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Alt 24.04.2013, 10:54   #1
weiblich SailorVenus
 
Dabei seit: 04/2013
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Beiträge: 2


Standard Morgen-Grauen

Morgen-Grauen
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So muss der Tod sein, dachte sie bei sich, als sie vorsichtig versuchte, die Augen zu öffnen. Die Hölle – ja, ganz klar, sie war in der Hölle.
„Good girls go to school, but bad girls go everywhere“. Sie konnte nicht sagen, warum ihr dieser allenfalls begrenzt witzige Spruch gerade jetzt eingefallen war, aber er entlockte ihr ein schmales Lächeln, bevor sie dann endgültig den Super-Gau wagte und die Augen öffnete. Ein stechender Schmerz bohrte sich in ihre Schläfen, als die Helligkeit ihre Netzhaut erreichte. Dennoch widerstand sie der Versuchung, sie wieder zu schließen. Ein paar Sekunden war es ihr, als würde der Schmerz immer stärker werden, dann aber ebbte dieser urplötzlich ab. Dafür meldete sich ihr Nacken.
Sie lag offenbar auf einem Bett. Ihr Kopf dagegen schien nach unten zu hängen, und vor ihren Augen erblickte sie einen braunen Teppichboden, der ihr nur allzu bekannt vorkam. Scheiß auf alles, Baby! Scheiß auf Schlaf und Ohnmacht! Sie würde sich jetzt aufrichten, und dann würde sie mühsam heraus bekommen, was zur Hölle seit gestern Abend passiert war. Ihr ganzer Körper wollte lautstark protestieren, doch sie war schneller. Mit einem Ruck richtete sie sich auf, so dass sie auf dem Bett zu sitzen kam. Der Schmerz war mörderisch, und sie hatte es lediglich ihren aufgestützen Ellenbogen zu verdanken, dass sie nicht sofort wieder in der Senkrechten landete. Furchtlos blickte sie ins Tageslicht, welches wie eine feindliche Armee durch das Fenster drang. Vorsichtig drehte sie den Kopf und empfand Erleichterung. Die war ihr eigenes Bett. Sie war nicht entführt worden und auch nicht tot. Zumindest noch nicht. Dies war keineswegs die Hölle, sondern nichts anderes als ihr eigenes Zimmer.
Schmale Erinnerungsfetzen kehrten plötzlich zurück. Vicky! Sie war mit Vicky, ihrer besten Freundin verabredet gwesen. Ein DVD-Abend - „Du die Filme, ich bring den Stoff mit!“ hatte Vicky gesagt und dann ihr meckerndes Lachen hinzugefügt, welches sie nicht nur manchmal an eine Ziege erinnerte. Der Stoff. Etwas Grünes...ja, es war eine Flasche Absinth gewesen.
„Nicht das harmlose Zeug aus Deutschland, sondern einer, der richtig fetzt, aus Tschechien!“ hatte die Freundin hinzugefügt und Tschechien so betont, als wäre es ein Land aus einer Fabel. Danach mutierte sie erneut zur Ziege.
Mit einer neuen Kopfschmerz-Attacke, die sie dumpf und trocken überrollte, verebbte sofort jegliches Erinnern. Die Bilder wurden wieder milchig, wie durch einen Nebel, bevor sie sich ganz auflösten. Nur den Nachgeschmack im Mund nahm sie jetzt deutlich wahr. Da war aber kein Absinth auf ihrer Zunge, eher etwas Stärkeres, dem sie keinen Namen geben konnte. Sie blickte sich vorsichtig um, als würde jede Sekunde ein Monster zur Tür hinein stürzten und sie mit einem Biss verschlingen. So ein Unsinn! Sie war zu Hause und sicher und hatte nicht mehr als einen mörderischen Kater. Wer wusste schon, was die Tschechen so alles in ihren Schnaps mixten. Sie musste jetzt Wasser trinken. Vorsichtig versuchte sie, von ihrem Bett aufzustehen und war selbst überrascht, dass ihr Körper diese Tortur mitmachte. Jetzt noch die paar Meter bis zum Waschbecken, dass sich glücklicherweise in ihrem Zimmer befand.
