Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 06.09.2016, 01:06   #1
männlich Heinz
 
Benutzerbild von Heinz
 
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879


Standard 2.Kapitel - Urlaub in Jena

Mein Mentor Manfred war zwanzig Jahre älter als ich, hatte eine ältere und eine jüngere Schwester. Christel, die ältere war schon außer Haus, Eva, die Jüngere, war die erste große Liebe meines Lebens.
Stellt euch Schneewittchen vor - lange, zu dicken Zöpfen geflochtene Haare, die Haut wie Alabaster, der Mund blutrot, fünfzehn Jahre jung und krank, sehr krank. Ich erinnere mich eigentlich nur an dieses engelsgleiche Wesen als bettlägrig Leidende. Eva ist gestorben und ich konnte es einfach nicht glauben, dass sie ihre Augen nicht mehr öffnete und nicht mehr mit mir redete. „Blühende Schwindsucht“, so bekam ich es aus den Gesprächen der Erwachsenen mit, sei die Todesursache gewesen. Diese bösartige Lungenkrankheit, in der Medizin als Tuberkulose bekannt, wurde in der Umganssprache „blühende Schwindsucht“ genannt, weil die Gesichtsfarbe das blühende Leben vortäuschte.

Eva war tot. Zum zweiten Mal kam ich mit dem Tod in Berührung. Evas Tod machte mich wütend und unendlich traurig. Meine Mutter, mein Opi und Manfred versuchten mich zu trösten. Manfred wechselte seine begonnen Studienfächer und begann Medizin zu studieren. Er wurde Arzt und spezialisierte sich im Ostberliner Klinikum Buch auf innere Krankheiten.

Die erste Berührung mit dem Tod war mit einem Erlebnis in der Einhügelquelle verbunden: Der bevorstehende Einmarsch amerikanischer Verbände stand kurz bevor. Meine Mutter schnappte sich meinen jüngeren Bruder und mich, fuhr mit uns mit dem Bus erst bis zur Stadtmitte Jenas, dann mit der noch funktionierenden Straßenbahn Richtung Weimar bis zur Endstation Papiermühle am Stadtrand von Jena.
Von dort aus gings, mein Bruder im Kinderwagen, ich konnte ja schon laufen, Richtung Münchenrodaer Grund, und wir kamen bei Tante Berta und Onkel Oskar in der Einhügelquelle an.
Die Gaststätte liegt gut 100 m abseits der Straße in einer bewaldeten Mulde und so war zu hoffen, dass das Kriegsgeschehen an uns vorüber ging. Am darauffolgenden Tag, am 12. April, hatte ich Geburtstag.
Am Nachmittag - helle Aufregung: Aus Richtung Weimar sollten die "Amis" kommen, vorbei an einer inzwischen geräumten Wehrmachtskaserne, die ein paar Kilometer entfernt in einem Waldgebiet lag. Ich habe jahrelang geglaubt, da seien die Russen heranmarschiert, erst bei einer Erzählung meines Abenteuers - so hatte ich es empfunden - korrigierte meine Mutter mich mit den einfühlsamen Worten: „Was erzählst du für einen Quatsch? Zuerst sind die Amis bei uns einmarschiert, die Russen sind erst später gekommen.“ Der kindliche Irrtum ist verständlich, weil in der Erinnerung an diese Jahre immer nur Russen zu sehen waren.
Tante Berta war eine sehr pragmatische Frau und bastelte mit Bettlaken und einer langen Stange vorsorglich eine Kapitulationsfahne, die Sippe versammelte sich in der Küche, die hinter dem Schanktisch durch eine Tür erreichbar war, und harrte der Dinge, die man ängstlich erwartete.
Die Amerikaner, so die spätere Rekonstruktion des Geschehens, kamen in Marschformation (wenige neben- viele hintereinander) aus Richtung Weimar über die Kaserne im Wald auf die Straße in den Münchenrodaer Grund, stießen auf ein letztes Aufgebot des Volkssturms, das aus 2 jungenhaften Kämpfern bestand und die den Tunnel unter der Eisenbahnlinie Jena-Gotha verteidigen sollten.
Zwei Jungs, fast noch Kinder, eröffneten das Feuer auf die heran marschie-rende Kompanie, auf kampferfahrene „Frontschweine“. Ihr früher Tod, ein paar Stunden vor der Kapitulation, war so schrecklich überflüssig, so furchtbar sinnlos! Die Amis „machten sich breit“, das heißt für militärisch Unbedarfte, sie gingen erst einmal in Deckung, änderten ihre Formation, aus der Marschkolonne wurde eine Kampfmaschine, Spähtrupps schwärmten aus, erkundeten das Gelände in Marschrichtung, und suchten jenseits der Flanken nach weiteren Widerstandsnestern. Zu unserem Glück hielt einer dieser Trupps die Gaststätte „Zur Einhügelquelle“ nicht für ein solches; das erregte Schwenken des weißen Betttuches an der langen Stange, Tante Berta sei Dank, signalisierte unsere Kapitulation.
Sie kamen durch den Gastraum am Tresen vorbei in die Küche, alle waren erstarrt, nur ich begrüßte die ersten beiden Soldaten, die sich durch die Tür drängten im breitesten thüringischen Dialekt mit: „Da seid ihr Halunken ja!“. Die Soldaten hörten den Knirps, aber ohne Dolmetscher verstanden sie ihn nicht. Aber Tante Berta verstand und ich handelte mir die erste Schelle (Backpfeife) von meiner bis dahin geliebten Tante ein. Bevor ich noch eine ab bekam, rettete mich einer der Soldaten. Es gibt großartige Worte, unter anderem anlässlich des achten Mai 1945 von dem Bundespräsidenten von Weizsäcker, zur Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerregime. Für mich, den Dreijährigen, ist der 12. April 1945 die Rettung durch die Alliierten vor der zweiten Backpfeife. Die Soldaten durchsuchten die Gaststätte, die Wohn-räume und die beiden Gästezimmer, nahmen alles, was nicht niet- und nagelfest war, mit (nur meine Mutter konnte ihren Ehering retten - sie war aber auch eine sehr hübsche, junge Frau).
Die Soldaten zogen bald darauf wieder ab. Der Tunnel unter der Eisenbahn-linie wurde noch einen Tag bewacht, danach war auch diese Nachhut Richtung Jena verschwunden. Meine Mutter und Onkel Oskar gingen Richtung Tunnel, um zu sehen, was da passiert war. Ich sollte im Haus bleiben, ging aber hinter ihnen her. Ein spitzer Schrei meiner Mutter - und wupp! - war ich in einem Abflussrohr, das wir Kinder vom Versteckspiel kannten, verschwunden und kroch die letzten 30 Meter weiter Richtung Tunnel. Das hätte ich besser nicht getan, denn der Schreckensschrei meiner Mutter hatte seinen Grund in der Entdeckung der beiden toten Kindersoldaten, die mit blicklosen Augen und aufgeblähten Bäuchen gleich am Ende dieses Abflussrohres lagen. Kindliche Neugier war bei mir wohl die vorherrschende Empfindung und schlimm war für mich der Anblick meiner Mutter, die haltlos schluchzend in den Armen Onkel Oskars hing.
Wie, so höre ich die ungläubigen LeserInnen fragen, willst du dich denn daran erinnern, du warst doch gerade mal drei Jahre alt. Wäre ich zeichnerisch begabt, ich könnte die einzelnen geschilderten Szenen als Bildstrecke zu Papier bringen. Allerdings - bis zu meinem vierzehnten Geburtstag hätte ich die Soldaten mit russischen Uniformen gemalt.
Die Soldaten der Roten Armee - sie kamen, nachdem die Sowjets sich mit den Amerikaner geeinigt hatten und die aus Thüringen abziehenden Soldaten ersetzten.
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.09.2016, 15:46   #2
weiblich Zen.yu
 
