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Alt 04.04.2007, 21:29   #1
lichtelbin
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 626


Standard Die Rote Stadt - ein Refugium für Kinderhelden

Ich erzähle nur selten so viel aus meiner Kindheit. Aber es gibt da einen speziellen Ort, den ich nie vergessen werde, den ich regelmäßig aufsuche, ständig in der Befürchtung, sie könnten ihn abreißen oder sperren oder die Grafitties entfernen. Die rote Stadt steht im Olympischen Dorf in München. Es ist kaum bekannt. Dort gibt es einen Kinderspielplatz, in der Dorfsprache „Reifenspielplatz“ genannt. Und hinter dem Spielplatz kommt der Olympiapark. Doch dazwischen ist eine Art Kiessee und auf diesem Kiessee steht sie, die Stadt. Keiner von uns Kindern wußte, warum es die gibt. Wir vermuteten, sie hatten einfach noch Steine und Beton übrig. Es sind Ziegelmauer- und Betonplattenkonstrukte, die sich mit etwas Übung leicht besteigen lassen. Im Alter von sieben, acht Jahren begann ich damit, zugleich mit unserem Wechsel zu Olympiakirche. Man kann dort alles, ja fast alles tun, sie erschien mir damals riesengroß, wie eine richtige Stadt eben. Oft saß ich bis Sonnenuntergang auf dem höchsten Turm und machte ein Picknick. Ich dachte mir Geistergeschichten aus und ließ sie eben in dieser Stadt spielen. Wir waren dort auch oft mit Kindergruppen und spielten zwischen den Mauern fangen. Zunächst fiel es mir sehr schwer, aber mit zunehmendem Alter wurde ich berüchtigt dafür, mich auch von den schwindelerregenden Höhen herabzustürzen und auf allen vieren im Kiesbett zu landen. Das war meine Hauptspezialität und hat mich wohl auch zu meiner Schwindelfreiheit erzogen, die ich nun an den Tag lege. Ich war praktisch unfangbar, denn die wenigsten kamen mir hinterher. Unser Gruppenleiter hingegen setzte in atemberaubenden Sprüngen über die Schlünde hinweg und wechselte „Türme“, wie ein Affe, manchmal erwischte er eine Kante nur mit den Händen und baumelte zwei Meter über dem Boden. Wirklich verletzt hat sich nie jemand von uns. Dafür lernten wir, nicht zu weinen. Egal, was passierte. Das war so ausgemacht. Einmal stürzte ich auf den Rücken. Ich konnte nicht mehr atmen und verzog mich in den Schatten zwischen zwei Mauern, lehnte mich dagegen und dachte, ich würde sterben. Obwohl ich gar nicht im Dorf wohnte gehörte ich dazu. Aber nicht nur die wilden Spiele waren im Gange, nein, es gab noch andere Tätigkeiten in der Roten Stadt. Wir Mädchen spielten oft Hexenküche. Das kam, weil die Rote Stadt gleichzeitig ein Refugium für Sprayer ist. Die Ziegelmauern sind zum Abschuss freigegeben und so ist die Rote Stadt schon lange nicht mehr rot, sondern knallbunt. Die Hexenkunst hingegen bestand daraus, die aus versehen bunt besprühten Kiessteinchen zu finden, und nach Farben zu sortieren. Anschließend „tranken“ wir sie. Sie wurden zum Mund geführt und dann „unauffällig“ in den Kragen des T-shirts gesteckt, wo sie dann kalt und rund unsere Bäuche hinunterkugelten. Meine Lieblingsbeschäftigung aber war es, alleine herumzustreunen, Schlupfwinkel zu finden, auch verlassene Lager von Obdachlosen aufzustöbern, allerdings war ich fest überzeugt, es seien Werwölfe, die da ihre Menschenkleidung abgelegt hatten. Auf dem höchsten Turm, den ich nur schlecht wieder verlassen konnte, ohne mich in Lebensgefahr zu begeben, genoss ich immer die Aussicht. Sie war nie besonders weit. Aber ich hatte schon damals das Gefühl, ich könnte dort mich selbst sehen, mich selbst von außen betrachten. Das hatte ich auch bitter nötig. Denn nicht nur die besten, sondern auch die schlimmsten Kindheitserlebnisse hängen in diesen sinnentfremdeten Gemäuern. Ich werde mich wohl niemals ganz davon erholen, jemals gesehen zu haben, gefühlt zu haben, wie mich eine Menge im Ring halb in eine Wand drängte, die hatte aber am Boden eine Öffnung, die mir bis zu den Kniekehlen reichte, groß geng für mich hindurchzustürzen, in einen dunklen Abgrund. Und dass ich nicht springen konnte, sondern nur fallen. Wäre ich hinuntergekrabbelt, wäre ich endgültig nicht mehr entkommen. Ich wollte weinen, schreien, beißen. Ich weiß gar nicht mehr, wie es ausging. Nur, dass ich die Anführerin dieser Fast-Lynchung noch immer jeden Tag vor Augen habe. Aber wir waren ja noch Kinder. Nie wurde auch nur Antrag gestellt, die Stadt zu sperren, aus Gefahr oder ähnlichem. Ich bin froh darüber, ich schmecke manchmal die Kiesel immer noch in meiner Phantasie und stürze mich ins tiefe Kiesbett, um meinen Mut zu fühlen.
__________________________________________________ _______


Das ewige Problem mit Kindheitserinnerungen ist, dass sie schnell glorifizierend werden. Freilich war das meiste von dem, was wir trieben wohl kaum so gefährlich oder spannend, aber es kam mir wohl damals so vor

als anhang ein foto, damit ihr seht, dass es nicht frei erfunden ist

engelsgruß, lichtel
lichtelbin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.04.2007, 21:44   #2
exmaex
 
Dabei seit: 04/2005
Beiträge: 362


hejy lichtel

kleiner fehler:
Zitat:
Egal, was passierte.

