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Alt 08.12.2016, 23:11   #1
männlich Heinz
 
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Beiträge: 7.879


Standard 16.Kapitel Urlaub in Jena

16. Kapitel

Nein! nein, ich habe Jaqueline nicht gefragt, was ihre Lieblingsfächer in der Schule sind,
hab auch nicht gefragt, ob sie schon einen Freund hat, wollte auch nicht wissen, welche Hobbys sie hat und vermied es auch, nach ihren beruflichen Plänen zu forschen.
„Hast du mal ne Zigarette für mich? Meine sind alle.“ Der erste Lungenzug - und sie hustete noch nicht einmal. „Seit wann rauchst du denn“, kam erstaunt von der Frau Mama. „Mensch,
Mutti, seit zwei Jahren, nur nicht so viel wie du.“ Das Phänomen - alle wissen es, nur Papa und Mama leben offensichtlich auf einem anderen Planeten als ihre Kinder.
„Ich habe morgen frei -habt ihr was Besonderes vor?“ - „Ich wollte mit Heinz ne Tagestour machen - zur Moritzburg und dann bis Bautzen, abends...“ - „Für morgen Abend habe ich uns Karten besorgt - Überraschung!“ - „Karten wofür?“ - „Überraschung, hab ich doch gesagt. Die Moritzburg kenne ich, da haben wir mal einen Schulausflug gemacht, aber in Bautzen war ich noch nicht.“ - „Dann sieh mal zu, dass du da nicht mal landest mit deiner losen Gusche!“ (Für Nichtsachsen: „...mit deiner großen Klappe“).
„Nehmt ihr mich nun mit oder nicht?“ - „Erst verrätst du deine Überraschung.“ - „Nee, dann ist es ja keine Überraschung mehr. Wichtig ist nur, dass wir um sechs im Italienischen Dörfchen sind.“ - „Ihr habt in Sachsen ein italienisches Dörfchen?“ - „Nee, das ist kein Dörfchen, das ist eine (Jaqueline hob bedeutungsvoll die Stimme) hysterische Gaststätte.“ -
„Nun verklapps den Heinz nicht so! Jaqueline hat uns wahrscheinlich einen Tisch im Italienischen Dörfchen - einer historischen Gaststätte bei den Brühlschen Terrassen an der Elbe reserviert.“ - „Aber hallo - das ist wirklich eine...“ - „Falsch, Mama, das ist nur die Ouvertüre!“
Ich war neugierig geworden: Moritzburg? Ganz hinten imKopf ein leises Klingeln - gehört habe ich davon, gesehen habe ich sie noch nie. Bautzen? Ist da nicht der Stasi-Knast? Italienisches Dörfchen? Mein Informationsbedürfnis wuchs an und Jaqueline kam ins Erzählen. „In der Moritzburg, so was hast du noch nicht gesehen! Als wir da mal waren, habe ich das schwerste Geweih der Welt gesehen - fast 20 Kilo und...“ - „Nun erzähl nicht gleich alles, sonst hat Heinz ja nichts mehr zum Staunen.“ Die sanften Ermahnungen - an einem Ohr rein, am anderen hinaus - Jaqueline war nicht zu bremsen. „Und übermorgen, da müssen wir mal mit dem Schiff nach Pillnitz, Mama, bitte, da ist es sooooo schön!“
„Sagt mal, seid ihr beim Touristenverband tätig?“ - „Nee - aber wenn du schon mal hier bist, dann sollste auch was Schönes zu sehen kriegen.“ - „Ach - und deswegen wollt ihr mir das Hirschgeweih aufsetzen und dann in Bautzen abliefern?“ - „Ach was! Wir brauchen dich doch als Tischherrn im Italienischen Dörfchen!“ - „Wieso heißt die Kneipe...“ - „Na, da werden dir aber die Gucker ausm Kopp kullern - Kneipe!!! Das ist was ganz Edles!“
„Sag mal, wie komme ich eigentlich zu der Ehre, von dir zum Essen eingeladen zu werden?“
