne doch tatsächlich gleich etwas vom Strukturwandel und seinen Auswirkungen auf die Natur zu faseln. Eigentlich ist es nur gut, dass mich Johanna alsbald unterbricht. „Strukturwandel? Struktur …? Ich habe sowas zwar mit Sicherheit schon mal gehört, aber es dürfte ja wohl auch feststehen, dass das alles oder nichts bedeuten kann“, sagt sie mit einem Ernst, den mir zu deuten schwerfällt. „Dass sich auf Dauer alles wandeln muss und kann – das ist für mich eine große Gewissheit. Wohl denen, die ohne Wandel leben – das ist doch Unfug, was uns die Pastoren predigen und lehren wollen.“ Hieß das etwa, dass sie jeden Sonntag brav in die Kirche ging? Das erscheint mir heutzutage ungewöhnlich für eine so junge Frau. Aber ich möchte auch nicht weiter in sie dringen. „Nein nein, man muss nur wissen, was sich wandeln soll, und es dann mit ganzem Herzen wollen“, sagt Johanna und nimmt mich durch ein paar widerspenstige, rötlich-braune Strähnen ins Visier, die ihr ungebändigt von der Stirn über die Augen fallen. „Wenn du das schaffst, kannst du bestimmt alles erreichen.“

„Wandel, Wandel …“, lässt sich auf einmal Marte vernehmen, die bisher nicht mehr als ihren Namen gesagt hatte. „Ich kenne nur Wandeltänze!“ Leichtfüßig springt sie auf, greift in den Korb und holt ein kleines hölzernes Blasinstrument hervor, welches sie allerdings sofort an Johanna neben mir weitergibt. Das blonde Mädchen scheint mit einem Mal sehr viel lebendiger, und ihr Gesicht ist jetzt mit Sicherheit aus anderen Gründen als vor Scham gerötet. „Magst du tanzen?“ spricht sie mich jetzt direkt an, ohne die Antwort darauf tatsächlich abwarten zu wollen. Und obwohl mir erst die Worte auf der Zunge liegen, dass ich weder Tanzschulen noch Discotheken etwas abgewinnen könne, kommen sie mir so natürlich nicht über die Lippen. Zudem setzt gerade jetzt eine fremdartig klingende und doch melodische Tonfolge ein, und als ich halb nach rechts schaue, sehe ich Johanna mit dem Instrument an ihrem Mund. Schalmei nennt man das, kommt mir in den Sinn, die gibt es schon seit vielen Hunderten von Jahren. Johanna spielt nicht nur mehr als gekonnt, sondern vollführt auch gleich im Rhythmus der Musik einige federnde Tanzschritte. Marte hat derweil meine Hand ergriffen und entfernt sich beinahe hüpfend von mir fort, wobei ich ihr zwangsläufig folgen muss. Sie wirkt tatsächlich völlig anders jetzt, und als sie lächelnd mit ihren blassblauen Augen zu mir aufschaut, bewegt sich – wie ich zugeben muss – nicht nur mein einer Fuß in magisch festgeschriebenem Takt neben den anderen, sondern auch viel in meinem Kopf und so manches zwischen meinen Beinen. Obwohl sich nur unsere Hände berühren, wird mein gesamter Körper in den Rhythmus von Tanz und Musik hineingezogen – dies hier ist etwas völlig anderes als die Wandeltänze oder Menuette, die ich das eine oder andere Mal in Historienfilmen gesehen hatte. Hier ist alles ein federndes Springen, Drehen und Von-einer-Seite-auf-die-andere-Greifen. Auch Rebecca ist jetzt aufgestanden und hat irgendwoher eine Art kleiner Gitarre hervorgezaubert, allerdings eine mit rundem Rücken. Als sie nun auch wiegend darauf zu spielen beginnt, erkenne ich, dass es nicht etwa