„Dann musst du nachts nicht raus, wenn du Durst hast! Deshalb haben wir es seinerzeit einbauen lassen!“ hatte ihre Mutter damals geflötet, als sie einmal die vorsichtige Frage stellte, warum ihr Zimmer einen Wasseranschluss hatte. „Seinerzeit“ war das Lieblingswort ihrer Mutter, die ohnehin nicht nur für, sondern überwiegend in der Vergangenheit lebte. „Und außerdem nervst du uns dann nicht und bleibst in deinem Zimmer!“ hatte ihr Vater ergänzt und dabei so gegrinst, dass sie nicht wusste, ob es ernst gemeint war oder nicht. Da sein Humor ohnehin gewöhnungsbedürftig war, erübrigte sich jede Nachfrage.
Jetzt allerdings war sie froh darüber, ihr Zimmer nicht verlassen zu müssen. Wieso eigentlich? Sie konnte es nicht beantworten. Ihr Blick streifte das Chaos auf ihrem Couch-Tisch. Knabbereien lagen dort verteilt, als hätten Kinder eine Schlacht veranstaltet. Zwei Gläser waren umgefallen. Etwas Grünes hatte sich in die Tischplatte gefressen. Eine getrocknete Pfütze. Der Absinth, dachte sie und lächelte kurz. Was für eine Sauerei. Aber das erklärte nicht den merkwürdigen Geruch im Zimmer, der so penetrant wie undefinierbar war. Vorsichtig, als würde sie nach glühenden Kohlen greifen, nahm sie eines der Gläser in die Hand und steuerte dann mühsam das Waschbecken an. Tapfer ignorierte sie die ekelhaften Flecken im Glas und füllte es mit Wasser. Köstliches Nass auf ihrer Zunge! Dann begann sie zu trinken, als wollte sie nie mehr damit aufhören.
Männer! Da waren Männer gewesen. Mindestens drei, eventuell mehr. Schwarz gekleidet und maskiert – sehr groß, weit größer als sie und Vicky. Und bedrohlich. Sie waren hier gewesen. Gedanken-Gewühle im Kopf auf der Suche nach dem gestrigen Abend. Der gestrigen Nacht. Die Männer waren im Haus gewesen. Sogar hier in ihrem Zimmer. Jemand hatte ganz schrecklich geschrien. Dann war etwas geschehen. Die Männer lachten, amüsierten sich anscheinend, und für einen kurzen Moment sah sie Vicky vor sich mit vor Angst geweiteten Augen. „Nein!“ hatte diese geschrien, lang gezogen und doch ohne wirklich Hoffnung. Dann war da noch etwas, ein...und plötzlich wurde in ihrem Kopf wieder alles weiß, und der Nebel breitete einmal mehr das Tuch des Vergessens aus.
Und wenn diese Männer noch immer im Haus waren? Erschreckt lief sie zur Tür des Zimmers und bemerkte zu ihrer Beruhigung, dass diese von innen abgeschlossen war. Der Schlüssel steckte quer und schien ihr ein Symbol zu sein. Du bist in Sicherheit! Irgendwo hier in diesem Chaos musste sich auch ihr Handy befinden. Sie würde ihre Sicherheit nicht aufgeben, die Tür gar nicht öffnen müssen. Sie konnte sich jederzeit Hilfe holen. Sie schenkte sich selbst ein aufmunterndes Lächeln. Doch Hilfe wofür und wobei? Um dieses Chaos weg zu räumen, jene Spuren einer heftigen Sauf-Nacht? Was zum Teufel war da passiert? Sie blickte sich einmal hilflos im Zimmer um. Die Stofftiere auf dem Schrank grinsten zurück, als wollten sie sich dafür entschuldigen, dass sie ihr nichts erklären konnten. Sie wirkten sehr ordentlich, als eine Art Insel im sonstigen Chaos des Zimmers. Plötzlich durchströmte sie eine neue Welle der Übelkeit, gefolgt von einer Attacke in den Schläfen. Ihr war, als würde ihr ganzer Körper von Stromstößen geschüttelt. Sie schaffte es gerade noch erneut zum Waschbecken, in welches sie sich dann lange und ausgiebig übergab.
Wieder meldeten sich ihre Schläfen und schienen förmlich zu explodieren. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, ließ die Übelkeit wieder nach. Das Wasser gab den Spuren im Waschbecken den Rest, und sie richtete sich erneut mühevoll auf. Jetzt musste sie sich erst einmal wieder hinlegen.