Jaqueline grinste ähnlich verschmitzt wie ihre Mutter: „Hättste mich gefragt, wie die Schule so ist oder ob ich schon einen Freund habe, wärste morgen allein mit Mama unterwegs gewesen.“ Das war ehrlich und ohne Umschweife und mein väterliches Herz tat einen Sprung - ich hatte keine frappierenden Fehler beim Umgang mit einer knapp Siebzehnjährigen gemacht. „Ach, hätte ich beinahe vergessen - ich hab dir aus Jena was mitgebracht.“ - „Was ist ‚was' ?“ - „An die Udo-Jürgens-Platte bin ich nicht ran gekommen, aber an eine neue vom Traum deiner schlaflosen Nächte!“ Jetzt war ich aber gespannt: Wovon träumt so ein Teenager in den 1970er Jahren? Middle Of The Road - Boney M. - Bay City Rollers? Hätte ich keine Tochter im Alter von Jaqueline, wäre ich komplett aufgeschmissen. Meine Musik war von Komponisten wie Beethoven, Mozart, Ravel, Bach, Sarasate, Verdi und anderen geschrieben - wer war der Traum eines DDR-Teenagers im blauen FDJ-Hemd? Karat vielleicht - mehr Bands kannte ich aus dem „real existierenden Sozialismus“ der Herren Pieck, Grotewohl, Ulbricht und Honecker nicht.
„Du hast mir ne Platte von Güttler besorgt? Ich galub es nicht - hier waren die schon alle unterm Ladentisch weggegangen.“ - „Pass auf - Heinz und ich gehen jetzt noch ein Bier trinken, die Platte ist in meinem Koffer und du kannst sie dir ja anhören, wenn wir weg sind.“
„Mal sehen, ich wollte eigentlich noch nen Film im Fernsehen gucken.“ - „Im ersten oder im zweiten?“ - „Ich glaub im ersten Programm.“ - „Habt ihr euch auch so ein Ding zugelegt, mit dem man PAL empfangen kann?“ PAL, das ist das westliche Farbsystem und Filme aus dem Westen konnte man, weil in der DDR das System Secam genutzt wurde, nur in Farbe sehen, wenn man eine Art Umwandler hatte und einen TV-Experten kannte, der gegen Devisen bereit war, so ein Ding einzubauen und die entsprechende Antenne einrichten konnte.
„Und wovon träumst du nachts? Hier in Dresden kannste kein Westfernsehen gucken, da brauchste schon ne Datsche in der Nähe von Berlin.“ Aus diese Weise erfuhr ich, dass die Dresdner „im Tal der Ahnungslosen“ lebten und viele übers Wochenende nach Berlin kutschierten, um in ihrem Freizeitrefugium das offiziell verpönte Westfernsehen genießen zu können.
Wenn die Sendekapazität des bundesrepublikanischen TV-Anstalten ausreichte, brauchte man natürlich die entsprechend ausgerichtete Antenne. Die regimetreuen Mitarbeiter der Firma Horch&Guck hatten Ferngläser und sahen an der Antennenbauweise, wer sich da die Programme des Klassenfeindes rein zog. Eine Aktion wurde gestartet, Kennwort Ochsenkopf, mit dem Ziel, die Volksverräter zu entlarven und sie auf den rechten Weg zum zukunftsverheißenden Sozialismus zurück zu führen.
Die Aktion wurde nach kurzer Zeit abgebrochen (und das hämische Lachen hätte der Avantgarde des Arbeiter- und Bauernstaates in den Ohren klingen müssen), weil die IM (inoffizielle Mitarbeiter) dieser Staatsfirma, auch Stasi genannt, auf zu viele Funktionäre der gehobenen Laufbahn in der SED gestoßen waren, die selbstverständlich nur informativ die Westprogramme anschauten, um noch besser für den Klassenkampf gerüstet zu sein.