Baumwurzeln gewesen waren, auf denen die Mädchen gesessen hatten, sondern offenbar die Äste der Hexenbuche, die sich hier meterweit dicht über den Boden schlängeln. Dazwischen ist das Gras kürzer als außerhalb, und da und dort fehlt es auch vollständig – als ob an dieser Stelle regelmäßíg derartige Tänze stattfinden würden. Auch jetzt dürfte der Boden wieder kräftig plattgetrampelt werden – hauptsächlich von mir natürlich, denn die Mädchen scheinen eher zwischen den skurril verwachsenen Ästen zu schweben. Immer schneller scheint sich ein Schritt an den anderen zu reihen, und immer atemloser kommen mir die Drehungen der Körper vor, die ich dennoch unwillkürlich mitvollführe. Erst nach etlichen Minuten lässt das Tempo der Musik bedauerlicherweise – oder endlich? – nach, und wir taumeln fast zurück zum Rand der Lichtung und zum Weizenfeld, wo der geflochtene Weidenkorb einsam zurückgeblieben war. Erschöpft und außer Atem lasse ich mich jetzt auch selbst auf den massiven Ast der Buche nieder, der sich dort beinahe in den Boden eingegraben hat. „Sehr schön. Respekt – du tanzt wirklich nicht schlecht“, lobt mich Johanna, die sich auf einmal ganz dicht neben mir befindet. „Kein Vergleich mit dir – und du machst gleichzeitig auch noch diese fantastische Musik dazu“, versuche ich, das Lob zurückzugeben. „Dann haben wir uns ja etwas verdient“, lacht sie und zieht den Korb zu sich heran, der weitere geheimnisvolle Dinge zu enthalten scheint: Einen Stuten zaubert sie hervor, und eine ziemlich große Flasche mit Korken, die eine undurchsichtige gelbliche Flüssigkeit enthält. Ein Etikett ist darauf nicht zu sehen, es scheint also etwas Selbstgepresstes oder -zubereitetes zu sein. Besonderen Hunger spüre ich eigentlich nicht, doch nach dem wilden Tanz am hellen Nachmittag brauche ich dringend einen – oder mehr als einen – kühlen Schluck. Johanna hat das wohl erkannt, denn sie gibt den Stuten an Rebecca neben sich weiter, während die Flasche gleich in meine Richtung wandert. Das Mädchen hält sie allerdings auch weiter fest, rückt noch einige Zentimeter näher, zieht den Korken ab und legt mir ihre rechte Hand in den verschwitzten Nacken. „Das ist gut, probier` mal“, flüstert sie, und ich lasse mich nicht zweimal bitten. Der Saft ist kühl und süß, unzweifelhaft aus irgendwelchen Gartenfrüchten, doch auch ein ganz flüchtiger Hauch von Alkohol ist spürbar, möglicherweise im Prozess der Kelterung entstanden. Obwohl mich beispielsweise Wasser sicher mehr erfrischen würde, stimme ich Johanna zu und frage sie, aus was der Trunk besteht. „Äpfel, Birnen, Mirabellen – und noch ein paar geheime Zutaten, die nicht verraten werden“, sagt sie leise und setzt mir die Flasche wieder an den Mund. Ich nehme sie dankbar an und sehe die Augen der jungen Frau so nah wie niemals vor den meinen. Deren unfassbares Grün scheint plötzlich mit dem Blattwerk über unseren Köpfen zu verschwimmen, und in mir macht sich eine angenehme Müdigkeit bemerkbar, die mich nach unserem Tanz kaum noch verwundern sollte. Im Inneren ihrer Pupillen aber, ganz im Hintergrund, ist zudem eine Andeutung von etwas anderem zu erahnen – dort scheinen, kaum bemerkbar, unablässige Flammen zu lodern.

Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich aufschrecke, hat sich die Sonne, die sich da und dort mit sanften Strahlen durch die dicht verzweigten Baumkronen tastet, bereits unzweifelhaft dem Horizont genähert. Stattdessen kriecht die Dämmerung mit dunklen Fingern aus dem entfernteren Unterholz. Verwundert sehe ich, dass auf der kleinen Lichtung neben der mutierten Buche nun ein gar nicht mal so kleines Feuer brennt, doch Warnungen vor einer möglichen Waldbrandgefahr finden weder im Kopf noch gar im Mund den Weg zu einer ernsthaften, artikulierten Äußerung. Johanna scheint wieder begonnen zu haben, ihrer Schalmei seltsame Töne zu entlocken, welche fast wie das rhythmische Gurren von im Liebesspiel versunkenen Tauben klingen. Die Spielerin kann ich nirgends entdecken, und doch verspüre ich an meinem Hals und im Gesicht verschwitzte Haare, die mich endgültig aufwecken. „Komm, wir müssen nochmal tanzen“, höre ich Rebecca raunen, die mich mit kaum erahnter Kraft nach oben und an ihren Körper zieht. So nah ist sie mir, dass ich kaum erkennen kann, was mit dem ausgeblichenen roten Kleid geschehen ist, das sie am Nachmittag getragen hat – dann sehe ich, dass es zerknüllt im Gras am Rand der Lichtung liegt. Im Halbdunkel wird kurz die Rundung ihres Nabels sichtbar, dann auch der schwarze Schatten unterhalb davon. Doch da mir ihre heißen Hände unablässig über Arme, Schultern, Bauch und Hüften streichen, sind das lediglich kaum registrierte Augenblickswahrnehmungen. Jenseits des Feuers sehe ich Marte tanzen – auch sie scheint im Gefäß der Flammen milchweiß aufzuleuchten, ohne dass auch nur die letzte Andeutung eines blauen Gewands erkennbar wäre. Es macht den Eindruck, dass sie einen langen Stab herumwirbelt, welcher mir vorher auf der Lichtung nirgends aufgefallen war, und sich dabei immer wieder selbst um ihre eigene Achse dreht. Dazwischen lässt sie sich von Zeit zu Zeit fast auf den Boden sinken und verharrt dort kurz, den Mund in wortloser Extase aufgerissen. Auch mich hat die unsagbar magische Musik nun ganz ergriffen, ich muss die Augen schließen und mich ihr vollends ergeben. Kaum weiß ich noch, wie mir geschieht, ich spüre, dass ich Schoß und Schenkel an der aufgerauten Rinde des verfluchten Baumes reibe, dessen Äste sich über den Boden hinbreiten. Schoß und Schenkel, sage ich, und ahne gleichermaßen, dass sich meine Kleidung scheinbar bis zum letzten Faden aufgelöst hat. Und fühle außerdem eine ganz merkwürdige Veränderung an mir: Denn irgendwie scheint bisher Störendes verschwunden zu sein, und bisher Fehlendes scheint sich dafür in meinem Inneren dem unabdingbaren Impuls von außerhalb zu öffnen. Und beinahe ohne Besinnung öffne ich nun gleichsam meine Augen um ein Viertel und blicke an meinem vollkommen entblößten Leib hinab: halbkugelförmige und feste Brüste, über die sich langes, dunkelbraunes Haar hinbreitet, ein flacher Bauch sowie ein schmaler, feucht gewordener Strich verfilzten Flaums, der sich zwischen den ungewohnt gewölbten Hüften fast verliert.