Sie konnte nicht sagen, warum ihr der Fleck vor ihrem großen Kleiderschrank erst jetzt auffiel. Vielleicht war sie vorhin doch noch nicht richtig wach gewesen, zu beschäftigt mit sich selbst und der Tatsache, dass ihr Kreislauf am Boden war. Er war ziemlich groß und musste mindestens einen Durchmesser von einem Meter haben. Die Ränder waren ungleich, so dass hier etwas sehr stark gespritzt haben musste. Etwas? Stark gespritzt? Obwohl alles in ihr revoltierte, quälte sie sich nochmals von der Matratze und setzte sich auf den Teppichboden. Die Flüssigkeit war bereits eingetrocknet. Der Geruch! Der Gestank im Zimmer. Das, was hier ihren Teppich verunstaltet hatte, war nichts anderes als Blut. Und da es getrocknet war, musste es von letzter Nacht stammen. Und das hieß, die Männer waren real, waren hier gewesen, und hier hatte etwas stattgefunden. Etwas Schreckliches! Mit einem Satz sprang sie auf, schwankte kurz und rannte zum Fenster. Sie öffnete es so ruckartig, dass sie kurzzeitig Angst hatte, sie könnte den Griff abreißen. Sie brauchte frische Luft, und sie musste schreien. Sie würde ganz sicher gleich sterben, wenn sie nicht schrie. Schrei...aber im letzten Moment beherrschte sie sich, und statt einer Befreiung erklomm nur ein seltsam fremdes Schluchzen ihre Kehle. Minuten lang atmete sie tief ein, so als könnte sie mit der frischen Luft in ihren Lungen auch die letzte Nacht, und alles, was damit zutun hatte, hinter sich lassen. Sie musste jetzt ruhig bleiben. Nichts überstürzen. Am Ende stellte sie das Fenster auf Kippen und setzte sich wieder auf ihr Bett. Wie hypnotisiert starrte sie den Fleck an, und es war ihr, als würde dieser auf eine triumphierende Art ihren Blick erwidern. Sie schloss die Augen, und mit einem Mal waren da erneut die Bilder der vergangenen Stunden.
Da war ein Lachen. Die Männer waren da, aber das Lachen kam nicht von ihnen.Vicky war es. Ihr hohes, schrilles Lachen, leicht spöttisch. Das Bild einer Ziege kam ihr erneut in den Sinn. Da war Vicky. Ein Glas Absinth in der Hand. Sie schaute zu ihr hinüber und schien sie auszulachen. Ihr Gesicht war gerötet. Ja, keine Frage, es war ihr Lachen, und Vickys Humor war oftmals nicht der ihre. Verletzend konnte ihre Freundin sein, und manchmal, wenn diese glaubte, bei einem Menschen eine Schwachstelle gefunden zu haben, war es ihr ein wildes Vergnügen, darin herum zu stochern. Und die Männer waren auch da. Sie war es, die Angst vor ihnen hatte. Und Vicky schien sich über genau diese Angst lustig zu machen. Dieses Lachen! Schrill. Und wie konnte sie lachen, wenn sie beide doch so sehr in Gefahr waren. Plötzlich schien sich Vicky verändert zu haben. Sie lachte noch immer, aber ihre Augen weiteten sich, so als hätte sie gerade erkannt, dass ihr Humor an der Stelle gänzlich unangebracht war. Was hatte diese so plötzlich gesehen? Und wieder war alles weiß, ein großes Nichts, Nebel, ein Meer voller Fragezeichen.
