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Alt 10.12.2016, 01:26   #1
männlich Heinz
 
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Standard 17. Kapitel Urlaub in Jena

„Elischa, bitte fahr du; mein Restalkoholpegel...“ - „Schon gut, pack du dich auf die Rückbank, wir beide kennen den Weg - und weit ist es ja nicht.“ Nach einem Nickerchen, lange kann das nicht gedauert haben, hörte das Rumpeln des Autos auf, das ganz bestimmt nicht durch eine Unwucht der Reifen verursacht wurde - wir waren am ersten Etappenziel, der Moritzburg angekommen. Erster Gedanke: O wie schön! Wenn da mal renovoiert würde, wäre das ein Juwel unter Deutschlands Burgen! (Jetzt, nach über zwei Dekaden, ist sie eins).
Jaqueline, orts- und sachkundig, übernahm die Führung. „Da drüben“, sie zeigte über den großen Teich, in dem die Erbauer der Moritzburg eine künstliche Insel angelegt hatten, „das ist das Fasanenschlösschen. Hier, meine Dame, mein Herr, betreten wir die historischen Räume der Moritzburg!“ Und gleich zu Beginn des Rundgangs kürzte sie den Weg ab, um uns die beeindruckende Geweihsammlung zu zeigen. Wie sagt man im Rheinland? Da waren vielleicht paar „Oschis“ darunter! Der Blickfang war das riesige, schwere Rothirschgeweih, mit seinen fast 20 Kilos wohl das schwerste der Welt.
Ich gestehe - viel ist mir nicht in Erinnerung geblieben, zu vielfältig die Eindrücke, zu schön die Parkanlage, der Blick hinüber zum Fasanenschlösschen, zu anregend die Gespräche mit Elischa und alles Übersprudelnde aus Jaquelines Plappermäulchen, alles ließ den Wunsch in mir keimen: Dafür brauche ich mindestens zwei Tage. Die Zeit verging wie im Flug und ein Blick auf die Uhr, eingedenk der Pünktlichkeitsmahnung wegen der abendlichen Überraschung, ließ den Entschluss reifen: Bautzen läuft uns ja nicht weg - wir verschieben die Oberlausitz und die sorbische Gastfreundschaft auf den nächsten Besuch.
Nach einem Kaffee ging es also zurück nach Dresden - der reservierte Tisch im Italienischen Dörfchen wartete auf uns. Jetzt endlich ließen die Damen sich herab, mir die Namensgebung dieser Lokalität zu erklären: Viele Gebäude sind maßgeblich von italienischen Architekten beeinflusst und es gab die frühe Erfindung von „Gastarbeitern“, italienischen Bauwerkern und Künstlern, die in dem Gebäude, das heute „Italienisches Dörfchen“ heißt, sozusagen ihre Kantine und ihre Behausungen hatten.
Diese Erklärung gefiel mir, im Detail habe ich sie nicht überprüft, aber alles erschien mir sehr glaubwürdig. Vielleicht haben die Dresdener da ein bisschen italienische Grandezza „geerbt“ und Dresden weltoffener, eleganter (bis in die Sprache) gestaltet und mit Recht nennt man Dresden „Elbflorenz“.
Am Eingang der - wie ich bald feststellte - liebevoll restaurierten Räume ein Schild mit der Aufschrift „Bitte warten Sie, bis der Restaurantleiter Ihnen die Plätze zuweist“ (oder so ähnlich). Dazu war ich nun überhaupt nicht bereit, ich sah die vielen leeren Tische und steuerte auf einen, der den Blick auf die Elbe zuließ, zu. „Mein Herr, das geht aber nicht. Haben Sie das Schild übersehen?“ Meine leise gesprochenen Einwände ließ er nicht gelten - mit der Begründung, damit passe man sich an den internationalen Standard der Hotellerie an.
Elischa knuffte mich in die Seite: „Heinz, komm, lass uns warten, sonst kommen wir hier gar nicht rein.“ - „Aber Jaqueline hat doch einen Tisch reserviert.“
Wir haben gewartet, das Essen war ausgezeichnet, der bestellte Mokka nach dem Essen lauwarm. „Herr Ober, bitte bringen Sie uns einen heißen Mokka oder gehört das vorherige Abkühlen auch zum internationalen Standard?“ Wir bekamen drei neue Mokkas - alles klar.
Hab ich gedacht - auf der Rechnung standen sechs Mokka. Die Zeit und Jaqueline drängten, ich bezahlte für drei Abendessen, eine Flasche Wein und die sechs Mokka etwa 40 Mark, und weil ich das mit „Westgeld“ bezahlte, begleitete uns der Ober bis zur Tür und zeigte mir den Souveniershop links am Ausgang. Eine Dresdner Stadtkarte hatte ich noch nicht, ließ mir eine geben (der Ober gab der Dame hinter dem Tresen des Shops einen Wink) und brauchte nichts zu bezahlen. „Entschuldigen Sie, ich weiß zwar, wo ich nachher hin will, aber können Sie mir sagen, wo genau ich hier bin?“ - „Im Ital...“ - „So genau wollte ich es nicht wissen - aber wie heißt der Platz da draußen?“ Jetzt kam es in breitestem Sächsisch - die Dame konnte nicht in Dresden zuhause sein: „Also - früher war das der Adolf-Hitler-Platz, na ja, den hamse ja abgeschafft, den Hitler. Dann wurde er der Platz der Einheit, aber die hamwer ja auch nicht mehr. Jetzt heißt er „Platz der Freiheit“ - da staunen Se, junger Mann!“ Ich wusste nicht, worüber ich mer staunen sollte - über den „jungen Mann“ oder die „lose Gusche“ der Dame.
Sie grinste, ich grinste, Elischa grinste und Jaqueline lachte laut und stellte - auch ziemlich laut - die Frage: „Der hieß wirklich mal Adolf-Hitler-Platz?“ Jetzt lachten wir im Chor und folgten Jaqueline über diesen Platz Richtung Dresdener Zwinger, aber auf halber Strecke schwenkte die ab und zu immer noch kichernde junge Dame nach rechts und - wir standen vor dem Eingang der Semper-Oper. Die Plakate links und rechts des Eingansportals waren dann wirklich eine Überraschung: LUDWIG GÜTTLER - TROMPETENKONZERT und der Hinweis, dass Kompositionen aus der Barockzeit gespielt würden. Das Konzert - wunderbar!
Zu einem späteren Zeitpunkt schrieb ich einen stümperhaften Hexa-/Pentameter-Versuch aus Anlass des Geburtstag meines Freundes Joachim, der wie ich ein Fan der klassischen Musik war, Mario Lanza über alles und Ludwig Güttler noch mehr liebte:

V.C.F.

Nicht Italiens leuchtende Sonne und nicht das azurne
Himmelsgewölbe Europas südlichstem Zipfel vermögen
wir zu seinem Geburtstag dem alten Knaben zu schenken.
Wirf, du nordischer Leu, schwungvoll die silbrige Mähne
nackenwärts und lass deine blitzenden Augen erstrahlen!
Unter den Bögen der Brauen leuchten die sieghaften Lichter,
Austerlitz kündend, nimmer achtend die missliche Lage,
in die versammelte Runde der edlen Schicksalsgefährten.

Schließ nun die Augen, vernimm die glänzenden Töne Vivaldis;
dir zur Ehre erschallt Güttlers Silbertrompete!
Lauschenden Ohren danach schmettert ein prächtiges Lied
Mario Lanza gewaltig in deiner geliebten Sprache :
Libiamo ne'lieti calici che la belleza infiora.
Auf denn! Gehorchet geschwind, lasst uns alle erheben
blecherne Becher und einfache Tassen als seiens Pokale:
Vivat! Crescat! Floreat!, heißt`s zum Geburtstag auf Latein.
Höre die besten Wünsche nun auch in unseren Worten:
Neben Gesundheit, mein Bester, sei glückliche Heimkehr
noch in diesem Jahr dir von den Göttern geschenkt!

Die Semper-Oper war schon immer wegen ihrer ausgezeichneten Akustik berühmt. Ich kenne kein Opernhaus in Deutschland (Bayreuth ausgenommen, weil ich diese heiligen Hallen noch nicht kannte), das über eine vergleichbare Akustik verfügt. In der Pause gönnten wir uns ein Glas Sekt und Jaqueline wurde erst von ihrer Mutter, dann von mir umarmt und als ich ihr ein dankbares Küsschen gab, hat dieses kleine Biest doch tatsächlich ihre Zungenspitze nicht unter Kontrolle gehalten. „Diesmal auch nicht petzen!“ - „Nee, ich will mich nicht setzen“ - das war wieder der verbale Tarnversuch Elischa gegenüber. Wir tranken also alle im Stehen und dann kam der zweite Teil des Konzerts. Kurz: Es war außerirdisch und eines der Konzerte, die ich nie vergessen werde. (Mein erster Schallplattenkauf nach meiner Rückkehr, kaum wird es jemand erraten, war: Barockmusik - Ludwig Güttler.

Geändert von Heinz (10.12.2016 um 02:36 Uhr)
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Alt 10.12.2016, 23:08   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
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40 Mark für drei Abendessen, sechs Mokkas und eine Flasche Wein - na, das waren noch Zeiten.

Liebevoll beschriebene Erinnerungen und Orte - man bekommt tatsächlich Lust, mal hinzu fahren. In Jena und Dresden war ich noch nie.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.12.2016, 00:06   #3
männlich Heinz
 
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Beiträge: 7.879


Guten Abend Silbermöwe,
4o Mark - das war schon ein "hoher" Preis, gemessen an rustikaleren Gaststätten. Aber - in Relation zu einem Monatseinkommen von 800 Mark (und da sind wir schon in einem gutbezahlten Facharbeiterlohn) sind 40 Mark ein Zwanzigstel des Monatseinkommens. Wen damals in der Bundesrepublik einer mit 2000 Netto nach Hause ging, wäre ein Fünfzigstel natürlich ein Klacks. Wir, bzw. die Protagonisten der Story, haben für gutes Essen und manchmal sogar guten Service, schon ganz schön was hinlegen müssen.
Du warst noch nie in Jena, Weimar oder Dresden? Warte mal noch ein bisschen, dann kommt die Beschreibung einer besuchswürdigen Stätte und dann - auf in die Länder jenseits der Elbe! Meine Empfehlungen in der Story darfst Du wörtlich nehmen. (Du musst aber nicht alles nachmachen, aber, wie sagte Loriot sinngemäß: Ein Leben ohne die jugendgefährdenden Stellen ist denkbar, aber eigentlich ein sinnloses Leben).
Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
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