Wohliger Schauder wechselt sich mit namenlosem Schrecken ab: Ich öffne meine Augen weiter, blicke auf und nehme plötzlich auch eine ganz andere Klangkulisse wahr. Das rhythmische Gleiten und Gurren ist verstummt, es herrscht keineswegs völlige Stille, doch stattdessen höre ich vollkommen unharmonische und deshalb auch bedrohlich wirkende Geräusche – ein sich in wenigen Sekunden annäherndes Raunen, das von einem kaum definierbaren Klirren und Rasseln untermalt wird. Das Feuer im Herzen der Hexenbuche lodert zwar noch leicht, doch von außerhalb nähern sich andere, unruhigere Feuerpunkte, und zwar anscheinend rings von allen Seiten. „Was ist das? Wer kommt da? Und wo seid ihr überhaupt?“ flüstere ich mehr, als das ich irgendetwas laut herausschreie – und schaue hilfesuchend nach den eben doch noch anwesenden Freundinnen. Nichts mehr ist von ihnen sichtbar – oder nur zu hören –, doch stattdessen dringt Sekundenbruchteile danach ein schrecklich lauter, kehliger Schrei durch die sich nun vollends ausbreitende Dämmerung: „Da! Dort ist eine – direkt neben der kleinen Feuerstelle. Schnappt sie euch, sonst fliegt sie uns davon!“ In der lächerlichen Hoffnung, dass tatsächlich etwas Wahres daran sein könnte, hebe ich halb meine Arme und vollführe vollkommen vergebliche Flugbewegungen – bevor mich schon brutale Pfoten von drei Seiten unter ebendiesen Armen greifen und gezielt nach den so ungewohnten Brüsten tasten. „Heiliger Nikolaus, sie hat ja selbst schon alles abgelegt!“, ruft einer, dessen modrigen Atem ich irgendwo zwischen Nase und Ohr verspüre. „Dann können wir uns das zumindest sparen“, gurgelt ein anderer, nur wenige Zentimeter weiter weg. Schon schlingen sich mir raue Seile um den Bauch und um die Schultern, und ich merke, dass ich in vollkommen kraftlose Starre verfalle, denn anders als diese nach Schweiß und Kot stinkenden Kerle in ihren seltsam aus der Zeit gefallenen Lumpen weiß ich selbst am besten, dass mir keine wundertätigen Optionen offenstehen.

Wie verlockend doch das Licht am Vormittag gewesen war, fällt mir jetzt plötzlich wieder ein. Inzwischen ist alles in Dunkelheit getaucht, die vereinzelt nur erleuchtet wird vom unruhigen Flackern der Fackeln. Und doch steht alles, was an diesem Nachmittag geschehen ist, mir mit einem Mal in fürchterlicher Deutlichkeit vor Augen – die eigenartigen Paradoxien, die Andeutungen, dass stets Verwandlung möglich sei, der Tanz, der schrecklich wohlschmeckende Trunk sowie die Worte „Sie gehören mir …!“ – Jetzt, da mich – vollkommen nackt, von Ledergürteln ausgepeitscht und ihrem lüsternen Blick ausgeliefert – die geifernden Schergen des Landvogts einem nur allzu erwartbaren Schicksal entgegenführen.
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Alt 18.01.2021, 01:18   #2
männlich Ex-Ralfchen
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Beiträge: 17.302


Du hast recht lieber Foren – Freund das liest kein Mensch...

Mir gefällt der letzte Satz am besten weil ich lese immer nur den ersten und den letzten:

Zitat:
Jetzt, da mich – vollkommen nackt, von Ledergürteln ausgepeitscht und ihrem lüsternen Blick ausgeliefert – die geifernden Schergen des Landvogts einem nur allzu erwartbaren Schicksal entgegenführen.
Ex-Ralfchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.01.2021, 19:07   #3
weiblich Mohrel
 
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Standard Doch, ich habs gelesen..

..am Stück und bis zum verflixten Ende! 😁


Liebe Grüße
Mohrel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.01.2021, 21:17   #4
männlich Epilog
 
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Standard Oh, liebe Freundin

ob ich so viel Aufmerksamkeit verdient habe? Ich hoffe nur, Du träumst danach nicht schlecht von mir ...

@ Ralfchen: Na gut, dann weiß ich jetzt: Im ersten oder letzten Satz muss Sex & Crime die Oberhand gewinnen (in den Drabbles ist`s wahrscheinlich meistens schon der erste ...)

Ab "Ich musste eingeschlafen sein ... " (oder dem Satz davor) hättest Du aber wirklich lesen können. Danach wird`s richtig strange, und ist auch nicht mehr wirklich "jugendfrei" ...

Euch einen schönen Abend, liebe Freunde
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Alt 19.01.2021, 22:47   #5
weiblich Mohrel
 
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Zitat:
Zitat von Epilog Beitrag anzeigen
ob ich so viel Aufmerksamkeit verdient habe? Ich hoffe nur, Du träumst danach nicht schlecht von mir ...
Aber sicher doch!

Und nein, ich träume bestimmt nicht schlecht von dir.. 😉
Mohrel ist offline   Mit Zitat antworten
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