In ihrem Kopf spielte nun eine Endlos-Schleife immer wechselnder Bilder ab, bei denen sie nicht wusste, woran sie war. Zumindest die Übelkeit hatte aber ein wenig nachgelassen, und sie zwang sich, möglichst nicht zu hyperventilieren. Ruhig atmen, Baby. Ganz ruhig! Sie dachte an Jens, der ihr diese Worte gesagt hatte, damals am Baggersee, als sie fast ertrunken wäre. Nie zuvor hatte sie einen Krampf im Fuß bekommen, doch in jener Sommer-Nacht hatten es Übermut und Alkohol wohl möglich gemacht. Niemals wäre sie selbst auf die Idee gekommen, nachts in einem Baggersee zu baden. Nachts, wenn alles dunkel ist und man nicht sieht, was sich im Wasser sonst noch so tummelt und bewegt! Natürlich war es Vicky gewesen. Selbst alles andere als nüchtern, streng genommen sogar weit betrunkener als sie es gewesen war. Wie immer hatte Vicky den Einfall, und - ebenfalls wie immer - kam Vicky ohne Probleme damit durch, während sie... Damals hatte Jens sie aus dem Wasser gezogen, sie vorsichtig an Land abgelegt und sie beruhigt, bis sie wieder normal atmen konnte. Die anderen hatten eher gelacht und die Aktion einmal mehr als Beweis dafür betrachtet, dass sie auf ewig Miss Uncool bleiben würde. Doch Jens war bei ihr geblieben. Und romantisch bis doof, je nach Sichtweise, hatte sie gedacht, dies könnte der Beginn einer Beziehung werden. Aber nur im Märchen oder besonders schnulzigen Hollywood-Komödien kommen der Held und Miss Uncool zusammen! Und dies hier war fuckin‘real life, Baby, und niemals würde da ein Prinz um die Ecke kommen. Und täglich grüßt das Murmeltier ihres Lebens: Die Jungs, die sie toll fand, wollten nichts von ihr. Und die wenigen Exemplare, die sich ernsthaft für sie interessierten, waren eher ein Anlass, über einen Eintritt in ein Kloster nachzudenken.
Erneut setzte sie sich auf, und es war ihr, als würden mit der veränderten Körperhaltung auch die Gedanken ausgewechselt. Ihre Neigung, schon mit siebzehn Jahren Lebensbilanz zu ziehen, war ja schön und gut. Aber jetzt und hier hatte sie reale, akute, andere Probleme. Und selbst wenn sie nun weder besonders schlau noch besonders kreativ war, so konnte sie doch logisch denken und Eins und Eins zusammen zählen. Nüchtern betrachtet war eigentlich alles in Ordnung. Okay, ihr Zimmer glich einem Schlachtfeld. Aber das war ja zu erklären: Sie und Vicky hatten heftig getrunken, dabei wohl getanzt, rumgetobt oder was auch immer Vicky eingefallen war. Daher das Chaos, was sie ja später weg räumen konnte, sobald es ihr besser ging. Im Haus war es völlig still. Das Gartentor, welches sie von ihrem Fenster aus gut sehen konnte, war geschlossen, und kein fremder Wagen parkte, wo er nicht hin gehörte. Dass noch jemand im Haus war und dabei gar widerrechtlich eingedrungen war, schien ihr plötzlich sehr unwahrscheinlich. Vicky war vermutlich mitten in der Nacht mit einem Taxi nach Hause gefahren. Die hatte ja immer Geld und stinkreiche Eltern. Somit blieben also nur zwei Dinge, die etwas unheimlich waren. Zum Einen die Männer aus ihrer Erinnerung. Erschreckend real, aber waren sie das wirklich? Wie sollten jene Männer ins Haus gekommen sein? Und dies hier war der echte Absinth, mit dem Rezept aus den frühen Jahren des 20.Jahrhunderts – nicht das kastrierte Zeug, was heute für viel Geld im Supermarkt verkauft wurde. Hatte sie nicht mehrfach und mit großem Interesse die Berichte aus jenen Zeiten gelesen. Oscar Wilde, der den Absinth seine grüne Fee nannte, die ihm mehrfach im Rausch erschienen war. Wo grüne Feen durch den Raum schweben, können sich auch mal schwarz gekleidete Männer verirren! Damit blieb nur noch der Blutfleck. Der war in der Tat real und erschreckend groß. Soweit sie es sehen konnte, hatte sie selbst keinerlei Verletzungen an sich. Da auch ihr Bett völlig frei von jeglichem Blut war, musste jemand anders geblutet haben. Stark geblutet. Und da blieb nur Vicky. Vielleicht war diese im Suff gestürzt? Das wäre nicht das erste Mal. Vermutlich lag diese zu Hause in ihrem Bett, während sich in ihrem Kopf die Platzwunde und der Kater einen wilden Wettstreit lieferten, wer die Nummer Eins in den Charts der Schmerzen war. Bei diesem Gedanken musste sie lächeln. Sekunden später gefror es ihr, als sie etwas tief unter ihrem Schreibtisch, ganz in der Ecke, glitzern sah.
