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Alt 23.04.2008, 19:05   #1
lyrwir
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 449


Standard Global denken, lokal handeln

Schön ist die Erntezeit, aber anstrengend. Gestern war ich in der Gerste, heute im Roggen und morgen, Sonne vorausgesetzt, wird der Raps geerntet. Er steht gut dieses Jahr, die Preise steigen und darum denke ich darüber nach, die Anbaufläche auszuweiten. Konsequente Produktion mit biologischen Methoden, Pflege der Pflanzen nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und viel Handarbeit bringen ein hervorragendes Ergebnis. Mein Rapsöl braucht sich nicht zu verstecken.
Einziger Wermutstropfen ist die heute eingetroffene Absage aus Brüssel. Für Subventionen sei mein Betrieb zu klein, heißt es darin. Na, die werden sich noch wundern! Aber eigentlich ist ja sowieso alles, was subventioniert werden muss, überflüssig. Da behalte ich mein Geschäft lieber selber in der Hand, auch wenn die Doppelbelastung aus Landwirtschaft und Marketing hart ist.
Autarkie war schon immer mein Traum. Wasser liefert der Regen, wir leiten ihn in den zur Zisterne umgebauten Keller. Strom werden wir wieder haben, wenn ich das vom letzten Orkan lädierte Windrad repariert bekomme, aber da wir ohnehin mit den Hühnern aufstehen und früh zu Bett gehen, brauchen wir kaum noch künstliches Licht. Die Energie für die Ölmühle im Wohnzimmer kommt von zwei Sonnenkollektoren, die ich auf dem Dach angebracht habe. Wenn ich alle Nachbarn überreden kann, auch Raps anzubauen auf ihren Balkonen, rechne ich mit einer siebzigprozentigen Auslastung der Maschine.
Fleisch und Wolle kommen von den Hasen im Kinderzimmer, auch wenn es jedes Jahr großen Ärger mit den Kindern gibt vor der weihnachtlichen Schlachtung. Im Flur will wegen des fehlenden Lichts nichts anderes wachsen als Champignons, diese dafür aber so reichlich, dass ich schon überlege, einen Stand auf dem Wochenmarkt zu errichten. Da könnte ich auch gleich die Kräuter aus dem Schlafzimmer anbieten, heimische Produkte erzielen bei bewussten Käufern wieder gute Preise. Dass ich die Pflanzen mit den Wertstoffen aus der Biogasanlage im Bad dünge, muss keiner wissen.
Nächste Woche will ich die Hausverwaltung anschreiben wegen meiner Idee des senkrechten Gärtnerns. Die Wände unseres siebzehnstöckigen Hauses bieten reichlich Platz für Spaliere. Kiwis auf der Südseite, Hopfen auf den anderen. Man will auch mal ein Bier trinken, nach Feierabend, und außerdem isoliert der Bewuchs die Fassade.
So, jetzt muss ich rauf zu den Güzels in den zwölften, die wollen mir heute alles über Teeanbau und Schafzucht beibringen. Nette Leute.
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Alt 23.04.2008, 20:08   #2
männlich Schmierfink
 
Dabei seit: 01/2008
Alter: 42
Beiträge: 195


Hallo Lyrwir,

kriegst du noch Karpfen in die Badewanne?
Auf jeden Fall finde ich deine Geschichte gut ausgelastet.

Gruß Fink
Schmierfink ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.04.2008, 20:55   #3
lyrwir
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 449


Hallo Schmierfink,
in der Badewanne halte ich schon Thunfische, Karpfen wären höchstens noch Beifutter für die. Aber, hey, danke für die Idee, im Waschbecken ist noch Platz.
Grüne Grüße,
LW
lyrwir ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.04.2008, 23:43   #4
Pegamund
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 133