„Ist es bei euch denn, abgesehen davon, dass ihr hier sowieso keinen Empfang habt, verboten, Westfernsehen zu gucken?“ - „Nee, direkt verboten ist das nicht, aber überhaupt nicht gern gesehen.“ - „Und die Leute, die eure Antennen und „Umwandler“ bauen, passiert denen nix?“ - „Nee, direkt nicht; die kriegen sie dran wegen Steuerhinterziehung, weil sie ihren Nebenverdienst nicht angeben.“ Aha!
Jaqueline war von nebenan mit der Güttler-Schallplatte unterm Arm zurück gekommen und ich durfte einen Blick darauf werfen. Ich dachte, ich kipp aus dem Sessel: Ludwig Güttler war da auf dem Cover zu lesen, daneben prangte das Bild eines Wuschelkopfes und als Titel waren - Trompetenkonzerte aus dem Barock angegeben. Mit ganz roten Ohren, ich schob diese Beobachtung am Rand auf die große Freude, die Elischa da ihrer Tochter gemacht hatte,
nahm sie die Platte zurück und legte sie neben den Plattenspieler.
Die Anzahl der töchterlichen Küsschen bewies, wie sehr sich das Mädchen freute - ich war paff, mit einem jugendlichen Fan klassischer Musik hatte ich nicht gerechnet.
Elischa zerrte mich aus dem Sessel: „Auf gehts, Grenadier! Lass uns eine Hopfenkaltschale genießen - tschüss, Kleene, wir gehen uns sinnlos besaufen.“
0,48 Mark für 0,33 Liter Bier - so wenig Geld konnte man gar nicht bei sich haben, um nicht bald in die Gesänge einer Stammtischbesatzung einzustimmen. Elischa hielt wacker mit, die Stammtischbrüder hatten sich zum Ziel gesetzt, mich unter den Tisch zu saufen und selbst auf die Gefahr hin, dass mich die Leser/innen für einen Aufschneider halten: Ich war zu dieser Zeit gewissermaßen in einem unbarmherzigen Dauermanöver mit und unter hartgesottenen Alkoholbekämpfern. Wir haben das Zeug vernichtet, achteten nicht auf Art oder Herkunft dieser Flüssigdroge und haben bei der Dezimierung große Erfolge verbuchen können.
Als ich begann, im diffusen Licht der Kneipe Elischa doppelt zu sehen, wurde es Zeit, die gastliche Stätte zu verlassen. Unter großem Hallo und „Machts gut, ihr Hübschen!“ traten wir den kurzen Heimweg an, den ich dank Elischas Bemühen unfallfrei hinter mich brachte.
Zuhause war alles stockdunkel, durch die Fenster flimmerte kein Licht eines Bildschirms - Jaqueline, das allerliebste Kind, war schon in der Heia und träumte bestimmt von ihrem Trompeter.
„Mach leise, die Kleene ist bestimmt todmüde gewesen - guck mal in meinen Koffer, da müsste noch mein Nachthemd drin sein.“ Nachthemd oder kein Nachthemd, das war mir in meinem Zustand ziemlich egal, ich wollte nur noch ins Bett und fürchtete mich vor dem zu erwartenden Wellengang (den durchleide ich immer dann, wenn ich ein einziges Gläschen zuviel getrunken habe). „Bringste mir auch meinen kleinen Meeresbewohner mit?“ - „Du willst...“ - „Nein, ich will schlafen, aber Jaqueline muss ja nicht darüber stolpern; gib her, ich pack ihn in meine Schublade.“ - „Wo hast du ihn denn hin getan?“ - „Den habe ich in meine Bluse eingewickelt, die mit den Knöpfen hinten.“ - „Der Flipper ist weg geschwommen, hier ist er jedenfalls nicht.“ - „Egal, lass uns morgen nachgucken - komm jetzt und wieg mich in den Schlaf.“
Ich war froh, dass ich die Bewegung der Wogen nur nachzuahmen brauchte, küsste Elischa zart auf die Stirn und......keine Ahnung, ich war weggetreten, total abgesoffen - tot - bis mich Sonnenstrahlen und Elischas Finger kitzelten. Mein erster Morgen in Dresden:
Sei mir gegrüßt, du schönes Sachsenland! Ich war bester Laune, kein Brummschädel, nur eine leichte Unsicherheit in den Beinen beim Gang zum Bad.