Der Nebel klarte sich kurzzeitig ein weiteres Mal auf. Sie sah erneut Vicky, deren Gesicht sich vor Lachen und Spott verzerrt hatte. „Jens!“...ja, dieses Wort hatte Vicky gesagt und erneut gemeckert wie eine Ziege. „Nicht deine Liga, Mädchen! Und wird es niemals sein!“. Danach wurde es wieder undurchdringlich, aber die Worte fraßen sich auch jetzt in der Erinnerung in ihr Herz. Und Vicky hatte ja Recht – was Jungs anging, spielte sie in einer unteren Liga. Und es war ihr völlig klar gewesen, dass sie nach der Nacht, die sie mit Jens verbringen durfte, nichts fordern konnte. Erwarte nichts, Baby, und du wirst niemals enttäuscht werden! Sie hatte fest vorgehabt, sich an diesen Leitsatz zu halten, aber als es soweit war, erwies sich dieser als graue Theorie. Herz und Seele und Gefühle ließen sich nicht planen oder in ein Schema kalter Logik pressen. Zumindest nicht bei ihr. Sie hätte jetzt im Nachhinein nicht mehr sagen können, was sie mehr verletzt hatte. Die Tatsache, dass Jens bereits Tage später anderweitig vergeben war oder aber sein Schweigen – er sah durch sie durch, als hätte es sie, die gemeinsame Nacht und das alles niemals gegeben! Und was nützte jene wundervolle Nacht, der Gedanke an seine Hände, die Küsse, dieses verdammte Gefühl von Geborgenheit, das sie verspürt hatte und niemals mehr in diesem Leben verspüren würde, weil first time eben einmalig ist! Hätte es das alles nicht gegeben, dann wäre ihr auch der Schmerz danch erspart geblieben. Dann wäre ihr Herz einsam und kalt und traurig – aber es wäre noch ihr Herz, wäre noch vorhanden, und nicht heraus gerissen und weg geworfen!
Ihr Gedanken-Ausflug in die Vergangenheit endete abrupt. Es mussten Minuten vergangen sein, in denen sie das Messer unter dem Schreibtisch anstarrte wie das Kaninchen die Schlange. Vollkommende Schockstarre des Körpers, während die Gedanken auf Reisen waren. Sie erkannte es sofort. Es war das Messer, welches sie von ihrem großen Bruder einmal zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Max, der Held ihrer Kindheit. Oder auch Fels in der Brandung, Beschützer, allwissender Helfer in der Not. Großer Bruder eben. Und sie hatte ihn angehimmelt, wie es kleine Schwestern manchmal tun, vor allem dann, wenn der Rest der Familie aus menschlichen Total-Ausfällen besteht! In den letzten zwei Jahren hatte sie ihn seltener gesehen. Mittlerweile hatte Max eine eigene Familie und seit Luna, ihre Nichte auf der Welt war, hatte dieser eine andere Beschützer-Rolle übernommen. Die kleine Schwester war nun abgemeldet. Nicht schön, aber so lief das wohl in diesem Strudel des Lebens. Man wird oft unter Wasser gedrückt, umso mehr muss man die Momente nutzen, in denen man nach oben gespült wird und kurz Luft holen kann. Ob der Sauerstoff dann ausreicht, um nicht komplett zu versinken, weiß man vorher nie.
Sie hatte sich damals sehr über das Messer gefreut. Nicht, dass sie es dringend gebraucht hätte – streng genommen brauchte sie es überhaupt nicht. Aber ein Geschenk von Max war eben immer etwas besonderes. Oft in diesen zwei Jahren hatte sie es in der Hand gehabt. Manchmal hatte sie die scharfe Klinge vorsichtig an ihrem Arm an gesetzt bis das Blut zu sehen war. Voller Interesse, als wäre sie eine Pathologin, die eine Leiche untersucht, hatte sie dann die Szene betrachtet. Selbstverletzungen sind böse, sagt die BILD und RTL und manche Psychologen sagen das anscheinend auch. Aber so konnte man ihre kleinen Aktionen nicht nennen. Es blieben kleine, ganz oberflächliche Ritzereien. Eine echte Borderlinerin hätte sich vermutlich über diese Schnitte tot gelacht. Wie heißt es so schön – siehst du die Sehne nicht, war es nicht tief genug! Nein, kein Arzt hatte da jemals etwas nähen müssen. Und Narben hatte es auch keine gegeben. Und was hieß da überhaupt Selbstverletzung? Streng genommen war ja das ganze Leben eine einzige große Selbstverletzung durch Abnutzung. Man ist jung und hat den perfekt-gesunden Körper, der dann im Laufe der Jahre alt, unansehnlich und senil wird. Endstation Pflegeheim, sofern man nicht das Glück hat, vorher den Löffel abzugeben!