Zitat:
wie mich eine Menge im Ring an eine Wand drängt. Ja, eine Menge von Menschen in meinem Alter. Wie es sich anfühlte, dass hinter mir ein Abgrund war
das klingt unlogisch, erst wirst du an die wand gedrängt und dann ist plötzlich ein abgrund statt der wand

Zitat:
der Abgrund war für mich erst ab den Waden offen
das verstehe ich leider gar nicht, "ab den waden offen"


ansonsten:
ein wundervoller text. so sehnsüchtig, ich kann es nachempfinden, ich denke fast jeder hat so eine geschichte auf lager/selbst erlebt (kindheitserinnerungen), aber die wenigsten wissen, sie so gekonnt und "atmosphärisch" rüberzubringen wie du das hier geschafft hast.
*träum*
lieben gruß max
exmaex ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.04.2007, 21:51   #3
lichtelbin
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 626


vielen dank maxim
ja, ich liebe diese´klötze einfach... es ist schön, wenn das rüberkommt =)
das problem, diese szene richtig darzustellen besteht darin, dass ich mich selbst nicht so genau daran erinnern kann, ich hab danach wohl mindestens drei stunden geflennt (zuhause, nicht vor den anderen, weil das, wie gesagt,abgemacht war)
mal schaun, ob ich es genauer festmachen kann
ansonsten vielen dank für deinen lieben kommentar

engelsgruß, lcihtel

edit: übrigens hab ich mir die stelle erst heute nochmal genau angesehen und es ist mir immernoch ein rätsel, wie sie mich 1. haben einsperren können und 2. warum sie das gemacht haben
lichtelbin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.04.2007, 17:19   #4
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Hallo lichtel,

Deine Geschichte war sehr interessant. Hab sie gern gelesen.

Zitat:
ständig in der Befürchtung, sie könnten ihn abreißen oder sperren oder reinigen
Kannst Du das mit dem Reinigen erklären? Das erschließt sich für mich nicht aus dem Text.

Ich hätte es vielleicht schöner gefunden, wenn sie aus der Sicht des damaligen Kindes geschrieben worden wäre, weil gerade der Zauber der Kindheit das ist, was die Geschichte ausmacht. Dieser geht aber durch die erwachsene Beschreibung wieder ein wenig verloren.

Struppige Grüße!
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.04.2007, 17:30   #5
lichtelbin
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 626


hallo struppi
ja, ein bisserl wollte ich dem ganzen auch den kitsch dadurch nehmen...
das mit dem reinigen ist ja klar: die grafittis entfernen
aber ich kann reinigen ja ersetzen
ich dachte mir schon, dass das was für dich ist

engelsgruß, lichtel
lichtelbin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.04.2007, 18:02   #6
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Zitat:
ja, ein bisserl wollte ich dem ganzen auch den kitsch dadurch nehmen...
Warum? Ist es Dir peinlich?

Zitat:
ich dachte mir schon, dass das was für dich ist
Wie kommst Du darauf =)
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.04.2007, 10:57   #7
lichtelbin
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 626


nein...
aber mich selbst nerven zu idealistische darstellungen einer kindheit tierisch, als wären damals noch die bäume grün und der himmel blau gewesen

und dass das was für dich ist, glaube ich, weil du 1. öfter geschichten als gedichte kommentierst und du 2. die thematik der kindheit schätzt, so weit ich das beurteilen kann

engelsgruß, lichtel
lichtelbin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.04.2007, 11:52   #8
männlich Roan Eck
 
Dabei seit: 01/2007
Ort: München
Beiträge: 168


Hey
Nun wag auch ich mich hierher um ein Kommentar zuschreiben. Ich weiß aber trotzdem nicht was ich genau sagen soll
Ich geh mal nach meinen Eindrücken:
Also die Geschichte bzw. Erinnerung hab ich sehr gern gelesen udn man konnte sie auchgut lesen.
Das einzige was ich nicht gleich verstanden hab, ist das mit "an die Wand drücken"
Du hast ne schöne Atmosphäre geschaffen mir war als hätte ich den kindern bei ihrem Abenteuer noch einmal zugeschaut.
Schön gemacht.
gruß roan
Roan Eck ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.04.2007, 18:52   #9
lichtelbin
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 626


dankesehr *erneutverbeugt*
wie gesagt, ist die erinnerung daran leicht verblasst, ich check es selber nimmer so ganz, aber es geghört eben dazu
warum hast du dich denn nicht getraut?
ich beiß keinen menschen die köpfe ab!
(vielleicht zu viel king gelesen? )
engelsgruß, lichtel
lichtelbin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.04.2007, 01:06   #10
männlich Roan Eck
 
Dabei seit: 01/2007
Ort: München
Beiträge: 168


Ich wusst nicht gleich was ich sagen soll udn dich einfach nur loben...?
Naja hab ichja auch gemacht eigentlich
Naja ich mag King halt einfach. Du hast ja immernoch keines gelsen, oder? Ich wussts doch!
grus roan
Roan Eck ist offline   Mit Zitat antworten
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