Durch das Rauschen der Dusche hörte ich Trompetenklänge aus dem Wohnzimmer - Jaqueline war also auch schon wach - und Elischas Stimme, der man das Kopfschütteln förmlich ansah: „Ich hab dir doch gesagt: Der Delfin ist in meiner Bluse!“ - „Wohl dem, der einen Delfin in der Bluse sein eigen nennt!“ - „Schande über den, der ihn da nicht findet!“
„Elischa, ich schwöre...“ - „Bloß keinen Meineid!“ - „Elischa, ich hab die Bluse auf den Stuhl neben deinem Bett gelegt und da war kein Delfin drin.“ - „Die Bluse lag im Koffer,...“ - „Ja, da hab ich sie ja auch raus geholt und...“ - „Und wie kommt sie da wieder rein - mit Delfin?“
Mir schoss ein Gedanke durch den Kopf - sollte Jaqueline beim Suchen nach der Schallplatte zufällig auf das zweite blaue Wunder Dresdens gestoßen sein? Der zweite Gedanke: Alle wissens, nur Papa und Mama leben auf einem anderen... - es konnte gar nicht anders sein und blitzartig fielen mir die roten Öhrchen Jaquelines ein und mein Beschützerinstinkt machte sich schon am frühen Morgen bemerkbar: „Ja, kann ja sein - überleg mal, wie viel ich gestern von der Lippe durch die Kehle in den Schlund...“ - „Du bist ein Quartalsspinner, komm endlich unter der Dusche hervor und lass uns frühstücken.“
Im Wohnzimmer machte die Nadel des Tonabhebers leise klickende Geräusche, die Platte drehte sich, aber die Automatik des Tonabhebers war wohl defekt oder nicht vorhanden - Jaqueline, schön wie Dornröschen mit ihren langen, schwarzen Haaren, dem milchweißen Teint, den blutroten, leicht geöffneten Lippen, die linke Hand im Schoß (komisch - unter dem dünnen Nachthemd) war bei den Trompetenklängen sanft entschlummert, träumte, seufzte, schlug die Augen auf, sah mich an und ihre Wangen färbten sich, anders ausgedrückt, Jaqueline errötete - ich zwinkerte und sprach die bedeutungsvollen Worte: „Wach auf, meine Schöne! Es ist angerichtet, lass uns frühstücken und dann auch den Tag genießen!“
Elischa bugsierte gerade ein Frühstückstablett aus der Küche ins Esszimmer: „Na, ausgeschlafen - sag schön brav ‚Guten Morgen‘ und komm an den Tisch.“ Jaqueline umarmte mich wie ein Töchterlein seinen Papa umarmt, sagte laut: „Guten Morgen!“ und leise in mein Ohr: „Danke, dass du mich nicht verpetzt hast!“ - „Nein, ich hab mich nicht verletzt (das sollte ein verbaler Schutzzaun sein, damit die mütterlichen Ohren nicht schon am frühen Morgen zu viel erfuhren).
„Legst du die Platte noch mal auf - ich hab vorhin nur ein paar Trompetenklänge gehört?“
Sonne - Kaffee auf sächsische Art (schwarz, heiß, süß) - rechts meine Geliebte - links eine erblühende Schönheit, mit der mich ein kleines Geheimnis verband - auf dem Teller selbst hergestellte Eierschecken - der Raum von himmlischer Musik erfüllt: Leben - wie schön ist es zu leben!
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