Nun lag da dieses Messer, und es war nicht sauber. Das Blut bedeckte praktisch die ganze Klinge und hatte gewiss nichts mit irgendwelchen Ritzereien zutun. Viel eher sah es aus, als wäre es in Blut geschwommen. All ihre fröhlichen Gedanken-Gebilde, ihre harmlosen Erklärungen für diesen seltsamen Vormittag an einem seltsamen Tag zerstoben zu Staub. Ein lustiges Besäufnis mit kleiner Platzwunde am Ende – forget it, baby! Hier war eine richtige Scheiße passiert! Fir einige Sekunden war das Gefühl, es wie der Vogel Strauß zu machen, übermächtig. Und so wie jener berühmte Vogel bei Gefahr den Kopf in den Sand steckt, so wünschte sie sich einfach, sich mit ihren Stofftieren unter ihrer Decke zu verkriechen und zu warten! Auf wen eigentlich? Das war ganz egal – auf den Einen und Einzigen, den Helfer, den Erklärer, die Person, die ihr den ganzen Unsinn der letzten 12 Stunden erklären konnte! Aber sie spürte, dass da keiner kommen würde. Und der Vogel Strauß war kein gutes Vorbild für das Verhalten in Gefahr. Ihres Wissens wurden diese Vögel auch wegen dieser berühmten, aber für sie selbst fatalen Reaktion nicht wirklich alt. Seufzend zwang sie sich deshalb auf die Knie und betrachtete das Messer aus der Nähe. Dabei erkannte sie, dass noch etwas anderes dort unten versteckt an der Wand lag. Es sah aus wie ein kleines Fläschchen. Daneben befanden sich unzählige Taschentücher, allesamt rot gefärbt von offenbar abgewischtem Blut. Was zum Teufel sollte das alles! Während sie sich peinlich bemühte, das Messer auch nicht nur versehentlich zu berühren, kroch sie unter den Tisch und holte das Fläschchen nach oben. Danach taumelte sie ein paar Schritte zurück und setzte sich schwer atmend erneut aufs Bett. Das Mittel in ihrer Hand starrte sie dabei an als hätte sie selbiges noch nie gesehen!
Die Freundschaft mit Vicky war eventuell gar keine, zumindest nicht dann, wenn man Freunde als gleichberechtigt betrachtet. Bei ihnen beiden war dies nie der Fall gewesen. Vicky stand auf einem Podest und blickte von dort auf sie herab. Mal missmutig, mal gönnerhaft, aber immer arrogant und sichtbar abgehoben. Eigentlich wusste sie genau, dass sie von Vicky in erster Linie benutzt wurde, um deren Selbstvertrauen weiterhin auf höchstem Niveau zu halten. Eine gewisse Form der Anbetung forderte Vicky noch nicht einmal – nein, die war ohnehin selbstverständlich. Nun wäre das nicht so schlimm. Man könnte es großzügig als negative, etwas zu groß geratene Macke halten – hatte eine solche nicht jeder? Aber Vicky hatte mehrfach gezeigt, dass auf sie keinerlei Verlass war. Die Freundschaft war ihr, wie sie ganz offen betonte, immer soviel wert wie sie selbst Vorteile daraus ziehen konnte. Und mehr als einmal hatte sie sich überlegt, diese Farce zu beenden. Aber so einfach war das nicht. Sie war eine Außenseiterin und hatte sonst niemandem. Auch sie, die ihre Mitmenschen dann am liebsten hatte, wenn sie den Mund hielten, konnte nicht ganz ohne dieselben leben. Und selbst wenn – würde sie jemals „das“ mit Vicky beenden, würde diese sich bitter rächen. Ihr tägliches Leben als Unsichtbare in der Schule würde dann zu einem Spießrutenlauf mutieren. Sie wäre auf einen Schlag der Punchingball der anderen, und sie wusste, dass sie dies nicht lange ertragen könnte. Mitunter, wenn sie doch mal aufbegehrte hatte, machte ihr Vicky mit Hilfe der anderen sehr schnell klar, wer hier der Kutscher und wer das Pferd war. No way, sie war der sogenannten Freundin ganz und gar ausgeliefert.