Benutzerbild von Zen.yu
 
Dabei seit: 10/2012
Ort: Universellbst
Alter: 34
Beiträge: 362


Schade um Eva

Spannend! ... du hast doch nicht im ernst 'Da seid ihr Halunken ja!' gerufen oder? Gibs zu das klingt einfach zu gut ^^ so ein Rotzbengel

Was ist passiert als die Sowjets kamen? Bzw die Russen nach den Sowjets.
Zen.yu ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.09.2016, 16:13   #3
männlich Heinz
 
Benutzerbild von Heinz
 
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879


Liebe Zen,
möge der Blitz mich treffen, auf der Stelle und an empfindlichster, wenn diese "Begrüßung" nicht wortwörtlich dem Gehege meiner Milchzähne entflohen ist!
Dass er von mir erfunden oder empfunden war, behaupte ich nicht. Sicher waren "die Halunken" dem Wortschatz der Erwachsenen abgelauscht und ganz sicher habe ich mit drei Jahren noch nicht gewusst, was Halunken sind, fand aber den Ausdruck genauso stark wie "Brommochse", mit dem ich mal meinen Vater titulierte (war natürlich auch eine Backpfeife wert). Dass da "Halunken" kamen ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass mein Onkel Oskar neben seiner Tätigkeit als Gastwirt irgendein Ehrenamt, das mit der Försterei zu tun hatte, ausübte und ein gaaaanz seltener Besitzer eines Telefons war (wahrscheinlich um entstehende Waldbrände melden zu könne). Über dieses Telefon (das ergaben gespräche mit ihm, als ich schon beinahe erwachsen war) hat er vom Herannahen der Amerikaner und deren Eigenschaft, bei den Besiegten alle möglichen Souveniers zu klauen, über dieses Telefon erfahren. Ein Rotzbengel war ich nicht - das würde ja aufgrund dieses Spruches einen kindlichen Helden aus mir machen. Nee, ich war "gut erzogen", der Liebling meiner Mutter (es war ja auch erst eine "Konkurrenz" da) und vor allem der Liebling meiner Tante Berta. Umso größer meine Erschütterung wegen der Ohrfeige und umso größer meine Dankbarkeit für die Rettung durch den vermeintlichen Russen. Was passierte, als die Kamen?
Kommt im nächsten Kapitel. Nur vorweg: Kennst Du noch - wenn nicht, frag mal ältere Mitbürger - die Zigarettensorte "Turf"? Ich glaub, die gab es in einer grünen Schachtel. Gefragt, was "Turf" bedeutet, kam in Thüringen die Erklärung: T U R F = Thüringen unter russischer Flagge. "Sowjets" hat nie einer gesagt (abgesehen von den öffentlichen Redner). "Russen", das war auch gar nicht abfällig gemeint - aber das kommt alles später.
Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für 2.Kapitel - Urlaub in Jena



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Urlaub in Jena, 1. Kapitel (Fortsetzungen folgen) Heinz Geschichten, Märchen und Legenden 11 06.09.2016 15:30
Im Urlaub jeito Humorvolles und Verborgenes 0 28.12.2010 20:59
Urlaub. BellaBodacious Gefühlte Momente und Emotionen 7 28.06.2009 20:08
auf Urlaub oasis. Gefühlte Momente und Emotionen 0 26.08.2007 14:09


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.