hossa lyrwir,

das ist eine hübsche glosse auf die grün wuchernde autarkie. weckt kindheitserinnerungen in mir, frühe achtziger jahre. meine mutter, im kopf ganz grün, auf dem kopf aber hennarot, auch im winter barfüßig, die frauenmantelteetasse ständig an den lippen --- unter jeder bettdecke ein selbstgebastelter joghurtbereiter, über der spüle die hängenden kräutergärten (basilikum, liebstöckel, petersil, rosmarin, thymian, majoran, bohnenkraut, grüner heinrich und die ein oder andere nachtkerze dazwischen), unter der spüle der Grüne Jan, unser schnellkomposter, in der abstellkammer das Stöckli Dörrex Dörrgerät mit Kunststoffgittern, im laufstall (ich war da nie drin als kind, er stammte aus dem nachlass meiner oma und war eben da) auf einem artgerechten erdsandgemisch mit grasnarbe Simone de Beauvoir und Alice, unsere beiden Annaberger Haubenstrupphühner, und im bad, direkt unter dem vom meister selbst signierten Helnwein-Bild (das, wo er die gabeln im auge hat) die fünf Bio-Snacky-Keimgeräte --- ja, meine mutti brachte alles zum keimen, und ich erinnere mich an schmackhafte und vor allem auch sehr gesunde soja-, weizen-, und amaranthsprossenaufläufe mit selbstgemachter tofuunterfütterung.
ohmeingott, das alles fällt mir jetzt ein, beim lesen deines üppigen textes. ich hatte eine sehr glückliche kindheit, und wenn die freundinnen meiner mutter da waren, diskutierten sie gerne darüber, wieviel quadratmeter land pro kopf genau notwendig seien, um sich völlig industrieunabhängig zu ernähren, und ich hörte aufmerksam zu und goss nebenbei die tomatenplantagen. ach, was hätten wir von deinem konzept profitieren können. so weit war man damals eben noch nicht, da steckte die autarkie halt noch in den kinderschuhen.

nostalgisch angemutet grüßt Pega.
Pegamund ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.04.2008, 00:18   #5
männlich Schmierfink
 
Dabei seit: 01/2008
Alter: 42
Beiträge: 195


@Pega,
man bist du krass, groß geworden.
Ich bin zwar fast gleich alt, aber bei uns gab´s so´n Firlefanz nicht. Im Osten haben wir den Müll einfach in Wald geworfen.
Was ist eigentlich ein grüner Heinrich?

Gruß Fink
Schmierfink ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.04.2008, 00:19   #6
lyrwir
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 449


Hoj Pegamund,
ich war immer schon der Meinung, dass man Kindern die Kindheit nicht zu leicht machen darf. Sind sie klein, verspotte man sie ob der fehlenden Größe, werden sie größer, mache man sich lustig über ihre fehlende Kindheit. Offensichtlich hat deine Mutter das richtige Ding getan, instinktiv. Du bist herangewachsen zu einem ökologissch bewußten Dingens, wegen Dir schwitzt kein Deziliter Eis aus dem Permafrostboden, deine Mutter kann stolz sein auf ihren Hennaanbau (schwierige Pflanze, die, will bei Kunstlicht nicht recht gedeihen). Frau Güzel hatte da noch einige Tipps parat.
Frauenmantel im Morgenlicht, wenn auf dem Tautropf die Sonne sich bricht...
Schöne Bilder sendest du mir.
Aber Konzepte sind nötig, sonst kommt man nicht weit. Und grüner Heinrich? Kann man nicht essen und nicht mal rauchen, du meinst wahrscheinlich guter Heinrich, auch wilder Spinat genannt. Wächst bei uns in der Siedlung inzwischen wieder ziemlich wild.
Ach, Pega, wenn die Grünen sich mehr beschäftigen würden mit der Praxis, was wäre das für Partei?
LG,
LW
P.S. "soja-, weizen-, und amaranthsprossenaufläufe ", dir gebührt mein besonderes Mitleid. Natürlich sollte man Amaranth niemals mischen mit Weizen
lyrwir ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.04.2008, 08:48   #7
Pegamund
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 133


woll, lyrwir, stimmt, der "grüne" Heinrich iss eigentlich nen "guter" - mir war so grün überall, da hab ich mich vertippt --- und, zur Rechtfertigung meiner Mutter muss ich noch erwähnen, dass die Sprossenaufläufe natürlich nie gemischtsprossig waren, sondern z. B. am Sonntag Amaranth, am Montag Soja, am Dienstag Weizen usw. (und btw. ich finde, meine Mutter ist einer der lebendigsten und interessantesten und menschlichsten Menschen, die ich kenne ...) und Frauenmantel mit Tautropfen ist einfach: Schön.

Fink, manno, wir hätten gar keinen Müll gehabt, um ihn in irgendwelche Wälder zu schmeißen, bei uns war alles recycelbar und wir lebten zyklisch in regenerativ vernetzten Kreisläufen, und ich hatte nie Plastikwindeln an, sondern selbstgestrickte Schafwollwindeln aus unbehandelter, natürlich rückfettender Rohwolle und im Winter dazu ein Schafwollunterhemd und im Sommer eins aus naturbelassener Rohseide, ja, so war das ...
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