Möbelpolitur! Der Inhalt des Fläschchens war Möbelpolitur. Oder besser gesagt, war es gewesen, denn nun war sie leer. Was um alles in der Welt hatte sie damit abgewischt.? Und vor allem, wieso? Wäre es nicht viel wichtiger gewesen, einer verletzten Person zu helfen, statt wie eine Täterin das Zimmer zu säubern? Sie musste jetzt Vicky anrufen. Auf der Stelle, um endlich von ihr zu erfahren, was da vor einigen Stunden passiert ist. Als sie auf ihr Handy starrte, war es ihr, als würde sie von einer unsichtbaren Macht zurück gehalten. So sehr sie die Taste auch klicken wolllte, sie konnte es nicht. So musste es sich anfühlen, wenn man verrückt wurde! Resigniert warf sie das Handy auf die Matratze zurück und wartete auf das Wunder namens Erinnerung.
Plötzlich kam ihr eine Idee. Von sich selbst begeistert sprang sie etwas zu schnell auf, was ihren Schläfen sofort mit einer neuen Schmerz-Attacke beantworteten. Als die Sterne vor ihren Augen wieder verschwunden waren, startete sie den DVD-Player. Vielleicht kam ja mit dem Film, den sie gestern gesehen hatten, das Wissen zurück. Die Hülle war nirgends zu finden, aber der Film startete sogleich. Ohne Ton, den sie im Moment nicht hätte ertragen können, blickte sie eher teilnahmslos auf den Bildschirm. Es handelte sich offenbar um einen Horrorfilm, aber sie hatte nicht das Gefühl, ihn zu kennen oder jemals gesehen zu haben. Sie wandte sich ab und ging erneut zum Fenster. Mittlerweile war es schon kurz vor elf, und sie war erstaunt, wieviel Zeit vergangen war. Noch mehr davon durfte sie nicht vertrödeln! Mutig würde sie das Zimmer verlassen und dann längst überfällige Dinge tun. Duschen, danach das Chaos aufräumen. Eine, nein besser zwei Kopfschmerztabletten nehmen und versuchen, noch eine Runde zu schlafen. Der Fleck musste weg, aber im Moment war das nicht das Wichtigste. Eingetrocknet war er ohnehin bereits. Auf Rotwein im Teppich soll man Salz streuen – ob das auch für Blut galt? Und Vicky würde sie besser erst einmal in Ruhe lassen. Diese schlief bestimmt und hatte einen ähnlichen Kater wie sie. Es würde eine Menge Ärger geben, wenn sie Vicky aufweckte. Böse wäre die Freundin und würde dies mit Sicherheit zum Anlass nehmen, sich zu revanchieren. Mit den anderen. In der Schule.
Ein letzter Ruck und auf zur Zimmertür. Sie lächelte über sich selbst und ihr Zögern. Nur beiläufig schaute sie auf den Bildschirm, auf dem weiterhin der Film zu sehen war. Wie ein Roboter taumelte sie plötzlich rückwärts und setzte sich auf ihr Bett. Willenlos und gänzlich unfähig, den Blick abzuwenden, starrte sie auf den Film.
Schwarz gekleidete, ziemlich große Männer jagten dort eine Gruppe von weiblichen Teenagern. Dabei waren sie gleichsam erfolgreich wie brutal. Ihre Augen weiteten sich, als diese ein junges blondes Mädchen gestellt hatten und ihrem Opfer nun mit einer scharfen Sichel den Kopf abschlagen wollten. Es war nicht nur die schockierend reale Darstellung dieser Szene, die ihren Kopf ins Chaos stürzte. Denn plötzlich waren da viel mehr Bilder. Bilder von gestern Abend, der Nacht und all dem, was sie so lange gesucht hatte.
Ihr war schlecht gewesen, und sie hatte Angst. Der Absinth hatte sich in ihrem Hirn zu schaffen gemacht, und es war nicht so wie sie es von einem normalen Besäufnis kannte. Es war, als wäre die schützende Hornhaut auf ihrer Seele vom hochprozentigen Alkohol aufgelöst worden. Es ging ihr nicht gut, gar nicht gut. Und Vicky amüsierte das alles sehr.
„Du bist die größte Witzfigur!“, und dann meckerte sie erneut wie eine Ziege.
„Bitte mach den Film aus...ich glaub, ich bekomme Panik!“. Ja, das hatte sie gestammelt und mehrfach gebettelt. Das Meckern der Ziege wurde immer lauter. Dann hatte sie genau diese Szene gesehen, und sie war ihr so erschreckend real erschienen. Die Männer aus dem Film schienen plötzlich hier im Zimmer zu sein und sie zu jagen. In der Erinnerung hörte sie ihren eigenen Schrei und begann zu zittern wie sie auch gestern Nacht gezittert hatte.
„Bitte Vicky...mach ihn aus...“und sie hatte mehr wie ein kleines Mädchen als wie eine Siebzehnjährige geklungen. Doch im Blick des anderen Mädchens hatte keine Spur von Besorgnis oder Mitleid gelegen. Da war nur Amüsiertheit.
„Ach Gott, bist du eine uncoole Schisserin! Echt die Witzfigur Nummer Eins! Was glaubst du wohl, wie geil das kommt, wenn ich am Montag allen davon erzähle. Wie du hier heulst und jammerst, und alles wegen ein bisschen Alk und einem Film! Uhhhhhhhhhhhh, Miss Uncool!“
„Bitte nicht, Vicky! Mir geht‘s nicht gut. Ich...“. Aber sie hatte nur eine wegwerfende Handbewegung gesehen.
„Und Jens erzähle ich es zuerst!“ Das andere Mädchen hatte sie fröhlich angeblickt. „Wusstet du kleine Idiotin eigentlich, dass ich damals in jener Nacht mit ihm gefickt habe, als er mit dir fertig war? Damals, als er dich aus dem Wasser gezogen hat. Hätte er mal besser nicht getan. Aber...obwohl...“ Ihr Lächeln war breiter geworden. „..wir hatten eine Menge Spaß. Und haben uns über dich Idiotin amüsiert und wie du ihn angehimmelt hast. Jens...hasst dich...!“
Sie krallte sich in ihrer Matratze fest, als die Bilder der Nacht weiter gingen. Jens. Das Worte hatte in ihr wie ein Echo nach gehallt, und plötzlich war die Panik weg! Wie ferngesteuert war sie zum Schreibtisch gelaufen und hatte das Messer aus der Schublade geholt. Hinter ihr das Meckern. Dann war sie abrupt herum gefahren und schnell auf Vicky zu gegangen.
„Nein!“ Da waren große Augen gewesen, voller Unglauben und Erstaunen darüber wie sich innerhalb von Sekunden die Machtverhältnisse in jenem Zimmer geändert hatten. Sie war zu einem Roboter mutiert. Tief und fest hatte sie zugestochen, und jener Blick des anderen Mädchens, der am Ende ihres Lebens so frei von Arroganz und Schadenfreude war wie niemals zuvor, war schlagartig gebrochen. Doch als sie einmal damit angefangen hatte, konnte sie kaum mehr damit aufhören!
Danach wurden die Bilder wieder unschärfer. Da war Blut gewesen. Sehr viel Blut. Und obwohl sie nicht den Eindruck gehabt hatte, etwas Falsches getan zu haben, konnte sie das, was einmal das andere Mädchen gewesen war, nicht mehr anschauen. Dieser Körper musste weg aus ihrem Bilckfeld. Dann hatte sie anscheinend die Tür ihres großen Schranks geöffnet...
In sich zusammen gesunken saß sie auf ihrem Bett. Wieder holte sie ihr Handy hervor und drückte die Taste. Jetzt war da keine innere Sperre mehr, die sie daran hinderte. Der Schrank war außen sehr versaut gewesen. Das ganze Blut. Da war ihr die Möbelpolitur eingefallen. Und weg mit dem Messer, welches sie auch nicht mehr hatte sehen wollen. Und raus aus den blutig besudelten Klamotten.
„Pokerface“ von Lady Gaga ertönte. Der Klingelton des Handy des anderen Mädchens. Erst leiser, dann immer lauter werdend. Die Melodie kam aus ihrem Schrank, schwoll an, bevor sie dann schlagartig verstummte.
Sie schloss die Augen und presste diese wild zusammen, fest entschlossen, sie nie wieder zu öffnen.
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